Linksseitig, kunstseidig:
DAME, GIRL UND FRAU
Ich möchte Ihnen das Personal vorstellen, mit dem ich mich beschäftige, das hier auftreten wird, und schon zögere ich. Am liebsten hätte ich einen Besetzungszettel wie im Theater geschrieben, Auftritte und Abgänge festgelegt. Das Personal ist klar umrissen, es besteht aus einer Nackttänzerin, einem fürstlichen kleinen Hund, einer Schauspielerin, vielleicht müßte ich auch Diva sagen, sehr vielen bienenfleißigen, adretten, jungen Frauen, die das Schreibmaschineklopfen und andere Fertigkeiten beherrschen, durch deren Achtstundentag erotische Wunschbilder gaukeln; ein Sexualforscher gehört zum Personal, eine morphiumsüchtige lesbische Schweizer Reisende, ein Arzt und noch etliche Herren, die aber hier – Sie werden es mir wohl oder übel verzeihen müssen – eher als Staffage auftreten.
Doch was tut das Personal? Tritt es auf? Nein, das hört sich nach einer Bühne an, die ich Ihnen nicht bieten kann. Betritt es den Raum? Nein, das hört sich nach fest hinter der Etagentür geschlossenen Wohnungen an, nach einem Satz wie: »Die Frau gehört ins Haus.« Das Personal bewegt sich aber eher in öffentlichen Räumen; es meidet die Privatheit. Ich weiß schon, Sie wollen mir jetzt beistehen und schlagen vor, das Personal flaniere den Kurfürstendamm entlang; daran habe ich auch schon gedacht und den Gedanken gleich wieder verworfen. Erstens: weil in Paris schon bald nach 1850, als Georges-Eugène Haussmann begann, die Boulevards zu schlagen, flaniert wurde. Und so hinter dem Mond sind die Berliner nicht, daß sie den Parisern erst nach 50 Jahren etwas abgucken; sie haben es schon früher getan. Und zweitens, das entscheidendere Moment: Die Personen, von denen ich zu sprechen habe, mögen den Kurfürstendamm überhaupt nicht. George Grosz spricht von der »geschmacklosen, aber protzigen Häuserkulisse des Kurfürstendamms«. Else Lasker-Schüler, sich stets und überall fremd fühlend, auch im himmlischen Jerusalem und am meisten in Berlin, wo sie sich am längsten aufhält, beklagt die mangelnde Transzendenz auf der Achse des Neuen Westens und fordert im 6. Brief des Malik den Blauen Reiter Frank Marc auf: »Bitte gehe einmal über den Kurfürstendamm, bieg in die Tauentzienstraße ein, kannst Du Dir vorstellen, daß ein Dirbegegnender in den Himmel kommt?« Und die immer kluge, vertrauenswürdige Gabriele Tergit nennt ihn »die scheußliche Erfindung der Neureichen von 1900«. Irmgard Keun läßt die Erzählerin Doris, das »kunstseidene Mädchen«, in ihr fiktives Tagebuch schreiben: »Auf dem Kurfürstendamm sind viele Frauen. Die gehen nur. Sie haben gleiche Gesichter und viele Maulwurfspelze – also nicht ganz erste Klasse – aber doch schick – so mit hochmütigen Beinen und viel Hauch um sich.«
Ich könnte sagen, das Personal reist an und ist einfach da. Es ist da, und es ist trotzdem immer in Bewegung, und jeder Punkt auf dieser Bewegungsbahn ist soziologisch klar definiert. Das Personal reist an – meist aus der Provinz, woher sonst? – und bleibt, taucht ein ins Großstädtische. Kaum einer oder eine ist in Berlin geboren, im Gegensatz zu der expressionistischen Generation. Sie reisen an und bleiben, bleiben in einer heftigen Bewegung begriffen. Ich könnte Berlin auch als Auffanglager, Durchgangslager der Intelligenz bezeichnen, ein Durchgangslager, das sich 1933 radikal entleert, das ausgeräuchert wird.
Folgen wir der Bewegung und treten wir einen Schritt oder zwei zurück in die Vergangenheit, um sie besser zu verstehen. »Möhrings wohnten Georgenstraße 19, dicht an der Friedrichstraße. Wirt war Rechnungsrat Schultze, der in der Gründerzeit mit dreihundert Talern spekuliert und in zwei Jahren ein Vermögen erworben hatte.« Unzweifelhaft gehört Mathilde Möhring nach Berlin, ihr lebensgeschichtlicher Ausflug in die östliche Kleinstadt endet wieder in der Georgenstraße, dritter oder vierter Stock, je nachdem, wie man das Berliner Hochparterre bezeichnet. Der kleine Roman Mathilde Möhring, im August 1891 begonnen und noch im Herbst des gleichen Jahres »im Brouillon« beendet – die letzte Bearbeitung legte Fontane immer wieder zugunsten größerer Entwürfe beiseite –, wurde aus dem Nachlaß 1906 in der Gartenlaube in sieben Folgen abgedruckt, als Buch zwei Jahre später. Keine Zweifel läßt Fontane an der festgefügten Existenz der Hauptfigur aufkommen. Mit der Mutter, die nach dem Tod des Vaters Zimmer vermietet, sitzt Mathilde fest. Eine Spinne im Netz, die sich einen Kandidaten der Rechte fängt. Ein bildbares Objekt ihrer Bestrebungen, ein ewiger Student, sein Name kontrastiert seltsam zu seiner sanften Schönheit: Hugo Großmann. Fontane gebraucht für die Inszenierung des weiblichen Aufstiegs mehrmals den Begriff »hexen«; zunächst bekundet Mathilde ihrer Mutter gegenüber: »ich kann eben hexen«. Wohl ist dem Autor nicht, und wohl soll bei dieser energisch, am sozialen Rollentausch vorbeiexperimentierenden Hauptperson auch dem Leser in keinem Augenblick sein. Im »Hexen« bleibt eine Erinnerung an geheimnisvoll imaginierte Kräfte von Frauen aufgespart, Kräfte, die Mathilde durch kühles Kalkül überflügelt. Die männliche Angst vor unabhängigen Frauen rettete sich über Jahrhunderte ins Vexierbild der Hexe. Das »Hexen« der Mathilde ist eine Abart des Bürgerinnenfleißes geworden. Mathilde, der ihr Vater den Rat »Thilde, halte dich propper.« gegeben hat, verläßt plötzlich regelmäßig das Haus. Sie taucht in der städtischen Lesehalle unter und studiert die Anzeigen. Eine vollkommen zweckgerichtete Bewegung, Mathildes Eigenschaften entsprechend: »quick, findig, praktisch«. Tatsächlich findet Mathilde auch ihrem verträumten Juristen eine Stelle, ein Bürgermeisteramt in einem westpreußischen Nest. Erotik, Verlobung und Heirat sind nicht das, was Fontane an dieser Figur interessiert, anders als bei Effi Briest. Mit feiner, spröder Ironie läßt er Mathildes Medium des Aufstiegs, Hugo Großmann, sinnieren: »Aber Küssen ist nicht ihre Force.« Die Briefe der Mutter aus Berlin an die Tochter: lästige Mahnungen in der befremdlich schnellen Bewegung von der zielstrebigen Kleinbürgerin zur reputierlichen Dame der Kleinstadtgesellschaft.
Das Oben der Berliner Gründerzeitgesellschaft ist zu hoch für Mathilde. Der ersehnte Aufstieg ist nur über den Umweg zu erreichen. Der Bürgermeister könnte Landrat werden, Abgeordneter usw. Zwischen den lokalpolitischen Winkelzügen in Woldenstein gerät die Großstadt in Vergessenheit. Nur der alte polnische Graf Goschin versetzt die Maßstäbe. »›ja, ja, Berlin … bin nicht preußisch ich, nicht serr … aber Berlin … o Berlin, eine merrkwürdigen Stadt, eine tollen Stadt …‹ Thilde versicherte lächelnd, daß sie davon eigentlich wenig gemerkt habe. Das Berlin, das sie kenne, sei sehr wenig toll, fast zu wenig. Es passiere ja eigentlich gar nichts.« Worauf Fontane den alten Grafen mit papierdünner Ironie sagen läßt: »›Ja, meine Gnäddigste, das macht die Stelle, wo man steht, von derr aus man sieht … Ich habe gestanden immer serr in Front, immer serr avancé.‹«
Leider stirbt Hugo Großmann überraschend an einer Lungenentzündung. Die ehemalige Frau Bürgermeister kehrt klaglos und tapfer nach Berlin zurück – in die Georgenstraße 19 – und entschließt sich, Lehrerin zu werden. Den Wunsch ihrer Mutter, daß sie sich wieder verheirate, lehnt sie ab. Eine avancierte Position für eine Heldin um 1890, aber eine, zu der Fontane ganz und gar nichts einfällt. Spröde und lieblos wie eine amtliche Belobigung fertigt er ihr weiteres Schicksal auf einer halben Seite ab. Sie macht ein Examen mit besserer Note als Hugo und bekommt eine Stelle in Berlin N zwischen Moabit und Tegel. »Hinaus fährt sie jeden Morgen mit der Straßenbahn, den Weg zurück macht sie zu Fuß und kauft öfters was ein für die Mutter, eine Tüte voll Prünellen, einen Pfannkuchen, einen Geraniumtopf und wohl auch am Oranienburger Tor eine Hasenleber, weil sie weiß, daß Hasenleber das Lieblingsgericht der Alten ist.« Auch das ist eine ordentliche, trostlos geordnete Bewegung, hin und zurück täglich, uhrwerkhaft, deren einzige Verzögerung im Kauf von Alltagsfreuden für die Mutter besteht.
Ich habe mich eine ganze Weile bei Mathilde aufgehalten, weil sie die rechtmäßige Vorfahrin all der späteren Frauen ist, von denen Mascha Kaléko im Interview mit mir selbst dichtete:
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
In der Fontane-Literatur gilt Mathilde als das Urbild einer Berlinerin, nüchtern, solid, geordnet in der Eroberung und im Rückzug. Else Lasker-Schüler hätte die spätere Mathilde naserümpfend zur Kategorie der »Frauenrechtlerinnen mit breitem Fußstampfen« gezählt.
Else Lasker-Schüler mochte die Frauen in Berlin ganz und gar nicht, am liebsten hatte sie noch die Huren, die »gepuderten Schlendermädchen«. »Sie sind mir Alle zu gemein in Berlin, ich habe seitdem ich Dir zuletzt geschrieben habe, nur Kämpfe gefochten. Aber sie sind Alle zu nüchtern und wenn ich nicht dichtete, hätten sie mich Alle vertrieben, auch fürchten sie sich vor meinen Pistolen«, schreibt sie 1910 an ihren »Earl of Manchester« Jethro Bithell. Die Pistolen sind durchaus wörtlich zu nehmen. Nell Walden, die zweite Frau von Herwarth Walden, berichtet in ihrem Erinnerungsbuch, daß Else Lasker-Schüler, Waldens Frau in erster Ehe, offenkundig unter Drogen, einmal in die Sturm-Räume gestürzt sei, um die blonde Frau, die sie, die Dunkle, verdrängt hatte, zu bedrohen. Im Büro sei aber nur die ebenfalls blonde Sekretärin gewesen, und Herwarth Walden sei glücklicherweise hinzugekommen, um die Rasende zu entwaffnen. Und ein wenig später wieder ein Brief an Bithell: »es sind nichts wie wildgewordene Bürgerinnen.« Ein anderer Zornausbruch gilt den »Töchtern vom Kurfürstendamm, Corsett-Fabrikantentöchtern mit künstlichem Busen oder Lockenfrisuren oder kellnerschreiende ›wulstige‹ Lippen«.
Sonderbarerweise gehört auch Else Lasker-Schüler, die mit ihrer Kaisergeschichte – so der Untertitel – Der Malik aus ihrer ahistorischen Tagtraumwelt herüberragt in die Weimarer Republik, nach eigenem Bekunden in diese Stadt. Kaisergeschichte: Was für ein provokanter Untertitel im Jahr 1919! Hat die Lasker-Schüler denn verschlafen, daß der deutsche Kaiser abgedankt hat? Ein wenig später wird er in Doorn Holz sägen und statt Orden kleine handgesägte Holzscheiben verleihen. Gabriele Tergit behauptet das jedenfalls. Oder wen will sie provozieren?
1894 war Else Lasker-Schüler nach Berlin gekommen. Die Großstadt hatte für sie wie für viele Träumerinnen etwas von der Verheissung eines wilden dramatischen Lebens, ein Netz, in dem die eigene Verheißung nicht abstürzen mußte wie in der provinziellen Enge. »Die kreisende Weltfabrik«, wie sie Berlin nennt, ist Bedingung ihrer Phantasie-Reisen und Überflüge. Sie schreibt an den »verehrten österreichischen Kardinal« Karl Kraus, sie sei wieder in Berlin, »wo ich hingehör’, ich setze mich immer wieder dorthin. Unbegreiflich.« Es ist ein Schmerz in diesem »Dorthinsetzen und Nicht-Bleiben-Können«, im Wandern von Pensionszimmer zu Pensionszimmer, ein Schmerz, den die später Angekommenen nicht mehr nachvollziehen können. Die Dichterin möchte sich überall bewegen. Ihr Ungestüm, das sich nur noch in der Sprache einzuholen scheint, wird Ausbruch, Aufbruch zu imaginierten Freiheiten, die sie sich nimmt; geben wird sie ihr niemand. Die Bewegung ohne finalen Charakter verknäult, wiederholt sich. Die Fesseln der Realität müssen immer aufs neue durchschnitten werden, und da sich die Lasker-Schüler in ihren poetischen Träumen überallhin bewegt, so ist es fast, als hätte sie sich nicht bewegt, die Bewegung hebt sich selbst auf. »Ist es verwunderlich, wenn das Wirkliche für diese Frau nur noch im Unmöglichen liegt? Zwischen Revolte und Regression buchstabiert sie ihre Ortlosigkeit entlang der Linie Urvorgestern–Übermorgen«, schreibt Judith Kuckart in ihrer schönen Studie über die Lasker-Schüler. Die jüngeren Schriftstellerinnen sind von den Bewegungen selbst angezogen, sie setzen sich nicht »dorthin«, sie rasen mit der Stadtbahn und rasten an der Normaluhr. Berlin ist ihr Alltagskleid.
Ich habe lange in literarischen Texten aus der Weimarer Republik gesucht, um eine ähnliche oder eben ganz andere Zuschreibung wie die bei Fontane zu finden »Möhrings wohnten Georgenstraße 19, dicht an der Friedrichstraße«. Eine Zuschreibung, die dann natürlich im Neuen Westen der Stadt angesiedelt hätte sein müssen. Ich habe sie nicht gefunden. Die ordentlich begründeten Adressen haben andere Personen. Der Roman Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada beginnt mit dem Auftritt des Buchhalters Pinneberg und seiner kleinen Frau Lämmchen vor dem Haus Rothenbaumstraße 4. Die Stadt an der Ostsee hat keinen Namen, aber sie hat vornehme Straßen mit einer einseitigen Bebauung und Arbeiterquartiere, aus einem davon stammt Lämmchen. Rothenbaumstraße 4: Hier ist die Praxis des Frauenarztes mit dem übertrieben anspielungsreichen Ouvertüren-Namen Dr. Sesam, der Lämmchens Schwangerschaft feststellt und zu Pinnebergs Schrecken gratuliert. »So müßte man wohnen können, denkt Pinneberg.«
Die mehr und mehr selbständigen Frauen, die aus der Provinz in die Großstadt kommen mit einer vagen Hoffnung, ihr Glück zu machen, haben keine Adressen, die es zu vermelden lohnt, sie wechseln zu häufig. »Die hübsche blonde Elli Link kam 1918 nach Berlin.« So trocken beginnt Alfred Döblin seine Erzählung Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord von 1924. Das Verhängnis ist mit Ellis lebenslustiger Blondheit in den Verwirrungen der jungen Weimarer Republik begründet. Es tut nichts zur Sache, daß der Friseur, bei dem sie arbeitet, in Friedrichsfelde wohnt; man erfährt es beiläufig. In den Unterschlüpfen, die sowohl die Heldinnen als auch die Autorinnen bewohnen, hinterlassen sie keine Spuren. Die Sessel des Bürgertums sind zu schwer und zu plüschern für die leicht und schmal gewordenen Mädchen.
Es herrscht Wohnungsnot, die Welt ist aus den wilhelminischen Fugen, die Schnörkel sind abgebrochen. Wenn der Tischler Link, der Ehemann und das spätere Mordopfer, auftritt, heißt es: »Er hatte vor, sie zu versorgen; sie sollte eine eigene Wirtschaft führen. Es kam ihr vor: eine Ehe ist etwas furchtbar Drolliges, aber Nettes; er will mich versorgen und freut sich darüber. Sie war ihm eigentlich recht gut. Von gelegentlichen heimlichen Seitensprüngen ließ sie auch jetzt nicht.« Staunenerregend für uns Heutige ist, daß der Wunsch nach einer fest gegründeten kleinen Existenz bei Elli auch Staunen erregt. Aus der eigenen Wirtschaft wird dann nichts, das Paar lebt mit Links Mutter zusammen. Der beharrliche Besitztrieb des Mannes wird lästig, Elli und ihre Freundin Grete Bende bringen ihn um. Döblin schreibt über diese beiden Frauen mit kalter wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, Psychologie versus Moral, also sehr zeitgenössisch, keine Einfühlung, keine Sympathie, aber auch keine Verurteilung. Die Giftmörderinnen sind Fremde, Außenseiter der Gesellschaft – und das bleiben sie auch. Der Kleinbürgerinnenfleiß der Mathilde Möhring, ihr »Hexen«, ist zeitgenössisch fortgeschritten, es ist männermordend geworden. So könnte das literarische Bild der Berlinerin, wie Männer sie sehen mögen, beschrieben werden.
Der Beginn der Weimarer Republik: Die Frauen schweigen noch. Sie haben zwar das Wahlrecht erhalten, sie haben sich selbst erhalten, haben während der Kriegsjahre Männerarbeit getan, vielen ist ihr Bruder, Bräutigam, Ehemann gefallen. Mit anderen Worten: In einer ganzen Generation herrscht Männermangel. Die Frauen sind da, sie beherrschen das Straßenleben, aber sie sprechen nicht, und niemand – kein Mann – vermißt ihr Sprechen. Ernst Bloch hat, mit diesen Frauen sympathisierend, in einem Essay geschrieben: »Verwunderlich und hoffnungsvoll die Wandlung der deutschen Frauenerscheinung im Nachkrieg, das Schlanke, Braungebrannte, die Durchdringung der Großstädte mit dieser Leichtigkeit und Eleganz.«
Im übrigen waren alle Leute, die man kannte, dort, wo sie hingehörten, und schnell greifbar. [Gabriele Tergit]
»Liebes Gretelein«, schreibt um 1921 eine Künstlerin aus Berlin an ihre Schwester. »Liebes Gretelein, von Dir weiß ich jetzt so wenig. […] Für Frauen wie wir es sind gibt es aber heute noch keine Männer, sicher bringt die Zeit, die aus unserer Revolutionierung geboren wird, einmal auch unseresgleichen den Ausgleich, wir aber sind Kämpfer. Auch wir Frauen. […] Gretelein, politisch sind wir natürlich ganz radikal. […] Aber politisch will ich mich jetzt nicht ausbreiten.« Und fährt in demselben Brief fort, daß sie Weihnachten gerne mit ihrem Lebensgefährten in Gotha bei ihren Eltern verbracht hätte. Aber ihr Vater, Subdirektor einer Versicherungsanstalt, hatte geantwortet: »Quatsch – und er solle nicht kommen. Quatsch … ist … Ausländer – … kann nichts von deutschen Weihnachten wissen wollen … etc. – unerhörter Quatsch. Da habe ich ihm diverse gesalzene Episteln geschickt – die er sicher zum Teil niemals verstehen kann.« Die Künstlerin, die hier in wenigen energischen Strichen die Situation der emanzipierten Frauen, die große Politik und den Kleinkrieg in der Familie zusammenzwingt – mit einem Begriff: das Private und das Politische, wie es dann in der zweiten Frauenbewegung hieß –, schneidet gleichzeitig »mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands«. Ihr Lebensgefährte, dem ihr Vater kein deutsches Weihnachten gönnen will, schreibt 1921 den Artikel ›Présentismus gegen den Puffkeismus der Teutschen Seele‹. Es handelt sich um Hannah Höch und Raoul Hausmann, und es ist natürlich eine Kriegserklärung gegen Go-tha und andere Städte mitsamt ihren unerschütterten Bewohnern. Eine solche Kühnheit und Innovationskraft haben die Schriftstellerinnen und erst recht die von ihren männlichen Kollegen entworfenen Weiblichkeitsbilder nicht. Auch Hannah Höch bezahlt auf ihre Weise für ihre radikalen Bildfindungen. Seit sie Kunststudentin ist, arbeitet sie von 9 bis 15 Uhr im Ullstein-Verlag und läßt sich als Entwurfszeichnerin für Schriften und Vignetten löhnen. Andere Quellen sprechen davon, daß sie Filetmuster und Spitzenvorlagen entwirft. Allzu glatt scheint mir der behauptete Weg vom Ausradeln der Schnittmusterbögen in der Hausschneiderei zur Erfindung der Photomontage zu sein. Die Zeit der Frauen in der Literatur ist noch nicht gekommen. Noch schreibt Vicki Baum, der später zu jedem Zeitproblem rasch etwas einfallen wird, einen sentimentalen kleinen Roman Der Eingang zur Bühne über die Leiden einer Musikstudentin, die sich in einen Heldentenor verliebt, und einer Sängerin, die ihre Stimme verliert, aber die Liebe ihres Windhundmannes wieder gewinnt. Noch schreibt ein junger Autor, der sich später, 1932, sehr viel auf seine Zeitgenossenschaft als Kind dieser Zeit zugute hält, vom Plan für ein »klösterliches Freudenhaus«. In einem Stück, das 1925 erscheint und »heute« spielt – es ist Anja und Esther von Klaus Mann –, grübeln die beiden Hauptfiguren, ob sie vielleicht heiliggesprochen werden. Da schreckt die eine vor dem hitzigen Handkuß ei...