Drei Worte auf einmal
eBook - ePub

Drei Worte auf einmal

  1. 365 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Drei Worte auf einmal

Über dieses Buch

Rüsselsheim, späte 70er Jahre. Zwei Brüder müssen zueinander finden. Klaus, der ältere, ist schwer behindert. Chris, der jüngere, lebt für seine Musik. Über die Musik findet er nicht nur einen Weg zu sich, sondern auch zu seinem Bruder. Auf der Grundlage einer wahren Begebenheit erzählt Maria Knissel schnörkellos und mitreißend die Geschichte zweier Brüder, die lernen, einander zuzuhören und sich gegenseitig zu bereichern. Unterhaltung mit Tiefgang - eine Art "Ziemlich beste Brüder".

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Drei Worte auf einmal von Maria Knissel im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Letteratura & Letteratura generale. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

1996
Neunzehn Jahre nach dem Unfall

Ich hatte gesagt, dass ich an diesem Sonntag zum Mittagessen kommen und danach mit Klaus etwas unternehmen wollte. Weil noch jemand angerufen hatte, kam ich später als verabredet. Am Abend zuvor hatte ich bis spät in die Nacht gespielt und wenig geschlafen. Aber jetzt freute ich mich auf Klaus. Das Wetter war schön und ich hatte überlegt, dass wir zum Feldberg fahren könnten. Ich hatte einen Ball ins Auto geworfen, auch eine Decke, wir würden einfach sehen, wozu wir Lust hatten.
Doch schon auf der Treppe spürte ich die Spannung. Klaus saß am Esstisch, links neben ihm Mutter, rechts Vater. Sie murmelten einen Gruß, ohne mich anzusehen, selbst Klaus blickte nicht auf. Ich setzte mich zu ihnen. Vaters und Mutters Teller waren schon leer. Mutter schob Klaus mit der Gabel eine Kartoffel in den Mund, grob und zu viel auf einmal.
„Warum lässt du ihn nicht selber essen?“
„Es wird doch kalt“, murmelte sie und hob schon wieder die Gabel.
„Warte doch wenigstens, bis er geschluckt hat“, sagte ich in einem Ton, der Mutter veranlasste, die Gabel wieder fallen zu lassen. Wortlos räumte sie Vaters und ihren Teller ab.
Ich setzte mich neben Klaus, legte ihm die Hand auf die Schulter. Er sah mich nicht an.
„Iss in Ruhe auf“, sagte ich, „dann gehen wir raus, Ballspielen oder so.“ Ich sah, wie verkrampft seine Hand war, aber er fasste die Gabel mit der aufgespießten Kartoffel und versuchte, sie zum Mund zu führen. Er traf nicht und die Kartoffel fiel herunter. Ich hielt meine Hand auf seinem Rücken und ermunterte ihn, es weiter zu versuchen. Mutter kam zurück und setzte sich an den Tisch. Klaus führte die Gabel erneut zum Mund, wieder fiel die Kartoffel.
„Das hat doch keinen Sinn.“ Vaters Stimme klang nicht weniger gereizt als meine.
„Doch!“, widersprach ich, „er muss es üben, immer wieder. Das wisst ihr doch!“
Es herrschte gespannte Stille. Wieder versuchte Klaus, die Gabel in seinen Mund zu bringen.
„Ich habe gestern im Jazzkeller in Frankfurt gespielt“, sagte ich, um das Gespräch auf etwas anderes zu lenken.
„Aha“, sagte Vater mit gepresster Stimme.
„Ist gut gelaufen.“
Ich wartete, aber es kam keine weitere Reaktion, keine Frage, mit wem ich gespielt hatte, zu welchem Anlass.
„In fünf Wochen habe ich meine Abschlussprüfungen, ich bin gespannt, wie…“
„Jetzt gib ihm doch endlich diese verdammte Kartoffel!“, schrie Vater plötzlich. Klaus zuckte zusammen und stöhnte auf, die Gabel fiel ihm aus der Hand.
„Brüll ihn nicht so an!“ Jetzt schrie ich auch.
„Christopher!“, rief Mutter. Klaus bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Vater stellte sich neben ihn, nahm die Gabel und hackte sie in die Kartoffel.
„So lernt er es nie!“ Ich wollte ruhig sprechen, aber es gelang mir nicht.
„Willst du den ganzen Tag hier mit ihm sitzen?“, sagte Vater.
„Warum nicht? Mich habt ihr auch immer sitzen lassen, bis der Teller leer war!“
„Das ist doch was anderes!“
„Warum? Warum behandelt ihr ihn wie ein kleines Kind? Er wird bald vierzig!“
Vater lachte bitter auf. Sein Gesicht war verzerrt.
„Und er kann sehr wohl allein essen, wenn man ihm Zeit lässt!“
„Soll er denn den ganzen Tag nur am Tisch vor seinem Teller sitzen?“
„Sonst hockt er doch eh nur vor der Glotze!“
Vater schnaubte. Klaus hatte seinen starren Blick bekommen. Vater schob ihm wieder ein Stück Kartoffel in den Mund, das er ergeben zu kauen begann.
„Hör auf damit!“ Ich riss Vater die Gabel aus der Hand.
„Hör auf, ihn so zu behandeln!“
„Wie behandle ich ihn denn, Herr Oberschlau? Du hast ja gut reden, kommst hier reingeschneit, hast nichts Besseres zu tun als von deinen Auftritten zu erzählen und führst dich auf, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen!“
Ich sah Klaus an, dessen Kiefer sich nur sehr langsam bewegten, und dachte an Liermanns Gehörbildung. Signale empfangen.
„Ihm ist der Appetit vergangen“, sagte ich, mühsam um meine Fassung ringend, und band Klaus die Schürze ab.
„Und dann“, Vaters Stimme war heiser, „fährst du auch noch nach Toulouse und Venedig oder sonst wohin, nur um diese Italienerin für ein paar Stunden zu treffen!“
„Toulon! Nicht Toulouse! Und diese Italienerin ist zufällig meine Freundin, ob es dir passt oder nicht! Und sie arbeitet nun mal auf einem Schiff!“
„Auf einem Schiff!“, schnaubte Vater verächtlich.
„Nun lass ihn doch noch zu Ende essen“, sagte Mutter, deren Gesicht längst wieder nass von Tränen war. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie gar nicht mehr anders zu kennen. Wann hatte sie zuletzt gelacht? Wann hatte ich das letzte Mal ein Lächeln von ihr gesehen?
„Nein!“, sagte ich, „er mag nicht mehr, siehst du das nicht? Und fett genug ist er auch! Und wo wir schon dabei sind: Hör auf, ihm ständig was vorzuheulen, Mutter!“
Vater kam auf mich zu, mit drohendem Zeigefinger, eine Geste, die ich noch nie bei ihm gesehen hatte. „So sprichst du nicht mit deiner Mutter!“ Der Finger zitterte vor meinen Augen.
Ich zog den Rollstuhl vom Tisch weg.
„Was machst du da?“ Vater stellte sich vor mir auf.
„Klaus ist fertig.“
„Nein, er…, du…“
„Lass mich durch.“ Ich wollte mich an Vater vorbeidrücken. Als ich ihn an der Schulter streifte, gab er einen erstickten Laut von sich, sein Körper straffte sich und er holte mit dem Arm aus, als wolle er zuschlagen. Fassungslos sah ich ihn an: Sein Gesicht war verzerrt, die Augen rot und weit aufgerissen, bevor sie innerhalb einer Sekunde verschwammen, als hätte man ihn unter Wasser gedrückt. Kraftlos sank der Arm nach unten.
Klaus hatte wieder sein Gesicht mit den Händen bedeckt. Schnell schob ich ihn an Vater vorbei aus dem Zimmer.
An einen Ausflug war nicht mehr zu denken. Klaus war starr wie ein Brett, er reagierte überhaupt nicht auf mich, es war, als würde ich gegen einen Stein anreden. Ich brachte ihn in sein Zimmer, zog ihm die Hose aus und hievte ihn ins Bett. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen oder gab es zumindest vor. Ich blieb bei ihm sitzen, eine Hand auf der Bettdecke, bis ich bemerkte, dass ich die andere vor meiner Brust zur Faust zusammengekrampft hielt, eine Haltung, die ich nur von Klaus und anderen Behinderten kannte.
Abrupt stand ich auf. „Es geht nicht mehr“, sagte ich, ohne Klaus anzusehen, „ich fahre weg“, und verließ das Haus, die Beethovenstraße, Rüsselsheim.
Hinter Heidelberg fühlte auch ich mich wie unter Wasser gedrückt und musste von der Autobahn abfahren, weil ich nichts mehr sehen konnte. Ich fuhr ans Ende des Parkplatzes, wo sonst keine Autos standen. Meine Finger zitterten, als ich das Handy hervorzog und Svens Nummer tippte.
„Chris, du klingst ja furchtbar! Was ist los?“
„Du hattest recht, damals.“
„Womit? Was meinst du?“
„Ich muss weg.“
„Wie, weg?“
„Von ihnen. Ich muss raus hier!“
„Sag mal, weinst du?“
„Ich fahr’ nach Italien.“
„Bist du verrückt?“
„Zu Alessandra.“
„Das kannst du doch nicht machen!“
„Du hast mir damals selbst gesagt, dass ich mich endlich von meiner Familie lösen soll.“
„Aber doch nicht fünf Wochen vor der Prüfung!“
„Ich wollte dir nur sagen, wenn…“
„Chris, hör zu, ich habe schon viel dummes Zeug im Leben geredet. Wenn ich etwas gesagt habe, das…“
„Ich wollte dich um etwas bitten.“
„Verdammt! Wo bist du überhaupt?“
„Ich habe mich mit meinem Vater gestritten…“
„Deshalb brauchst du doch nicht gleich abzuhauen. Chris! Jeder streitet sich mal.“
„…wenn mir etwas passiert, kannst du…“
„Passieren? Chris! Wo bist du?“
„Sag ihm bitte, dass ich ihn, beide, meine Eltern… Ach scheiße!“
„Chris? Bist du noch dran? Chris?“
Ich drückte ihn weg. Kurz darauf klingelte mein Handy. Ich stellte es aus und startete den Motor, hielt nur noch zweimal an, um zu tanken und atmete erst wieder durch, als ich am Meer war.
Die Wassertropfen auf der Haut kitzelten, als sie in der Sonne langsam verdunsteten. Der Sand unter meinem Rücken war rau und warm. Die schlaflose Nacht machte sich bemerkbar, meine Augen fielen zu.
„Warum?“, fragte Alessandra neben mir und setzte sich auf. Sie hatte es tatsächlich geschafft, von einem Tag auf den anderen freizunehmen. „Warum rufst du ihn nicht an und versöhnst dich mit ihm?“
„Alli, hör auf. Ich will nicht daran denken.“
Sie zischte durch die Zähne, sagte aber nichts mehr. Durch meine halb geschlossenen Augen sah ich ihre schlanke Silhouette vor der Sonne. Ich strich mit zwei Fingern über die Wirbel, die sich auf ihrem Rücken abzeichneten, und spürte ihre feuchten Haare auf meinem Handrücken.
„Ich bin froh, dass ich hier bin.“
„Das will ich hoffen“, lachte sie, gab mir einen Kuss und stand auf, ging zum Wasser, streckte vorsichtig einen Zeh hinein. Ich legte mich hin und schloss die Augen, hörte den Wellen zu, hörte Alessandra prusten, als sie ins Wasser eintauchte, hörte ausgelassenes Lachen von Kindern, weit entfernt.
„Ich bleibe einfach hier“, sagte ich später zu ihr. Es war Abend und wir waren noch einmal an den Strand gegangen und hatten die Decke ausgebreitet. Mein Kopf lag in ihrem Schoß. Vom Meer her wehte ein kühler Wind, der mich frösteln ließ, aber trotzdem guttat nach dem heißen Tag.
Sie blickte übers Meer.
„Du auch?“, fragte ich, und sie lachte wieder ihr lautes Lachen.
Ihre Familie nahm mich auf, als hätte ich immer schon zu ihnen gehört. Abends saßen wir auf der großen Terrasse, deren Steinplatten noch lange die Wärme des Tages abgaben: Alessandras Vater Andrea, ein stämmiger Mann mit noch dichtem dunklen Haar, Milena, die Mutter, die eine so stolze Haltung hatte, dass sie größer wirkte als ihr Mann, obwohl sie es nicht war, Mario, Alessandras halbwüchsiger Bruder. Und wir beide.
Milena kochte jeden Abend, trug Töpfe und Pfannen auf mit Artischocken, Fischsuppe, Lammgulasch, Schokoladenkuchen. Sie bestand darauf, dass ich von allem mindestens zwei Teller nahm. „È così magro“, sagte sie zu Alessandra, er ist so dünn, er muss noch einen Teller nehmen.
„Montepulciano“, Andrea goss mir ein Glas ein, „von Agostinos Weinberg.“
„Agostino ist mein Onkel“, erklärte Alessandra und lächelte ihren Vater an, aber als er ihr über die Wange streichen wollte, drehte sie den Kopf zu mir. Auch Agostinos Trebbiano probierten wir und Andrea und ich nach dem Essen noch einen Grappa, von einem Nachbarn, der den besten Grappa ganz Italiens machte. Die Luft war lau und voller Meer und Gewürze. Mein Saxofon hatte ich zu Hause gelassen.
Nachts schlief ich in Alessandras Zimmer, sie bei ihrem Bruder, aber wenn alles ruhig war, hörte ich, wie sich die Tür öffnete. Eine Sekunde später hob sich das Laken und Alessandras warmer Körper drückte sich an mich. Morgens, wenn ich aufwachte, war ich wieder allein, doch die Sonne schien in mein Gesicht, ich hörte Milena singen, und wenn die Gedanken an meine Familie kamen, stand ich schnell auf und weckte Alessandra.
In den ersten Tagen konnte ich nicht anders als manchmal mein Handy anzustellen. „Sieh schon nach, es wird nichts sein“, sagte Alessandra, wenn ich zögerte. Sven hatte noch mehrfach versucht, mich anzurufen, sonst niemand. Am vierten Tag gab ich das Handy Mario, um ihn zu bestechen, denn er hatte Wind von den nächtlichen Ausflügen seiner Schwester bekommen. „Wenn jemand anruft, sag mir sofort Bescheid“, schärfte ich ihm ein. „Tutto posto“, sagte er, alles klar, und zog los, um mit dem Handy vor seinen Freunden zu prahlen. Ich atmete durch. So einfach war es also, sich frei zu fühlen.
Alessandra und ich fuhren mit dem Auto herum, sie zeigte mir ihre Heimat, die pinienbedeckten Berge, die weite Ebene. Wir erklommen den Corno Grande, besuchten den Markt von l’Aquila mit seinen bunten Ständen voller Oliven, Fenchelknollen und Früchten, die ich noch nie gesehen hatte. „Fico d’India“, sagte Alessandra, „Kaktusfeige.“ Wir fuhren an alten runden Steinhäusern vorbei, an Mandelbaumplantagen und Hainen mit Olivenbäumen, die Hunderte Jahre alt waren. Alessandra lachte, als ich darüber staunte, und ich lachte mit. Bald war meine Haut so braun wie ihre und ich hatte Hornhaut an den Füßen vom vielen Barfußlaufen im heißen Sand.
„Was für ein Tag ist heute eigentlich?“, flüsterte sie mir ins Ohr. Wir hatten angehalten, kurz vor Roseto degli Abbruzzi, waren ausgestiegen und ein Stück in die Felder gegangen, wollten noch einen Moment für uns sein, bevor wir zu ihr nach Hause fuhren.
„Keine Ahnung“, murmelte ich und sog den Geruch ihrer Haut ein, nach Zitrone und frischem Schweiß.
An diesem Abend bemerkte ich, dass Andreas Blick immer wieder auf mir ruhte. Nach dem Essen forderte Milena Alessandra auf, ihr beim Abwasch zu helfen. Andrea bot mir eine Zigarette an. Die Schachtel war noch voll und ich musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um eine Zigarette herauszuziehen. Klaus fiel mir ein, wie wir nebeneinandergesessen und geraucht hatten, das erste Mal. Wie lang war das her! Siebzehn Jahre? Achtzehn? Zwanzig? Ich gab Andrea Feuer. Er nahm ein paar Züge. Aus dem Haus hörte man das Geplauder von Milena und Alessandra, genauso laut wie die Stimmen aus den Nachbarhäusern. Warum unterhielten sich Italiener immer so, als müsste es das ganze Viertel hören? Doch wenig später wurden die Stimmen gedämpfter, schließlich redete nur noch Milena, ihr Ton veränderte sich, wurde fordernder, drängender.
„Christoforo?“, sagte Andrea. Ich mochte es, dass er mich so nannte. Er blickte hinaus in die Nacht. „Warum bist du so ernst?“
Ich blies den Rauch aus und drückte meine Zigarette aus. „Bin ich nicht.“
Aus der Küche kam jetzt nur noch Schweigen.
„Du hast dich mit deinem Vater gestritten?“
Ich stand auf.
„Du musst dich mit ihm versöhnen.“
„Buona Notte, Andrea.“
„Wovor hast du Angst? Du musst mit ihm sprechen!“
In der Nacht ging die Tür früher auf als sonst. Ich wollte meine Hand um Alessandras Taille legen, als sie sich zu mir legte, aber sie machte sich steif. „Mario ist vorhin gekommen“, flüsterte sie.
„Und?“
„Er druckste h...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titelseite
  2. Impressum
  3. 1977: 5. September
  4. 1978: Fünf Monate nach dem Unfall
  5. 1979: Eineinhalb Jahre nach dem Unfall
  6. 1981: Vier Jahre nach dem Unfall
  7. 1982: Fünf Jahre nach dem Unfall
  8. 1987: Zehn Jahre nach dem Unfall
  9. 1989: Zwölf Jahre nach dem Unfall
  10. 1991: Vierzehn Jahre nach dem Unfall
  11. 1994: Siebzehn Jahre nach dem Unfall
  12. 1996: Neunzehn Jahre nach dem Unfall
  13. 1999: Zweiundzwanzig Jahre nach dem Unfall
  14. Epilog
  15. Nachwort