Teil III
Der Schatten der Flut
I.
Carmen stellte fest, dass man ihren kleinen Liebling das Beten gelehrt hatte, denn jeden Abend und jeden Morgen, wenn die fromme Frau begann, ihre Gebete zu sprechen, kniete das Kind sich mit gefalteten Händen neben sie hin und murmelte mit klarer, süßer Stimme etwas, das es auswendig gelernt hatte. So sehr Carmen das auch gefiel, kam es ihr dennoch so vor, als wären die Gebete des Kindes nicht ganz gültig, wenn sie nicht auf Spanisch gesprochen wurden – denn Spanisch war die Sprache des Himmels – la lengua de Dios, el idioma de Dios –, und sie beschloss, ihm das Salve Maria und Padre Nuestro auf Kastilianisch beizubringen, ebenso wie ihr liebstes Gebet an die Jungfrau, das mit den Worten begann: »Madre santisima, toda dulce y hermosa.«43 …
So empfing Conchita – denn ihr war mit jener schrecklichen Meerestaufe ein neuer Name gegeben worden – ihren ersten Spanischunterricht, und sie erwies sich als äußerst intelligente Schülerin. Nach kurzer Zeit konnte sie mit Feliu plaudern – sie hielt abends nach ihm Ausschau und kündigte seine Heimkehr an: »Aqui viene mi papacito!«44 – Dazu lernte sie von Carmen viele kleine Koseworte, um ihn zu begrüßen. Feliu war keine Frohnatur, er hatte seine dunklen Stunden, seine düsteren Tage, doch kam es selten vor, dass er zu mürrisch war, um den Liebkosungen der Kleinen nachzugeben, wenn sie hochsprang, seinen Hals zu erreichen und ihm so einen Kuss abzuschwatzen: »Dame un beso, papa! – así; y otro! otro! otro!«45 Bald liebte er sie wie seine eigene Tochter – war sie das denn nicht, da er sie vor dem Tod gerettet hatte? Und bislang war niemand erschienen, ihm seinen Anspruch streitig zu machen. Mit den Wochen, Monaten, Jahreszeiten, die verstrichen, wurde sie mehr und mehr zu einem Teil seines Lebens – ein Teil all dessen, wofür er arbeitete. Anfangs hatte er die vage Hoffnung gehegt, dass die Kleine von Verwandten geholt werden würde, die großzügig und reich genug wären, darauf zu bestehen, ihm eine nette Entschädigung zukommen zu lassen, und dass Carmen mit einem schönen Ausflug nach Barceloneta getröstet werden könnte. Doch nun spürte er, dass keine denkbare Großzügigkeit ihn für ihren Verlust entschädigen würde, und mit der unwillkürlichen Selbstsucht der Liebe begann er das Unglück zu fürchten, das über ihn kommen würde, sobald jemand herausfand, woher sie wirklich stammte.
Offensichtlich hatte man sie gut erzogen. Sie aß und trank auf recht artige Weise, und wenn sie sich in Gesellschaft setzte oder jemanden ansprach, tat sie dies in drolliger Manier. Sie hatte bestimmte Vorlieben hinsichtlich der Farbe ihrer Kleidung und ihrer Frisur, und sie schien sich bereits einen kleinen Vorrat an sozialen Vorurteilen angelegt zu haben, die mit den republikanischen Vorstellungen von Viosca’s Point nur schlecht vereinbar waren. Gelegentlich sprach sie von dunkelhäutigen Besuchern – Männer aus den Manilla-Ansiedlungen – verächtlich als nègues-marrons46, und einmal schockierte sie Carmen unsagbar, indem sie mitten im Abendgebet innehielt und erklärte, sie wolle ihre Gebete vor einer weißen Jungfrau aufsagen; Carmens Señora de Guadalupe sei nur eine negra! Da sprach Carmen zum ersten Mal so streng zu dem Kind, dass es sich fürchtete. Doch im nächsten Moment wurde die fromme Frau wegen dieses ersten groben Worts bereits von Gewissensbissen geplagt – und sie liebkoste die Mutterlose, tröstete sie, heiterte sie auf und erzählte ihr schließlich – ich weiß nicht wie – etwas äußerst Wunderbares über die kleine Statue, etwas, das Chita vor Staunen große Augen machen ließ. Danach betrachtete sie die Wachsjungfrau stets als geheimnisvoll und heilig.
Und nach und nach wurden die meisten von Chitas kleinen Eigenheiten allmählich aus ihren erwachsener und reifer werdenden Gedanken gelöscht. Schneller als gewöhnliche Kinder, weil ungewöhnlich intelligent, lernte sie, sich an die Veränderungen ihrer neuen Umgebung anzupassen – sie behielt dabei lediglich jenes unbeschreibliche Etwas, das einem kundigen Blick von ererbter Kultiviertheit der Gewohnheiten und des Verstandes erzählt – eine natürliche Anmut, eine edle Unbeschwertheit und Eleganz der Bewegung, eine flinke und feinsinnige Auffassungsgabe.
Sie wurde wieder stark und lebhaft – lebhaft genug, um häufig am Strand zu spielen, wenn die Sonne nicht zu glühend war, und Carmen nähte ihr eine Segeltuchhaube, um ihren Kopf und ihr Gesicht zu schützen. Nie zuvor hatte man ihr erlaubt, so oft in der Sonne zu spielen, und es schien ihr gut zu tun, auch wenn ihre kleinen bloßen Füße und Hände braun wie Kupfer wurden. Zugegeben, anfangs machte sie ihrer Ziehmutter großen Kummer wegen verschiedener kurioser Missgeschicke und ihrer außergewöhnlichen Launen – sie wurde von Krabben gezwickt, fiel in das Bayou, als sie den »Fiddlers« nachjagte, oder verirrte sich am Ende eines verzweifelten Versuchs, nachts mit dem Mond um die Wette zu laufen oder bis zum »Ende der Welt« zu wandern. Wenn sie doch nur an den Rand des Himmels gelangen könnte, sagte sie, dann könnte sie »hinaufklettern«. Sie wollte die Sterne sehen, die die Seelen der braven kleinen Kinder waren, und sie wusste, Gott würde sie hinaufklettern lassen. »Genau davor fürchte ich mich!«, dachte Carmen bei sich. »Er könnte sie hinaufklettern lassen – ein kleiner Geist!« Doch eines Tages lernte die ungezogene Chita eine schreckliche Lektion – eine, die sie nicht vergessen sollte, die sie den Wert des Gehorsams lehrte.
Man hatte ihr besonders eingeschärft, einen bestimmten Teil des Sumpfes hinter dem Hain zu meiden, wo das Unkraut sehr hoch wuchs, denn Carmen fürchtete, eine Schlange könnte das Kind beißen. Doch Chitas vogelscharfer Blick hatte einen weißen Schimmer in dieser Richtung wahrgenommen, und sie wollte herausfinden, worum es sich handelte. Man konnte das Weiß nur von einer höher gelegenen Stelle hinter dem letzten Haus sehen. »Geh niemals dorthin«, sagte Carmen, »es ist ein Toter dort – der wird dich beißen!« Und doch, eines Tages, als Carmen außergewöhnlich beschäftigt war, ging Chita dorthin.
In den frühen Tagen der Siedlung war ein spanischer Fischer gestorben, und seine Kameraden hatten ihm mit dem Überschuss der Ziegel und anderer Materialien, die über das Bayou hergebracht worden waren, um Vioscas Häuser zu bauen, ein Grabmal errichtet. Doch niemand, außer vielleicht ein umherstreifender Entenjäger, hatte sich seit Jahren dem Grab genähert. Hohes Unkraut und Gras kämpften ringsum um die Vorherrschaft und machten es vom Marschland aus völlig unsichtbar.
Höhlenkrebse schwärmten davon, als Chita über den feuchten Boden näherkam, wobei jeder seine einzige große Schere hob, während er seitwärts verschwand – dann, als sie das dichtere Gras erreichte, begannen Frösche vor ihr davonzuspringen, und langbeinige braune Insekten schwirrten nach rechts und links, als sie die Büschel des immer dichter wuchernden Gestrüpps teilte. Das Bitterkraut verschwand, als sie ihren Weg fortsetzte – verschlungene Gräser und sehnige dunkle Pflanzen, die höher wuchsen, ragten über ihr auf: Der Sturm zirpender Insekten machte sie fast taub, und die Moskitos wurden sehr bösartig. Plötzlich wand sich etwas Langes und Schwarzes und Schweres beinahe unter ihren bloßen Füßen hervor – schlängelte sich so entsetzlich, dass sie sich ein, zwei Minuten vor Angst nicht bewegen konnte. Doch es stahl sich irgendwohin davon und versteckte sich; die Gräser, die es auf seinem Weg gestreift hatte, hörten auf zu zittern, und Chitas Mut kehrte zurück. Sie empfand ein so köstliches und ängstliches Vergnügen bei der Befriedigung jener ungezogenen Neugier! Dann, völlig unerwartet – oh! was für ein Schrecken! –, sprang das abgelegene weiße Gebilde in ihren Blick, leprös und gespenstisch wie das gähnende Maul einer Wassermokassinschlange. In Louisiana verfallen Gräber rasch – das, welches Chita betrachtete, schien kurz davor, in sich zusammenzufallen. An einem Ende klaffte ein großes gezacktes Loch, wo Wind und Regen und vielleicht auch das Wühlen der Krebse und Würmer die Ziegel gelockert hatten, so dass sie abgerutscht waren. Im Inneren schien es sehr finster zu sein, doch Chita wollte wissen, was sich dort befand. Sie kämpfte sich durch eine Öffnung in der dünnen und morschen Reihe von Zaunpfählen und durch hohes Unkraut mit großen derben rosa Blüten – dann kauerte sie sich auf Händen und Knien vor dem schwarzen Loch nieder und schaute hinein. Drinnen war es nicht so finster, wie sie gedacht hatte, denn ein Sonnenstrahl senkte sich schräg durch einen Riss in der Decke herab, und sie konnte sehen!
Ein brauner Schädel – ohne Haare, ohne Augen, aber mit Zähnen, sehr vielen Zähnen! – schien ihr zuzulachen, und daneben saß eine Kröte, die größte, die sie je gesehen hatte, und die weiße Haut an ihrem Hals blähte sich immer wieder auf und zog sich zusammen. Und Chita schrie und schrie und flüchtete in wildem Schrecken – sie schrie den ganzen Weg, bis Carmen aus dem Haus rannte, um ihr entgegenzulaufen und sie hineinzutragen. Noch in den Armen ihrer Ziehmutter schluchzte sie vor Angst. In der lebhaften Phantasie des Kindes schien es eine grauenhafte Verbindung zwischen dem glotzenden Reptil und dem braunen Totenschädel mit seinen leeren Augenhöhlen und seinem Alptraumlächeln zu geben.
Der Schreck brachte ein Fieber – ein Fieber, das mehrere Tage anhielt und sie sehr schwächte. Doch diese Erfahrung lehrte sie, zu gehorchen, lehrte sie, dass Carmen am besten wusste, was gut für sie war. Sie sorgte auch dafür, dass sie sich einige Gedanken machte. Carmen hatte ihr gesagt, dass die Toten kleinen braven Mädchen, die zu Hause blieben, niemals Angst einjagten.
– »Madrecita Carmen«, fragte sie, »ist meine Mama tot?«
– »Pobrecita! … Ja, mein Engel. Gott hat sie zu sich gerufen, deine liebe Mutter.«
– »Madrecita«, fragte sie noch einmal – ihre jungen Augen weiteten sich vor Grauen –, »ist meine liebe Mama jetzt wie das da?« … Sie deutete hinüber zu dem weißen Schimmer hinter den großen Bäumen.
– »Nein, nein, nein! mein Schatz!«, rief Carmen, von der unheimlichen Frage selbst abgestoßen – »deine Mama ist beim guten, lieben, liebenden Gott, der im wunderschönen Himmel wohnt, über den Wolken, mein Schatz, jenseits der Sonne!«
Doch Carmens gütige Augen waren voller Tränen, und das Kind erkannte, was sie bedeuteten. Er, der die Maske des Fleisches abreißt, hatte ihr einen entsetzlichen Moment lang ins Gesicht geblickt – sie hatte die brutale Wahrheit geschaut, nackt bis auf die Knochen!
Doch die zärtlich gelogenen Worte verschafften ihr einen kleinen tröstlichen Schauder, denn das, was sie am Tag gesehen hatte, konnte ihr nicht erklären, was sie fast jede Nacht im Schlaf erblickte. Das Gesicht, die Stimme, die Gestalt ihrer liebenden Mutter lebten immer noch irgendwo – konnten nicht völlig verschwunden sein, denn die liebliche Erscheinung besuchte sie in ihren Träumen, beugte sich lächelnd über sie, liebkoste sie, sprach zu ihr – manchmal sanft tadelnd, aber mit einem Kuss tadelnd. Und dann lachte das Kind im Traum und plapperte auf Kreolisch – sprach zu dem leuchtenden Schatten, erzählte der toten Mutter all die kleinen Taten und Gedanken des Tages … Warum wollte Gott sie nur nachts kommen lassen?
… Chitas Vorstellung von Gott war von einem kuriosen französischen Bild geprägt worden, das den Akt der Schöpfung zeigte – ein Stich, auf dem ein uferloses Meer unter einem schwarzen Himmel zu sehen war, während aus der Schwärze ein ehrwürdiger und graubärtiger Kopf hervortrat und eine Wolkenhand, durch die Sterne funkelten. Gott war wie der alte Doktor de Coulanges, der früher oft auf Besuch im Haus war und mit einer Stimme sprach, die wie leises Donnergrollen klang … Später, nachdem man Chita erzählt hatte, dass Gott »überall gleichzeitig« sei – außen und innen, unter und über allen Dingen –, änderte sich ihr Bild ein wenig. Das riesige bärtige Gesicht, die große Schattenhand verschwanden nicht aus ihren Gedanken, aber sie vermengten sich auf fantastische Weise mit der größeren und undeutlicheren Vorstellung von etwas, das die Welt erfüllte und das bis zu den Sternen reichte – etwas Durchscheinendes und Unbegreifliches, wie die unsichtbare Luft, allgegenwärtig und immerwährend wie das unerreichbare Blau des Himmels …
II.
… Sie fing an, sich an das Küstenleben zu gewöhnen.
Mit der neuen Sprache, die sie sich aneignete, begann sie viele Dinge, die mit der Welt des Meeres zusammenhingen, zu verstehen. Sie prägte sich mit neuartigem Entzücken viel von dem ein, was ihr Tag für Tag über die Natur ihrer Umgebung erzählt wurde – die Geheimnisse der Luft, viele dieser Himmelszeichen, die Stadtbewohner nicht begreifen können, weil die Atmosphäre über ihnen dick und abgestanden ist; sie können sie nicht einmal sehen, weil der Horizont hinter Mauern und trostlosen Alleen aus Bäumen mit weißgetünchten Stämmen vor ihren Blicken verborgen ist. Sie lernte, durch Zuhören, durch Fragen, auch durch Beobachtung, wie man die Zeichen erkennt, die stürmisches Wetter ankündigen – ungeheure Sonnenuntergänge, tieftreibende Wolken, die Brücken bilden, ein schärfer und dunkler werdender Meereshorizont und das Kreischen der Möwen, die aus einem immer noch klaren Himmel geradewegs auf das Land zuschießen – und Ringe um den Mond.
Sie lernte, wo die Seevögel mit der weißen Brust und den braunen Flügeln ihre versteckten Sandnester bauten – und wo die Kraniche nach ihrer Beute wateten – und wo die schönen Wildenten in ihrem seidig lilafarbenen und grünen Federkleid ihre Nahrung fanden – und wo das beste Schilf wuchs für die Stiele von Felius Pfeife aus rotem Ton – und wo die rötlichen Meeresbohnen am häufigsten ans Ufer geworfen wurden – und wie die grauen Pelikane gemeinsam wie Männer fischten, indem sie sich in weiten Halbkreisen bewegten und mit ihren Flügeln aufs Wasser schlugen, um die Fische vor sich her zu treiben.
Und von Carmen lernte sie die Fabeln und Sprichwörter des Meeres – die Redensarten über seine Taubheit, seinen Geiz, seine Heimtücke, seine schreckliche Macht – besonders eine ging ihr nie wieder aus dem Sinn: Si quieres aprender á orar, entra en el mar (Willst du beten lernen, gehe zum Meer). Sie erfuhr, warum das Meer salzig ist, wie »die Tränen der Frauen die Wellen des Meeres erzeugten« und warum das Meer »keine Freunde« hat – und wie die Augen der Katze sich mit den Gezeiten verändern.
Was hatte sie verloren mit dem plötzlichen Wechsel vom staubigen Stadtleben in die offene Unermesslichkeit der Freiheit der Natur? Was hatte sie gewonnen?
Zweifellos blieben ihr viele jener kleinen Bitterkeiten und Einschränkungen und Enttäuschungen erspart, die alle wohlerzogenen Stadtkinder im Lauf ihrer Erziehung zu einem mehr oder minder künstlichen Gesellschaftsleben erdulden müssen: die Pflicht, stillzuhalten, während jeder fahrige Nerv in stummem Aufbegehren zittert – die Ungerechtigkeit, als lästig empfunden und aus Bequemlichkeit für die Älteren früh zu Bett geschickt zu werden – die grausame Notwendigkeit, viele Stunden hintereinander ihre schönen Augen über schmutzigen Schulbänken in düsteren Klassenzimmern anzustrengen, obwohl draußen womöglich Vögel zwitschern und luftige Brisen in den Bäumen rascheln – der strenge Zwang und die schwere Schläfrigkeit warmer Kirchen, erfüllt von den dröhnenden Echos einer Stimme, die unverständliches Zeug predigt – die ständig zunehmende Trostlosigkeit des Unterrichts in Betragen, in Tanz, in Musik, in der unmöglichen Kunst, die Gewänder glatt und sauber zu halten. Vielleicht hatte sie nie einen Grund, all dem nachzutrauern....