Über die Schönheit häßlicher Bilder
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Über die Schönheit häßlicher Bilder

Essays zu Kunst und Ästhetik

  1. 386 Seiten
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Über die Schönheit häßlicher Bilder

Essays zu Kunst und Ästhetik

Über dieses Buch

»Ein Vademecum für Romantiker unserer Zeit" ist der Untertitel der Sammlung von Essays, die Max Brod mit 29 Jahren 1913 bei Kurt Wolff in Leipzig veröffentlichte. Die Verbindung von Romantik und Moderne kommt in dieser Sammlung nirgends deutlicher zum Ausdruck als in dem brillanten Essay zu Robert Walser, dessen Größe zu dieser Zeit kaum jemand sah. Doch es sind nicht zuletzt die kleinen Dinge des Alltags, die den Flaneur Brod entzücken: die kitschige Wiener Historienmalerei, die ihn erregt, wiewohl er sie ablehnt, die modernen Möbel, die dem Benutzer eine Lebensweise aufzuzwingen versuchen, das veraltete Kaiserpanorama, das den Zauber der Kindheit wiederbringt, und die okkultistischen Sitzungen mit Gustav Meyrink, die ihn beeindrucken. Es ist der Reiz der Oberfläche, der ihn fasziniert. Brod begegnet allem vorurteilsfrei und zeigt eine intellektuelle Beweglichkeit sowie eine Ironie, die auch vor ihm selber nicht haltmacht. Ergänzend zu dem 1913 erschienenen Buch enthält der Band noch viele weitere, teils erstmals wiederveröffentlichte Essays, u. a. aus dem »Prager Tagblatt".

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Information

Weitere Essays
zu Kunst und Ästhetik

1906 – 1968

Zur Ästhetik

»Simplex sigillum veri.«

I.

Im Folgenden gebe ich eine kurze Darstellung der Theorie des Schönen, die sich mir in jahrelangen Beobachtungen aufgedrängt hat und die meiner Ansicht nach alle Phänomene auf diesem Gebiete zum ersten Mal in richtiger Weise erklärt.
Diese Wortgruppe: meiner Ansicht nach – möge der Leser zu jedem Satz der folgenden Abhandlung in Gedanken zufügen und so die vielleicht allzu sichere und strikte Formulirung meiner Thesen nach seinem persönlichen Geschmack mildern.
In zwei Stücken weiche ich von dem üblichen Aufbau wissenschaftlicher Abhandlungen ab. Die Abweichungen erklären sich aus dem Streben nach Prägnanz und Kürze.
Ich bringe keine Polemik gegen die bisher aufgestellten Systeme der Ästhetik.
Ich bringe nur einen Theil des Beweismaterials, d. h. ich gebe regelmäßig nur die Richtung an, in der man durch Selbstbeobachtung Belege genug für meine Behauptungen finden kann.
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Das Schöne ist eine Eigenschaft der Vorstellungen. Vorstellung ist hier in dem Sinne genommen, in dem Schopenhauer sagt: Die Erscheinungswelt ist unsere Vorstellung.
Schön ist diejenige Vorstellung, die neu ist.
Dieser Haupt-Satz gilt jedoch nur unter gewissen Modificationen, zu deren Verständniß der Begriff der Apperception unumgänglich nothwendig ist.
Unter Apperception versteht die Psychologie die Aufnahme und Aneignung einer neu entstandenen durch eine schon vorhandene Vorstellung oder ganze Vorstellungsgruppe. (Die Terminologie ist überdies in manchen psychologischen Systemen eine andere.) – Man denke sich den Intellect eines Menschen in einem gewissen Zeitpunkte. So ist klar, daß in ihm eine Unmenge von Vorstellungen, Erinnerungsbildern, Phantasien, Begriffen u. s. f. enthalten ist. Jede neue Vorstellung, die nun in den Intellect eintritt, sucht sich unter der Fülle der vorhandenen eine ihr verwandte Vorstellung heraus und gliedert sich an diese an. Und diese Angliederung und Bereicherung des Intellects nennt man Apperception: »Jede neu eintretende Vorstellung stört die schwebende Ausgleichung der ältern. Insoweit stört sie die Ruhe des Gemüthes und die Bewegung hat etwas vom Charakter des Affectes an sich.« (Volkmann, Grundriß der Psychologie.)
Aus der Betrachtung dieses Affectes entsteht für mich der Begriff des ästhetischen Genießens. Der Affect ist nämlich in verschiedenen Intelligenzen ein verschiedener.
Es giebt unregsame träge Gehirne, bei denen der die Apperception begleitende Affect meist eine Unlust ist. Sie fühlen sich nur dann wohl, wenn die eintretenden Vorstellungen, die sie angliedern müssen, den alten, schon verdauten möglichst ähnlich sind. Vorstellungen, die sich durch einen größeren Grad von Neuheit charakterisiren, werden nur mangelhaft und stets unter Unbehagen appercipirt, das sich mit dem Grade der Neuheit zur Wuth steigern kann.
Andere Gehirne empfinden gerade im Gegentheil Unlust bei der Apperception von Vorstellungen, die sich von den alten nicht markant abheben. Ihnen macht die Apperception möglichst ungewohnter und ungewöhnlicher Vorstellungen Freude.
Und so giebt es für jeden Intellect einen gewissen Grad von Neuheit, dessen Apperception ihm am angenehmsten ist. Auch diejenigen Vorstellungen, deren Neuheitsgrad den favorisirten Grad nicht ganz erreicht oder etwas übersteigt, werden unter Lustgefühl appercipirt. Den Abstand zwischen dem geringsten Grad von Neuheit, dessen Apperception einem bestimmten Menschen schon Freude erregt, und dem höchsten Grad von Neuheit, dessen Apperception diesem Menschen noch Freude erregt, nenne ich: ästhetische Zone dieses Menschen.
Daß die ästhetische Zone bei verschiedenen Menschen eine verschiedene Lage in der Scala der Neuheitsgrade hat, ist nach dem Gesagten klar.
Ferner gilt der Satz: Die ästhetische Zone hat bei verschiedenen Menschen auch einen verschiedenen Umfang. Der Eine appercipirt nur Vorstellungen von einem gewissen Neuheitsgrad und ist gegen alle andern intolerant. Der Andere empfindet Lust bei der Apperception sowohl von Vorstellungen, die dem Nullpunkt von Neuheit nahe liegen, als auch von solchen, die fast in jedem Stücke von seiner bisherigen Erfahrung, von dem Schon-Dagewesenen abweichen.
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Hier nun die angekündigte Modification des oben aufgestellten Haupt-Satzes!
Schön ist diejenige Vorstellung, die einen solchen Grad von Neuheit besitzt, daß sie von einem bestimmten Menschen unter Lustaffecten appercipirt werden kann.
Eben dieser Lustaffect ist der ästhetische Genuß.
Damit ist ausgesprochen: Das Schöne ist ganz und gar relativ. Es giebt kein objectives Schönheitsmerkmal. Jeder muß das schön finden, was für ihn neu genug und nicht zu neu ist. – Dies wird aber nach dem Gesagten von zwei Momenten abhängen. Von den Vorstellungsmassen, die sich im Laufe seiner Erfahrungen als appercipirender Complex in ihm angesammelt haben, die also die Arbeit des Angliederns übernehmen. Ferner von seiner individuellen Vorliebe für diese Arbeit, also von der Lage und dem Umfange der ästhetischen Zone.
Denken wir uns zwei Musiker von verschiedenem appercipirenden Complex, aber mit gleichen ästhetischen Zonen. A kennt die Musik nur bis Haydn, B hat auch Wagner verstanden. Beide appercipiren gern und leicht Vorstellungsmassen von mäßigem Neuheitsgrad. Beide hören nun zum ersten Mal »Tod und Verklärung« von Richard Strauß, von dem wir beispielsweise annehmen, daß er die musikalischen Neuerungen Wagners nicht beträchtlich vermehrt hätte. B würde in diesem Falle ästhetisch genießen, A wäre fassungslos, epatirt, würde wahrscheinlich den Niedergang der Kunst in phrasenlosen Worten bejammern.
Denken wir uns aber neben B einen Musiker C, der denselben appercipirenden Complex wie dieser hat, dem also ebenfalls Wagner »in Fleisch und Blut übergegangen ist«, wie man bezeichnend sagt; der aber am liebsten Vorstellungen von gewagtester Neuheit aufnimmt. Dieser würde ebenso wenig Kunstgenuß haben wie A, aber aus entgegengesetzten Ursachen. Er würde sich erst bei einer Symphonie von Gustav Mahler wohlfühlen.
So erklärt sich aus der dargestellten Theorie zwanglos, wieso dasselbe Kunstwerk auf verschiedene Intelligenzen verschieden wirkt.
Und aus derselben Theorie erklärt sich auch, wieso dasselbe Kunstwerk seine Wirkung auf ein- und denselben Menschen im Laufe der Zeit ändert.
Als Beispiel diene ein Kunstwerk, das so viel Neues bringt, daß es gerade den höchsten Grad von Neuheit enthält, den der betreffende Mensch gerade noch ertragen kann. Es liegt also an der oberen Grenze der ästhetischen Zone dieses Menschen. Nun beginnt die Apperception. Anfangs ist sie allerdings eine saure Arbeit. Treffend bemerkt Meier-Graefe in seinem Buche: Der moderne Impressionismus: »Jeder neue Kunstwerth ist, so schön auch die Redensarten von der Liebe zur Kunst klingen, ein Feind, den der abgebrühte Zeitgenosse sich möglich weit vom Leibe hält. Er hat die Concurrenz aller anderen, die sich bereits im warmen Nest befinden, gegen sich und ist dem armen Fußgänger vergleichbar, der athemlos dem überfüllten Omnibus nachläuft. Gewöhnlich gehören wiederholte Appelle dazu, um das schwere Möbel zum Halten zu bringen.« Nehmen wir nun an, das Schwerste wäre überstanden, z. B. der erste Anblick eines curiosen Bildes. Einzelne Theilvorstellungen des Kunstwerkes haben sich nun den alten angegliedert und arbeiten schon selbst an der Apperception mit. Da das Kunstwerk immer weniger Neues bietet, dringt es immer tiefer in die ästhetische Zone, kommt dem Centrum derselben, wo das größte Lustgefühl möglich ist, immer näher. Daher steigende Befriedigung. Man findet das Kunstwerk immer bedeutender. Man verliebt sich. Bei fortgesetzter Betrachtung, bei häufigen Besuchen des Bildes sinkt dann das Bild an den untern Rand der ästhetischen Zone. Es bleibt aber immer noch innerhalb der Zone, es strömt immer noch neue Vorstellungen in die Seele des Betrachters; und zwar um so länger und intensiver, je befremdender es anfangs wirkte. Schließlich aber wird es gleichgiltig. Es entgeht dem Schicksal, vollständig appercipirt zu werden, nicht. Nur abstract wissen wir noch: Das ist ein hervorragendes Bild! Aber die unmittelbare concrete Wirkung bleibt aus. Wenn wir das curiose und bedeutendste Bild in unser Zimmer hängen, stumpfen wir dagegen ab.
Natürlich wird dieser normale Verlauf der Apperzeption in den meisten Fällen gestört. Man hütet sich instinctiv, das Bild zu Ende zu appercipiren. Man sieht es eine Zeit lang nicht an, vergißt die Details und die feinen Stimmungsnüancen. Und nach einer Pause steht man wieder mit empfänglicher reiner Seele davor. – So ist die Unsterblichkeit der großen Werke eigentlich ein oft wiederholtes Sterben und Wiederaufleben.
Kein Kunstwerk ist eben ein unerschöpflicher Fonds des Neuen!
Nur so ist es zu erklären, daß ein und derselbe Mensch Wagners Musik verurtheilt, weil er ihn noch gar nicht zu appercipiren begonnen hat; daß er ihn später über alles schätzt; und dann wieder nicht leiden kann, nachdem er an ihm satt geworden ist. – Als früher Kritiker gegen Böcklin auftraten, war es deßhalb, weil sie ihn noch nicht appercipirt hatten. Meier-Graefe tritt gegen ihn auf, weil er ihn schon appercipirt hat. – Daß man in beiden Fällen seine Abneigung oft mit objectiven Gründen zu erklären sucht, ist Selbsttäuschung.
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Es giebt demnach nur ein einziges positives Kriterium des Schönen, d. i. relative Neuheit.
Wohl aber giebt es außerdem noch ein negatives Kriterium, das schon längst erkannt worden ist. Das Schöne fällt nämlich nie in die Sphäre des Willens, es ist unabhängig vom persönlichen Interesse, vom Angenehmen und Unangenehmen (abgesehen von dem oben beschriebenen, die Apperception begleitenden Affect).
Allerdings ist nichts gewöhnlicher als die Anwendung des Wortes »schön« im Sinne von »angenehm«, »begehrenswerth«, »geschmackvoll«. Man spricht von dem »häßlichen Bild einer schönen Frau« und dem »schönen Bild einer häßlichen Frau« und ist sich in den meisten Fällen wohl der Äquivocation auch bewußt.
Noch öfter wird das Wort »schön« im Sinne einer engbegrenzten einseitigen Auffassung der Kunst gebraucht, als ausschließliche Eigenschaft einer Kunstrichtung. Der Japaner nennt »schön« nur seine stylisirte Auffassung der Natur und stellt »schön« und »naturwahr« als Contraste hin. – Nach dem Gesagten kommt es gar nicht darauf an, ob ein Künstler die Natur stylisirt oder möglichst getreu wiedergiebt; sondern nur ob er einmal im Stylisiren, das andere Mal in der Naturbeobachtung neue, eigenthümliche Züge findet.
Alle Streitigkeiten zwischen Anhängern des Classicismus und der Romantik, der neueren Romantik und der Realistik, des Naiven und des Raffinirten, des Gesunden und des Ungesunden, der Heimathkunst und des l’art-pour-l’art, der absoluten und der Programmmusik … sinken zu vollkommener Bedeutungslosigkeit herab, wenn man erkennt, daß man es hier nur mit besonders prägnanten Richtungen des Neuen zu thun hat, die in dem unendlichen Ocean des Neuen neben einander schwimmen, ohne einander Platz wegnehmen zu müssen. Alle diese Richtungen sind neben einander berechtigt und gleichwerthig.
Und nur diejenige Ästhetik kann richtig sein, die dieser indifferenten Beziehung der einzelnen Erscheinungen des Schönen unter einander, die praktisch von den feinsten Kunstgenießern längst berücksichtigt wird, auch theoretisch zum Ausdruck bringt.
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Schön ist diejenige Vorstellung, die einen solchen Grad von Neuheit besitzt, daß sie von einem bestimmten Menschen unter Lustaffecten appercipirt werden kann.
Daraus folgt:
Alles Neue ist potentiell schön, d. h. es kann unter Umständen auf einen Menschen, in dessen ästhetische Zone es fällt, ästhetisch wirken.
Alles Schöne ist subjectiv (also für den Genießenden) neu.
Als subjectiven Kunstwerth muß man also die Summe des Neuen bezeichnen, die ein Kunstwerk einem bestimmten Menschen bietet; soweit sie in seine ästhetische Zone fällt. Denn das Neue, das nicht in seine ästhetische Zone fällt, wird er nur mit Unlust oder gar nicht appercipiren. Dies ist, nebenbei bemerkt, die Erklärung dafür, daß oft genialste Werke den Zeitgenossen ungenießbar bleiben.
Als objectiver Kunstwerth ist die Summe des Neuen zu betrachten, das in demselben Kunstwerk steckt, wenn man es mit früheren Werken vergleicht. Objectiver Kunstwerth ist also das Neue, das ein Künstler dem ererbten Fonds seiner Kunst hinzufügt.
Thatsächlich zeigt die Geschichte, daß keine Entwickelung der Kunst möglich ist, ohne daß etwas Neues gegenüber der vorhergehenden Periode geleistet wird.
Statt daß man sich aber durch diese selbstverständliche Thatsache, die auf der Apperception als Ursache des Veraltens ganz deutlich hinweist, auf die Apperceptions-Theorie bringen läßt, hat man die Geschichte mißdeutet und glaubt, nur insofern von einer Entwickelung reden zu können, als etwas besser gemacht wird als vorher. »Besser« natürlich im Sinne einer der unzähligen objectiven Theorien. Man stellt also die Entwickelung der Kunst als Verbesserung der Kunst dar. Man zeigt, daß die Kunst Probleme hat, die sie einer allmäligen Lösung entgegenführt u. s. f.
Doch abgesehen davon, daß diese problemgeschichtliche Theorie an der Musik, dieser absolut problemlosen Kunst, scheitert; sie ist auch auf die andern Künste nicht anwendbar. Nehmen wir z. B. die Malerei der Gegenwart. Fast alle Probleme, mit denen sich frühere Generationen abgeplagt haben, sind fester Besitz der Kunst; man malt Räume, Luft, Licht, die Flüchtigkeit des Momentes. Jetzt treten aber Maler auf, die absichtlich Errungenschaften der Problementwickelung bei Seite setzen. Und sie wirken ästhetisch nicht trotz dieser »Fehler«, sondern gerade wegen dieser »Fehler«. Sie bringen eine fast egyptische Perspective wie Teschner, Galanis. Sie verzeichnen sich. Vom Standpunkt der Verbesserungstheorie ist das unbegreiflich. Nach dem Gesagten allerdings ist das Weglassen von Altem ebenso etwas Neues wie das Zufügen von Neuem.
Auf diesem Weglassen des Alten, Gewohnten beruht auch die ästhetische Wirkung von Kunstwerken, die früheren Perioden und primitiven Völkern angehören. Es bedarf keiner historischen Excurse, um Giotto schön zu finden. Es bedarf keiner ethnographischen Entschuldigung, um das Löwendenkmal in Söul anzuerkennen, um »in den Reliefs assyrischer Menelithen oder den Negerbroncen Centralafrikas und dergl. fast mystische Genüsse zu finden, denen Rasse, Cultur, Religion, kurzum jedes Bewußtsein entgegen ist, und die uns in Momenten, wo die viel bedürftige Seele der Sehnsucht nach dem immer Neuen ganz geöffnet ist, doch zu sich zwingen« (Meier-Graefe). Und der vorhin angeführte Musiker C wird nicht nur die kühnen Neuerer und Vercomplicirer seiner Kunst freudig begrüßen. Er wird auch bei Anhören, z. B. des Kuckucks-Kanon von John of Fornsete (aus dem 13. Jahrhundert) in Ekstase geraten.
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Überdies möge man mich nicht mißverstehen, als ob ich mir neue Einfälle nicht anders als raffinirt und exotisch vorstellen könnte.
Nicht minder werthvoll, aber auch nicht werthvoller sind naive, bodenständige, ich möchte sagen: rusticale Einfälle, die neue Seiten eines alten Themas entdecken.
Ein Beispiel: Kindes- und Elternliebe. Banal behandelt wirkt dieses ewige Gefühl der Menschheit als Sentimentalität, nach Art der Jugendschriften, kann höchstens Leuten mit geringem appercipirenden Complex Thränen entlocken. Denken wir uns hingegen: Macbeth, 4. Akt, 3. Scene. Man meldet dem Macduff, daß seine Kinder von Macbeth überfallen und getödtet worden. Er bricht zusammen. Nun fordert man ihn zur Rache an Macbeth auf. Da entringt sich seinen Lippen der eine Satz: »Er hat keine Kinder«. – Wer bleibt da ungerührt. Während ich dieses niederschreibe und an die Stelle nur denke, treten mir Thränen in die Augen. Aber sie sind nicht dem ewigen Gefühl geweiht, sondern dem ungeahnten neuen starken Ausdruck des alten Themas; und dem größten Erfinder des Neuen, des imprévu …, Shakespeare.

II.

Nach Betrachtung des Genießenden und des Kunstwerks erübrigt noch die Theorie des Schaffenden.
Daß es auch hier auf das Neue ankomme, ist schon lange vor der dargestellten Theorie in vereinzelten Punkten erkannt worden.
Theokritos rühmt sich: »Musan d’ othneien upot’ epheilkysamen«[*].
Goethe (Briefe aus der Schweiz): Geistreiche, gefühlte Kunstwerke sind es, die mich entzücken … Was unterscheidet den Dummkopf vom geistreichen Menschen, als daß dieser das Zarte, Gehörige der Gegenwart schnell, lebhaft und eigenthümlich ergreift und mit Leichtigkeit ausdrückt, als daß jene … sich mit schon gestempelten hergebrachten Phrasen bei jeder Gelegenheit behelfen müssen.
Liebermann (Die Phantasie in der Malerei): »Wer die Kuh nur durch die Augen von Potter und Troyon sieht, ist kein schaffender Künstler, höchstens ein reproducirender; wer an der Kuh nicht neue Reize entdeckt, besitzt jedenfalls das zu einem Kuhmaler nöthige Talent nicht.«
Der Musikschriftsteller R. Batka schrieb einmal in einer Kritik über »Das Schwalbennest« von H. Herblay: »Was an seiner Operette anspricht, das ist nicht der Charm des eigenen Talentes, sondern das ist das französische Blut, das ist die Tradition des Styls … Was unsere Ohren, weil es nicht nach den melodischen Floskeln und Rhythmen unserer heimischen Vulgärmusik schmeckt, ›originell‹ klingt, ist in seiner Heimath nichts als ein Abklatsch der dort üblichen Manieren. Wer das Schwalbennest als Kunstproduct würdigen will, muß es innerhalb seiner Gattung beurtheilen und da ist sein Werth ein recht mäßiger.« Nebenbei bemerkt ist in diesen Sätzen auch der Unterschied zwischen objectivem und subjectivem Kunstwerth sehr fein gefühlt.
Und in richtiger Erkenntniß des Ganzen nannten die »Stürmer und Dränger« die von ihnen verehrten Dichter »Originalgenies«.
Doch ist noch einiges auch in Bezug auf die Erkenntniß des Genies zu sagen.
Die unhaltbaren, aber weit verbreiteten Ansichten vom objectiv Schönen, verlangen als nothwendige Ergänzung neben dem für alle Menschen und für alle Zeit ästhetisch wirksamen Kunstwerk auch einen Schöpfer des Werkes, dessen Betrachtungsweise von der aller übrigen Menschen fundamental verschieden ist. Am kr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Über die Schönheit häßlicher Bilder (1913)
  7. Weitere Essays zur Kunst und Ästhetik (1906-1968)
  8. Nachwort
  9. Editorische Notiz
  10. Über den Autor
  11. Register