DAS BRANDMAL
Ein Tagebuch
ERSTER TEIL
Im Namen des Namenlosen will ich beginnen, obgleich ich mich so weit von ihm entfernt fühle. Gerade aus diesem Grunde: in seinem Namen. Das Namenlose ist die erste und letzte Ursache meines Daseins. Ich ahne es als die Ursache des Daseins aller Menschen. Das ist nur meine gläubige Vermutung, sonst nichts. Ich aber will über meine eigene Ursache sinnen, über mich, denn ich bin noch nicht über mich hinausgekommen.
Ich sehe ja immer nur mit meinen eigenen Augen. Ich darf mich nicht darüber täuschen und sagen, ich sähe mit den allgemeinen Augen. Ich glaube nicht, daß jemand seine persönlichen Augen bei Lebzeiten auswechseln kann.
Das Verlangen, alles umfassen zu wollen, ist eine Sucht, nur meine Sehnsucht, sonst nichts. In Wahrheit aber kann ich nichts mehr begreifen, nichts halten, nichts fassen. Es ist, als löse sich alles.
Wie lange doch hat es gedauert, bis ich dahin gekommen bin, mir eines Tages einzugestehen: ich bin ein ungeordneter Mensch.
Hat mich ein Fall, ein Zufall verführt zum Bekenntnis? Mein Gott ist kein Zufall. Die Ewigkeit kann ich nicht Zufall nennen. Und doch war mir, als sei der Zufall mein Schicksal geworden.
Der Zufall kann wohl kein Grund zu einer Umwälzung sein. Es gibt so viele Zufälle.
Ich bin eine Frau. Ich hebe die Kontrolle auf. Die Frage nach dem »Warum« und »Woher«.
Ich gestehe nur das »Wie«.
Wie war es?
Jeder Anlaß war mir ein Abgrund, ich bin nicht erst heute gefallen. Erst heute merke ich, daß ich immer gefallen bin. Jetzt aber, da ich unten bin, – vielleicht kann ich nicht tiefer kommen –, sehe ich: ich bin gefallen. Meine Geburt war der Fall eines Engels, der von Gott abfiel, und jetzt suche ich wieder …
Um die Gegenwart zu erhellen, gedenke ich der Vergangenheit. Die Erinnerung lebt in mir, nach Tagen, Monaten, Jahren, immer. So ist es und wird es sein. Die Tatsachen, wie man die sichtbaren Handlungen in der Welt nennt, sind belanglos geworden. Nur das geistige Erleben und Wiedererleben rollt weiter. Nur die empfindsame Illusion ist es. Denn wenn ich vollkommen erleben könnte, wäre ich da nicht bei der ersten Begegnung mit dem ersten Erlebnis geblieben? Zusammengebrochen? Das Leben hat mich wohl nur gestreift, berührt. Daß man das Leben überleben kann! Wie schmerzhaft und empfindsam bin ich jetzt stecken geblieben! Stecke ich im Leben? Was meine Augen gesehen haben, hat mir nicht so weh getan, als was mein Herz, oder was immer es sein mag, fühlt.
Bei der Erinnerung vertieft sich die Schuld. Wenn man aber in der Erinnerung so sehr lebt? Oh, wie kraß und grell bin ich! Ich habe mich in Versuchung gebracht. Ich suche. Ich will ja nur konstatieren. Wo habe ich gesucht?
Wo habe ich gesucht?
Nichts war begründet. Meine Reise von Münster nach Köln war nicht begründet. Und dennoch bin ich gefahren. Ich hatte plötzlich allen Grund verloren. Plötzlich? Ist es denn nicht gleichgültig, wo ich mich aufhalte? Hab’ ja in Köln ebensowenig Grund wie in Münster. Nein, hier noch viel weniger.
In Münster löste sich das Theaterensemble, bei dem ich engagiert war, auf. Achtzehn Schauspieler gingen ihrer Wege. Wohin sie gegangen sind, weiß ich nicht. Welchen Weg hätte ich wohl einschlagen sollen? Aber ich war gar nicht auf die Zukunft vorbereitet. Ich träume so viel.
Hab’ ja auch nicht daran gedacht, daß sich die Gesellschaft auflösen kann. Daß sich einmal würde alles auflösen können. Wer hat daran gedacht, daß einmal jeder seiner Wege gehen könnte! Hielten wir denn nicht zusammen? Jetzt bin ich unruhig und rastlos. Besessen und weiß nicht wovon.
Ich erinnere mich: in Münster glaubte ich nicht länger leben zu können. Hatte kein Geld. Das kann doch kein Grund sein, um nicht leben … ach was. Ich hatte nicht den geringsten Grund zur Annahme, daß ich in Köln würde besser leben können.
Ob es überhaupt nötig ist? Das ist es! Diese Frage liegt mehr wie nahe. Diese Frage lebt immer in mir. Dabei klopft mein Herz. Und lebe und muß das Leben suchen, und nicht den Tod. Wo habe ich denn gesucht?
Um sechs Uhr abends lief mein Zug in die Kölner Bahnhofshalle. Er hätte es ja gar nicht so eilig haben brauchen, mich abzuliefern, denn ich hatte ja Zeit, nur Zeit, sonst nichts. Mit der Zeit habe ich denn langsam durch die gewölbte Bahnhofshalle hindurch die Stadt Köln betreten.
Der Kölner Dom stand sicher; vergoldet in der Abendsonne ragten die Türme. So schön, als vergoldeten die hohen Türme den Himmel. Schönes floß ineinander, und ich verlangte einen Augenblick nichts anderes.
Ich betrat die Kirche, in der jeder willkommen ist. Wie dunkel war es hier und kühl. Am Eingang brachten mir die Opferstöcke zu Bewußtsein, daß ich nicht der einzige arme Mensch auf der Welt sei. Sind denn die Opferstöcke nicht die stille Aufforderung an die Reichen, nach Vermögen alles zu tun für die Armen?
Ich zählte meine zweiundvierzig Pfennige, kam in Verlegenheit und nach einigem Überlegen ließ ich das Geld wieder in meine Tasche gleiten. An mich habe ich gedacht. Mit einer Unterlassungssünde habe ich begonnen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß das Loch in meiner blauen Jackettasche durch eine Stecknadel genügend verhindert war, weiterzureißen, glaubte ich genug getan zu haben, um einem Verfall meiner selbst vorzubeugen. So leichtsinnig bin ich also.
Ach, das wunderbar hohe Gewölbe der Kirche, und ich trage meine Not durch jedes Heiligtum hindurch, wie mein Leib mich nie verläßt.
Sorglich arrangierte ich mein graues Kleid, indem ich das gelöste Saumband vollkommen abriß. Weil ich nicht wußte, was ich damit beginnen sollte, legte ich es bei den Steinstufen, die zum Altare des heiligen Aloysius führen, nieder.
Vor dem Schutzheiligen der Jugend habe ich dann gekniet. Er trägt ein sauberes, weißes Spitzenkittelchen und ein solides schwarzes Unterkleid, bei dem man den Stoff nicht gespart hat. Angesichts des Heiligen ist mir mein grauer Rock so eng und voller Flecke erschienen. Solche Vergleiche hätte ich wohl nicht anstellen dürfen. Aber ich hatte nichts anderes mehr, an das ich mich klammern konnte, als einen Vergleich.
Mir war traurig zumut. Ich erhob mich nicht. Ich wollte auf den Knien liegen bleiben. Ich sah zum Heiligen hinauf, versuchte mich zu sammeln, um ihm ein Anliegen vorzutragen; denn das hat man doch immer.
Ich glaube, es wurde eine Art Anrede an das Schicksal, und weil ich gar nicht wußte, wo dieses war, ob es das überhaupt gab, war es ja auch gleichgültig, vor wem ich kniete. Ich hab’ einfach gesagt:
»O Macht, die du bist
Weiß nicht wo,
Sieh auf mich,
Unbekannte Macht.«
Ach, wie nebensächlich sind die Worte! Ich wollte eigentlich gar nichts sagen. Ich wartete vielmehr darauf, daß zu mir etwas gesagt würde. Auf eine Antwort wartete ich, aber nichts regte sich, gar nichts.
Es geschah kein Wunder. Meine Verlassenheit war dieselbe wie zuvor. Dann dachte ich, ich könnte es vielleicht auf eine andere Art versuchen. Und sann nach. Ich werde es ja auf jede Weise versuchen.
Ich dachte doch so lange nach. Dabei wurde mein Herz schwerer von Minute zu Minute, und mir fiel auf, daß es so still in der Kirche war.
Es war so still. Ich war die einzige Unruhe in einer stummen Welt. Das konnte ich nicht länger ertragen. Worte, die von selbst sprachen, fielen von meinen Lippen, als wäre ein Gefäß überfüllt und Tropfen fallen auf die Erde.
Ich hörte mich sprechen, und meine Stimme klang mir fremd, als gehöre sie nicht mir. Ich hörte immer denselben Satz wiederholen: »Es handelt sich diesmal nicht um das Glück, lieber Gott, es wäre zuviel verlangt. Es handelt sich nicht um das Glück, lieber Gott, nicht mehr um das Glück. Es handelt sich …« – um was? Um was denn? Als wäre es notwendig, daß ich mir selbst zu Hilfe komme, versuchte ich angestrengt nachzudenken, um was es sich handeln könne. Ich habe darüber nachgedacht im Kölner Dom. Ich denke auch heute darüber nach auf der Straße, auf der Post, im Zimmer, auf den Bänken und in den Warteräumen, überall, überall.
So sehr hab’ ich ja noch nie nachgedacht. Es ist doch seltsam: es handelt sich jetzt nicht mehr um das Glück. Das scheine ich jetzt zu wissen, – aber das wußte ich doch auch schon im Dom. Oh, mir scheint, ich werfe alles durcheinander! Gott läßt wohl nicht mit sich handeln, darum handelt … Oh, ich müßte schon mehr in der Ordnung bleiben.
Daß ich das nicht bin, ist eben mein Fehler. Ich erinnere mich: Es handelte sich nicht um das Glück. Es handelte sich um, ach, ich hab’ es noch nicht sagen können, scheint mir.
Im Dom hallten die Schritte der wenigen Beter an mir vorüber. Das Sonnenlicht, das durch die bunten Scheiben fiel, verlor seine Leuchtkraft, und immer noch hatte ich keine Antwort erhalten. In den verschwiegenen Winkeln der Kirche wurden die Schatten weich und blau. Ich wurde um so betrübter, je mehr sie sich vertieften.
Alle Heiligen waren unter Dach und Fach. Für die gibt es keine Hotelrechnungen, ging es mir durch den Kopf.
Ich wandte mich wieder an den heiligen Aloysius und sagte ihm:
»Heiliger Aloysius, du hast es gut. Du kannst deine Kleider schonen. Du brauchst kein Brot. Du darfst auf einem Sockel stehen. Du brauchst nicht von Penzig bei Görlitz nach Kremmen zu gehen. Durch den Sonnenbrand, die Landstraße entlang. Rein bleiben deine Füße. Denk’ an mich. Sieh mich an. Meine Füße sind verwandert und müde. Irgendwo muß man doch immer hingehen. Ich muß nämlich immer gehen, weil ich mich nicht auf einen Sockel stellen kann. Das ist vielleicht nicht der Grund, heiliger Aloysius. Du wirst den Grund wissen, sonst würdest du wohl nicht hier stehen. Hab’ Mitleid mit mir, weil ich immer soviel gehen muß. Hab’ Erbarmen mit mir, weil ich ein Mensch sein muß. Das ist sehr schwer. Es lenkt so leicht ab vom ewigen Gott. Das Leben muß täglich erworben werden, das hört ja gar nicht auf. Lieber Heiliger, ich bin auf den Gedanken gekommen und frage dich: ist wohl das Leben die Ablenkung von Gott? Wenn wir nur nicht bestimmt sind, von Gott abgelenkt zu werden. Ach, wenn ich der Sterblichkeit verfallen sein sollte! Es ist furchtbar und schwer. Du kannst es mir glauben. Ich will dich ja nicht kränken, aber ich glaube, es ist schwerer, immer auf der Landstraße gehen zu müssen und fürchten, von Gott abgelenkt zu werden, als hier still auf dem Sockel zu stehen. Du hast ja alles erreicht. War’s dir denn auch so schwer, dann sprich. Die Straße ist unvergleichlich heiß. Wir sind im Juli, heiliger Aloysius. Die Kirche ist kühl … ach … Wo werde ich sein im August? Wie weit werde ich dann gegangen sein? Vorüber und hindurch. Daß es aber auch immer weitergeht. Es geht nämlich immer weiter, ob man will oder nicht. Und ich will gar nicht mehr. Das ist es eben. Ja.
Heiliger Aloysius, ich kenne deine Vergangenheit. Ich kenne deine Geschichte. Mir ist, als könne ich sie begreifen, als verstünde ich sie, auch wenn ich nicht auf dem Sockel stehe. Beschützer der Jugend, kannst du meine Vergangenheit begreifen, und die Gegenwart? Wenn die Gegenwart vor dir kniet und dir all ihre Not sagt, kannst du si...