
- 388 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
In der farbenprächtigen sommerlichen Seelandschaft des Ostseebades Misdroy auf der Insel Wollin erlebt eine kleine Prager Familie um das Jahr 1899 einen fröhlichen Ausnahmezustand. Selbst die strenge Mutter ist hier erträglich, wo die vornehme Atmosphäre des alten Österreich auf die rauhere des Nordens trifft. Das gesellige Leben der Prager deutschsprachigen Juden, hier wird es wieder lebendig, wie auch im zweiten Roman dieses Bandes, »Beinahe ein Vorzugsschüler", einer Reminiszenz an Brods Schulzeit und eine Brücke zur untergegangenen Welt Prags in der Habsburger Monarchie. Die beiden kleinen Romane sind meisterhafte Zeitbilder und gehören zur schönsten Prosa, die Brod geschrieben hat.
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Information
Der Sommer
den man
zurückwünscht
Roman
aus jungen Jahren
Seltsam ist Prophetenlied,
Doppelt seltsam, was geschieht
Doppelt seltsam, was geschieht
GOETHE
Der Vater hatte die Familie zum Staatsbahnhof begleitet. Nun verabschiedete er sich von ihr auf dem Perron. – »Staatsbahnhof«, ohne näheren Zusatz, hieß damals das alte, massige Gebäude aus dem Prager Vormärz, das später, viel später den Namen Masaryk-Bahnhof erhielt.
Von dieser revolutionären Zeit sind wir hier aber noch weit entfernt. Wir leben noch ganz tief im alten, auswattierten Österreich drinnen, ganz tief im Frieden, der ein ewiger Frieden schien; wir halten vor der Wende ins unselige zwanzigste Jahrhundert – wir mögen wohl das Jahr 1899 schreiben. Altösterreichisch ist die blaßblaue, seidene Luft der Kinderjahre über der sommerlichen Stadt, altösterreichisch sind die Einspänner und die Fiaker, die auf hohen, mit Gummi bekleideten Rädern (weshalb sie auch »Gummiradler« heißen) fast geräuschlos durch die Straßen schlüpfen. Die sanftgeschwungenen Linien dieser leichten Fahrzeuge finden sich wieder in den wallenden, nur knapp fußfreien Röcken der Damen und in ihren vielleicht allzu hohen, nach vorn gewellten Frisuren, den sorgfältig gebauten Toupets unter den großen Hüten. – Altösterreichisch ist schon die ausgeblaßte Farbe des großen Bahnhofs, die zwischen Hellbraun und Orange eine zarte, schwer bestimmbare (weil etwas verschmutzte) Mitte hält. Es ist dies eine ganz besondere Farbe, an der man damals sowohl in Wien wie in Prag, wahrscheinlich auch in anderen Städten der kaiserlich-königlichen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die »ärarischen«, das sind: die amtlichen Gebäude und auch manche Villa in den Vororten, manches Wohnhaus besonders loyaler Familien erkannte; denn offenbar stellte dieses spezielle Hellorange oder Dunkelgelb gleichsam die zivile Variante jenes anderen, strahlenderen, kriegerischen Gelb dar, das in den Wappenfarben Schwarz-Gelb seine vielen verhaßten, vielen mit Fug verhaßten Eroberungsgelüste durch die Geschichte trug. Doch davon wußten die Kinder nichts. Man hatte sie gelehrt, in den Farben Schwarz-Gelb das Gute, das Schöne, die Heimat und vor allem ihre eigene Jugendseligkeit zu empfinden. Daher kommt es denn wohl auch, daß ihnen in späteren Lebensjahren diese besondere Farbe, dieses besondere Gelb nie mehr zu Gesicht gekommen ist.
Die Kassenräume und Korridore des Bahnhofs waren eng, übelriechend und dunkel. Die Aufgabe des großen Reisegepäcks verursachte Schwierigkeiten, die der Vater mit überlegener Ruhe erledigte, indes die aufgeregte Mutter die ebenso aufgeregten, aber verschüchtert stillen Kinder überflüssigerweise zur Ordnung und Disziplin verwies. Endlich wurde man aus dem Wartesaal dritter Klasse, den eine breite Glastüre abschloß, in dichtem Gedränge zu den Zügen hinausgelassen oder vielmehr hinausgestoßen, nachdem ein Kondukteur überlaut, aber undeutlich die Stationen ausgerufen hatte. »Kondukteur« hieß es bei uns, und man betrat den »Perron«; nur in Deutschland gab es »Schaffner« und »Bahnsteige«. Wir Kinder wußten das schon; es war ja nicht unsere erste Sommerreise nach Deutschland, an die Ostsee. Aber es hatte immer noch einen exotischen Reiz für uns, wie so vieles Ungewohnte »draußen«, auf das wir uns freuten, wiewohl wir es zugleich auch mißbilligten und von oben herab kritisierten, ja ein wenig komisch fanden.
Man überschritt die Bahngeleise; denn hier auf dem guten alten Prager Staatsbahnhof prunkte man noch nicht mit Unterführungen wie in Dresden und Berlin. Die riesigen Räder der Lokomotive drehten sich dicht an uns vorbei, mit scharfem Zischen lärmend ausgestoßener Rauch stieg zu der hoch oben gewölbten Decke empor, die von Eisen und schmutzigem Mattglas starrte. Die Mutter schrie mehrmals auf, als wäre eines der Kinder bereits überfahren worden. Der Vater führte umsichtig die kleine Schwester Sophie an der Hand.
Man war eingestiegen, hatte die Plätze belegt, eine endlose Reihe von kleineren Koffern und Handgepäck (viele Butterbrote darin) über die zwei Sitzbänke ausgebreitet. Der Vater küßte die Mutter, stürmisch warf sie sich in seine Arme, dann stieg sie in den Waggon, trat gleich ans Fenster und begann von da aus, ihrem Manne eine Unmenge von Ratschlägen zu geben, mit einem Eifer, als hätte sie nie zuvor dieses Thema berührt, als sei es ihr erst jetzt eingefallen. Die beiden Jungens, Erwin und Otto, hatten die Fensterplätze besetzt, die Mutter stand zwischen ihnen. »Gib acht auf das Geld, Fantsch«, sagte der Vater, gewissermaßen scherzend; aber es war ihm doch ein wenig ernst damit; denn in Geldsachen war er ungemein ängstlich; nicht ängstlicher freilich als die Mutter, die jetzt ihr Handtäschchen in beide Hände nahm und gleichsam symbolisch an ihre Hüfte preßte. – Sie hieß Franziska, die Verwandten nannten sie Fanny; doch der Vater mit stereotyper Zärtlichkeit, die sich vielleicht noch aus der Liebes- und Bräutigamszeit herschrieb, seither aber recht verblaßt war, rief sie »Fantsch«. Bei festlichen und seltenen Anlässen wie solch einem Abschied für einige Wochen klang überdies die in dem Wort aufgespeicherte Zärtlichkeit echter als sonst. Es war aber doch etwas Gespieltes, Aufgemachtes oder vielleicht auch nur, genauer gesagt, etwas Steifes darin, steif nicht im Grunde des Herzens allerdings; denn der Vater liebte ja die Mutter innigst, trotz allen Zwistigkeiten und manchmal recht heftigen Auftritten – wohl aber steif im Ausdruck, der einen falschen Ton miteinfließen ließ, während die Mutter einfach und natürlich ihren Besorgnissen, ihrem überströmenden Gefühl Ausdruck gab. »Bleib gesund, Dolf, gib acht auf dich – die Marschka soll auf das Fleisch aufpassen; es soll immer ganz frisch sein und weich und das Schnitzel ganz dünn.« Sie hatte Tränen in den Augen; sie sah ihren zärtlich umhegten Mann tausend Gefahren preisgegeben; nur der Kinder wegen, die es für ihre Gesundheit so nötig hatten, namentlich Erwins wegen, hatte sie, wie jedes Jahr, die Mühen dieser beschwerlichen Expedition ans Meer auf sich genommen. Und wie alle Jahre, hatte es auch heuer viele lange Auseinandersetzungen zwischen den Ehegatten gegeben, ehe sie sich entschloß. Der Vater sollte gleich mitfahren, er hatte aber noch keine Ferien in der Bank. Sein Urlaub begann erst an »Kaisers Geburtstag«, also am 18. August. Die Schulferien dagegen fingen in der ersten Hälfte des Juli an und dauerten bis weit in den September hinein. Wie alljährlich, hatte man schließlich auch diesmal beschlossen, daß der Vater nachkommen solle – die Mutter würde ihm dann von Misdroy aus (dies das Ziel der Reise: Misdroy, eines der billigen Ostseebäder, auf der Insel Wollin östlich von Swinemünde gelegen) bis zur »Laatziger Ablage«, vielleicht bis Stettin entgegenfahren. Für die Kinder, die beiden Brüder vor allem, die schon etwas vom Leben verstanden, hatten diese Worte einen magischen Klang. Namentlich die seltsame, für die Einwohner Wollins vermutlich völlig prosaische Bezeichnung »Laatziger Ablage« tönte ihnen wie etwas von Urzeiten her Bestimmtes, etwas Großartiges, Sagenhaftes ins Ohr, etwas, was zu ihrer größten Freude die Liebe zwischen ihren Eltern und den Frieden des Hauses auf geheimnisvolle Art zu verbürgen schien, diesen durch häufige Streitigkeiten in Frage gestellten Frieden. Worin lag der Zauber? Worin die Bürgschaft? Zur Rede gestellt, hätte keiner der beiden Brüder eine Antwort gewußt – sie sprachen auch nie über diesen Gegenstand, sie dachten ihn nicht einmal deutlich zu Ende –, aber so war es, so fühlten sie; es bedurfte zwischen ihnen durchaus keiner Worte, um über so grundlegende, das ganze Dasein bestimmende Dinge einig zu sein, wiewohl ja der ungeheure, eigentlich kaum überbrückbare Altersunterschied zwischen ihnen eine Verständigung außerordentlich erschwerte. Es handelte sich um volle drei Jahre – man denke: drei Jahre, eine ganze Welt in jener zarten Abstufung der ersten dämmerhaften Lebensperioden. Erwin war im Mai fünfzehn Jahre alt geworden, und obwohl er sogar noch wesentlich kindlicher oder sogar kindischer war, als es seinem Alter entsprach, lag doch eine kaum absehbare Lebensstrecke, reich an Erfahrungen, zwischen ihm und dem erst zwölfjährigen Otto.
In diesem Augenblick war Erwin übrigens sehr weit davon entfernt, an »Laatziger Ablage« und irgendwelche sonstigen, harmonisch schönen Licht- und Höhepunkte des Familiendaseins, der Elternwelt zu denken. Die selten genug auftauchende »Laatziger« Freude in den Augen der jungen Mutter, die doch meist verdrießlich, verärgert, zornig waren, ihr hochzeitlich festliches Ausnahmegesicht – das war ihm in dieser recht eigentlich bitteren Abschiedsstunde ganz fern. Aufrichtig gesagt: er hatte Angst vor der Mutter, vor der unbeschränkten Herrschaft, die sie in Misdroy, so weit entfernt von Prag, vom Vater, über alles ausüben würde, was die Familie betraf.
Denn es läßt sich nun nicht länger aufschieben, es muß gesagt sein, daß Erwin, der doch eigentlich der Mutter zu besonderem Dank verpflichtet war – wir werden darüber später einiges erfahren –, daß Erwin die Mutter für irgendwie mit einem Fehler behaftet hielt, für das, was er (eingestandenermaßen durchaus nicht zutreffend) »ungerecht« nannte, und daß hieraus in den letzten zwei oder drei Jahren ein beinahe feindseliges Verhältnis zwischen ihr und ihm entstanden war, wenn man es sich getraut, ein so grobes Wort wie »feindselig« auf eine zarte und im Grunde doch eigentlich liebevolle, nur seltsam schmerzliche Beziehung anzuwenden, die überdies immer halb im Dunkeln und jedenfalls unausgesprochen blieb. Es regierte ja vor allem eine tiefe, gegenseitige Liebe zwischen Mutter und Kind, wenn diese Liebe auch im Alltag wie durch trübe Brechung verhüllt und nie mehr, seit früher Kindheit nicht, an die es kaum eine Erinnerung gab, durch eine innige Bewegung, ein Streicheln etwa, ausgedrückt wurde. Doch nicht etwa diese Sparsamkeit des Gefühlsausdrucks störte den Sohn. Nein, es war etwas ganz anderes. Erwin hätte gern gesehen, daß die Mutter in jeder Hinsicht so vollendet gewesen wäre, wie sie ihm äußerlich schön erschien. Aber er konnte es sich nicht verhehlen, daß sie seinem seelischen Ideal durchaus nicht entsprach, daß sie äußerst unbeherrscht war, daß sie ihrem Temperament die Zügel schießen ließ – gegen jedermann, gegen einige Verwandte, mit denen sie in dauerndem Zwist lag, gegen den Vater, den sie manchmal ganz despektierlich anschrie, vor allem aber gegen die Dienstmädchen, die schutzlos ihrem strengen Regiment preisgegeben waren. An sich selbst dachte er dabei nicht. Er war ja in früher Kindheit, seines lang anhaltenden Krankendaseins wegen (das jetzt überwunden war), das Sorgenkind der Mutter gewesen – in gewissem Sinn war er es geblieben, obwohl er sich über die Gründe nicht ganz klar war, obwohl sich die Mutter (wohl auch aus Liebe) alle Mühe gab, ihn nicht merken zu lassen, daß sie ihn wachsamer behütete als die andern, obwohl sie ihre Sorge gelegentlich hinter Rauheit und verdoppelter Autorität verbarg. Aber gegen diese Rauheit hätte er nichts einzuwenden gehabt, sie war ihm manchmal sogar lieber als die stets diplomatische, höfliche Gewandtheit, Ausgewogenheit und Friedensliebe des Vaters – nein, mochte die Mutter grob und kurzangebunden ihm gegenüber sein, soviel sie wollte, nur Unrecht tun sollte sie niemandem! Nicht den beiden jüngeren Geschwistern, die er auch schon manchmal gegen die Mutter in Schutz zu nehmen hatte – vor allem aber den Dienstmädchen nicht, mit denen es in diesem Hause eine geradezu krankhafte, völlig abnormale Bewandtnis hatte. Nun, damals in den Jahren der Sommerreisen nach Misdroy, war diese Krankheit freilich erst angedeutet, die später das ganze Leben der Eltern beherrschen und das der Mutter schließlich zerstören sollte; aber daß es nicht mit rechten Dingen zuging, wenn die Mutter kein Dienstmädchen länger als drei Wochen oder einen Monat behalten konnte, meist nicht einmal so lange, nicht bis zum Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist von vierzehn Tagen; das merkte der Junge wohl, und es war die erste dunkle Wolke, die seine Kinderjahre verdüsterte. – Seine vielen Krankheiten hatten ihm innerlich wenig zu schaffen gemacht; mit der ungebrochenen Energie der ersten Lebenszeit hatte er sie abgetan, hatte sich sie (worüber er später staunte) kaum zu Bewußtsein gebracht, jedenfalls seelisch nicht im geringsten an ihnen gelitten. Das, woran er litt, was seine erste bittere Lebenserfahrung darstellte: das war der ewig tobende Krieg im Haus, die Reizbarkeit der Mutter, die in der immer aktuellen, ja sich ständig verschärfenden Dienstmädchenfrage einen grotesken Gipfel erreichte.
Diese Frage war ebenso rätselhaft, wie sie sich als dauernd vorhanden, raumfüllend, zimmerfüllend erwies. Erwin, der viel Zeit daran wandte, sich über das ihn so unmittelbar betreffende Unglück – denn es umschattete ihn zuweilen völlig – den Kopf zu zerbrechen, hatte sich die Sache ungefähr folgendermaßen zurechtgelegt: Mama hat ein besonderes System, ihr Hauswesen zu führen – nicht etwa, daß sie es ersonnen, erfunden hätte, es war ihr vielmehr gleichsam angeboren, war mit ihr gewachsen, hatte sich mit ihr entwickelt, gab sich kund als ihre zweite Natur, sobald sich die Gelegenheit bot, ein immerhin nicht ganz kleines Hauswesen zu leiten. Erstaunlich genug, dieses zur rechten Zeit präsente System – denn gelernt hatte sie es nie, es kam also wirklich offenbar aus ihrer innersten Seele hervor. Keineswegs war ihr ja an der Wiege gesungen worden, daß sie einmal die Frau eines Bankprokuristen sein werde, eines Mannes also, der sogar Aussicht auf den Titel eines Direktors hatte, wenn auch leider nicht auf dessen Tantiemen – hier stießen, wie Erwin erst später verstehen lernte, zwei entgegengesetzte Welten aneinander, durch unübersteigliche Mauern getrennt. Die Mutter aber stammte aus einer dritten Welt, den Lebensumständen und der sozialen Schichtung nach, soll sagen: aus einer armen dörflichen Familie. Und sie hatte in ihrer Jugend oft genug mit Elend, mit nacktem Hunger zu kämpfen gehabt. Doch das war nun lange vorbei. Sie beherrschte das Haus als Sachverständige. Alles, was sie tat, war, als könne es gar nicht anders sein, als sei es die selbstverständlichste, unbezweifelbarste Sache der Welt; als habe sie es an einer autoritativ unbestrittenen Hochschule gelernt. – Übrigens war auch des Vaters Jugendzeit durchaus nicht sorglos gewesen. Auch sein Ursprung führte in eine Familie, dessen Oberhaupt einst schwer genug, als schlichter Handwerker, das Brot für seine vier Kinder heranzuschaffen hatte. Aber es war immerhin ein Handwerker in Prag, also im Zentrum der Welt gewesen. Er hatte, wiewohl zu den Frommen gehörig, die großstädtische Bildung sich anzueignen gewußt und vor allem das Theater gern und oft besucht, mit besonderer Vorliebe für die Oper; eine Neigung, die er auf Kinder und Kindeskinder vererbte. Auch die Mutter war ja musikalisch; aber sie hatte in der Not ihrer Kinderjahre nie Zeit gehabt, diese Anlage auszubilden. Mit reiner, schöner Stimme sang sie manchmal ein Lied – in den seltenen Momenten einer guten Stimmung, die in letzter Zeit kaum mehr eintrat. Sie sang aber (so glaubte der Sohn feststellen zu müssen) mit geradezu vollkommener Richtigkeit; und das Herz tat ihm weh, wenn er bedachte, daß nur äußere Umstände die Mutter gehindert hatten, ihre Begabung in dieser Hinsicht, wie auch in anderen Punkten, gehörig zu entwickeln. Namentlich eines dieser Lieder fiel ihm manchmal ein; es gab Stunden, in denen er es nicht glauben konnte, in denen er es für eine Erinnerungstäuschung hielt – und doch war es nicht zu bezweifeln, daß ihm einst, in einer durch Jahrhunderte abgetrennten Vorzeit, die Mutter öfters ein altes Wiegenlied mit bezaubernder Freundlichkeit vorgesungen hatte: »Schlaf, Herzensbübchen, mein Liebling bist du.« – Doch das war nun vorbei, und es hatte keinen Sinn, diese lieblichen Träume heraufzurufen. – Klüger war es, sich an das Vorbild des tüchtigen und bescheidenen Großvaters zu halten. Diese Erinnerung war ein wahrer Fels inmitten all der anbrandenden, den kindlichen Kopf bedrohenden Unsicherheiten. Der Großvater, der tüchtige Handwerker, wie er mit würdiger Miene, die Rechte zwischen zwei Rockknöpfe geschoben, auf einem alten Familienporträt zu sehen war. Einmal in seinem kargen Dasein, das er aber zufrieden trug, hatte denn auch dem stillen Arbeiter das Glück gelächelt: er hatte im »Kleinen Lotto«, das unter dem Schutz der Regierung stand, also ein durchaus erlaubtes Spiel war, einen nicht unbeträchtlichen Treffer gemacht, ein Terno vielleicht, oder ein Ambo solo – man dachte bei diesem seltsamen Namen, wenn man wie Erwin historischen Unterricht genoß und liebte, an die einstigen italienischen Provinzen der Großmacht Österreich. – In grauer Vorzeit also hatte der lebenskluge Großvater mit seinem Lotteriegewinn ein Haus im damaligen Prager Ghetto gekauft, in der »Judenstadt«, die seit Kaiser Josefs II. aufgeklärten Tagen und Taten nicht mehr von Gesetzes wegen, sondern aus freier Wahl vielen Judenfamilien der natürliche Mittelpunkt ihres Lebens geblieben war. Ein Haus – das ist nun freilich übertrieben gesagt. Es war ein sogenanntes »Teilhaus«; denn in diesem Stadtviertel, nur hier, gab es noch die Besonderheit, die später den Grundbüchern und den Juristen einige Kopfschmerzen machte: man konnte auch einzelne Stockwerke erwerben, ohne den Boden selbst in Eigentum zu bekommen. Man lebte also eigentlich im wahren Sinn der Worte in der Luft, in einem Luftschloß – ein Ausdruck, der Erwin allerdings nie in den Sinn kam, wenn er, schon in einem der vornehmen neuen Stadtteile geboren und aufwachsend, die Großeltern in ihren engen, kaum von der Sonne erreichten Stuben besuchte. Von Luftschlössern konnte in diesem stickig lebhaften Stadtviertel mit seinen vielen Trödelläden wirklich nicht geredet werden. Schon daß die schmutzige Gasse, in der die Großeltern lebten, geradezu »Goldene Gasse« hieß, wirkte wie bösartige Ironie. Indes war die Wohnung der Großeltern sehr ordentlich gehalten. Und doch machte alles, auch die Möbel, einen höchst baufälligen Eindruck, der vielleicht weniger architektonisch, als durch die stockende Luft innerhalb des alten Gemäuers begründet war. Und die ganze Pracht ist ja auch längst eingerissen, vom Erdboden verschwunden, nebst allen Gassen rund um dieses großelterliche Haus, so daß niemand auch nur den Fleck finden könnte, auf dem es gestanden oder vielmehr über dem es als Teilhaus wie ein Ballon geschwebt hatte.
Denn nicht das Parterre, nur der erste und zweite Stock, alles in allem vier Zimmer und zwei Küchen, gehörten dem Großvater; er teilte sie mit der zahlreichen Familie eines Verwandten – und das Auffallendste in der ganzen Wohnung war eine schöne Pendeluhr aus dunklem Holz, die auf einem Tischchen beim Fenster stand und eine Erwin sonst unbekannte Form aufwies; mit ihren kleinen weißen Alabastersäulen stellte sie einen Tempel vor, in dem als einzige Gottheit der flink hin- und hergehende glitzernde Messingpendel waltete, immer tickend und in einem spiegelnden Hintergrund gleichsam vor sich selbst weglaufend. Die Kargheit der ganzen übrigen Umgebung, sauber, aber verwittert, verlieh diesem einzigen Prunkstück etwas geradezu Mythologisches, Sagenhaftes, das Bewunderung einflößte. – Ja, es gab frühe Zeiten, in denen diese Pendeluhr dem Kinde wie der Inbegriff aller Schönheit auf Erden erschienen war. Soweit sein Gedächtnis in die Anfänge seines Erdendaseins zurückreichte: am fernsten Ursprung dort stand zusammen mit seinen ersten Erinnerungen diese Uhr. Zuzeiten war sie ihm, ihrer Goldverzierungen wegen, als ein verwunschener Prinz erschienen, der unerkannt im Haus eines Armen aufwächst. Eines Tages wird er seine Flügel ausbreiten und wegfliegen, das zierliche Tischchen als Triumphwagen mit ihm.
Gesichert durch seinen, sei es auch zwerghaften Hausbesitz, hatte der Großvater alles, was er fleißig erwarb, der guten Erziehung seiner Kinder gewidmet. So war Erwins Vater von einer Handelsmittelschule aus in die damals gerade neugegründete Böhmische Unionbank aufgestiegen – der Mutter gegenüber aber tat sich ein Abgrund auf, den freilich nur sie selbst zu sehen schien und dessen Schwärze sie gelegentlich auch mißbrauchte, im Kampf gegen alle, die etwa nicht ganz einverstanden mit ihr waren. »Nun ja, ich verstehe das eben nicht, ich bin eben ungebildet!« rief sie mit bitterer Ironie, vom Sturm heiliger Entrüstung gepackt – und wer hätte ihr dann zu widersprechen gewagt, wenn sie sich solcherart auf ihre arme, mißhandelte Jugend berief. Sie hatte nur die Dorfschule in Morchenstern, einem kleinen Flecken am Fuße des Riesengebirges, besucht. Das also, ihr Leute, ist es, was ihr an mir verachtet, das ist es, was euch zum Angriff gegen mich ermuntert – einem ungebildeten Menschen gegenüber kann man sich eben alles erlauben. – Erwin senkte die Augen. Jede Waffe war ihm aus der Hand geschlagen, wenn die Mutter, der er etwa eine sanfte Vorhaltung irgendeiner Anna wegen gemacht hatte, sich in einer derartigen Erniedrigung blicken ließ, die nichts an Wirksamkeit verlor, mochte man auch wissen, daß sie im Grunde nur ein Advokatenkniff war. Denn gleichzeitig fühlte man, daß diese Selbstbloßstellung in einem noch tieferen Grunde doch auch mehr als ein Advokatenkniff war. Erwin erschauerte und wurde rot; er konnte nach solch einem Gespräch tagelang der Mutter nicht ins Gesicht sehen, als hätte er eine große, geheimnisvolle Schuld auf sich geladen. – Noch ärger war es freilich, wenn die Mutter dann aus der Defensive zum Gegenangriff überging. Da gab es einen Onkel, der mit einem Taugenichts von Sohn gesegnet war, einem Sohn, der nicht wie Erwin die Schulklassen immer als Erster, sondern als der Letzte, als »Ultimus«, zu erledigen pflegte, wenn er nicht gar »sitzenblieb«, der überdies auch sonst seinen Eltern durch einige Streiche Kummer verursachte, die in jener Atmosphäre der Kindertage ein drohendes, geradezu verbrecherisches Aussehen annahmen, obwohl sie vielleicht nichts als harmlos waren. Dieser aufgeweckte, frühreife Bursche von einigermaßen grobschlächtiger Gemütsart hieß Arthur. Wollte nun die Mutter ihren Sohn förmlich brandmarken, so daß er sich in seinen eigenen Augen als der verächtlichste und böseste aller Menschen erschien, so brauchte sie ihm nur diesen Namen zu geben. Ironisch, unter wildem Funkeln ihrer blauen Augen, rief sie ihm ein »Arthur!« zu. Es war zu viel. Er fühlte sich angeklagt, aber auch schon überführt, verurteilt und hingerichtet, und zwar all dies in einem Verfahren, in dem es keine Beweise, also auch keine Einwände gab. In dem einen Wort »Arthur« lag die Summe aller nur möglichen Vorwürfe, die Eltern seit je, seit Adams nicht überlieferten und auch nicht überlieferbaren Worten an Kain, gegen ihre sündhaften Kinder gerichtet hatten. Einen Augenblick schwebte dies Gewitter von Anschuldigung in der trüben Luft, schon schlug der Blitz ein; der, den man »Arthur« nannte, durfte sich nie mehr unter anständigen Menschen sehen lassen.
Und nun also würde es in Misdroy trotz all seiner guten Vorsätze, sich zurückzuhalten und nie mehr der »ungerechten« Mutter zu widersprechen, doch einmal (ungewiß, wann, aber dem Wesen nach gewiß) zu einem jener offenbar unvermeidlichen Auftritte kommen, in dem man ihn mit dem Satz von der »Unbildung« knicken und dann mit dem hohnvoll hingeschleuderten Wort »Arthur«...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Impressum
- Inhalt
- Vorwort
- Der Sommer den man zurückwünscht. Roman aus jungen Jahren.
- Beinahe ein Vorzugsschüler oder Pièce touchée. Roman eines unauffälligen Menschen.
- Nachwort
- Editorische Notiz
- Über den Autor