Licht für andere Augen

Gedichte

Hendrik Rost

• Verlag: Wallstein Verlag
• Jahr: 2013
• eBook-ISBN: 9783835324350
• Thema: Literature
• Thema: Poetry

Hendrik Rost ist ein äußerst wacher und genauer Beobachter. Sein Blick fixiert das ganz Kleine, das Familiäre ebenso wie die großen Zusammenhänge: Geschichte, politische Verwerfungen, Klimawandel. Seine Fähigkeit, beides im Text zusammenzubringen, hart aufeinanderprallen zu lassen oder in eine geradezu zärtliche Balance zu bringen, ist außerordentlich. Kein Lamento, sondern Bestandsaufnahme sind seine Texte. Und immer wieder gelingen ihm hinreißende Landschaftsgedichte.

II. Die Klassiker sind aus

Lübecker Bucht

Als wir aus dem Windschatten der Hotels

am Strand kommen, ist es zehn Grad kälter.

Die See, absolut spiegelglatt. Eine Postkarte.

Am Wasser liegen Seegras und Blasentang.

Ich scharre mit den Füßen darin herum.

Warum? Ich komme mir vor wie jemand,

der in fremden Schubladen wühlt. Ich finde

einen Bernstein und lasse ihn liegen –

ich suche nach etwas Neuem, das erst noch

versteinern oder verhärten muss. Schließlich

kommen wir an den Hafen. Letzte Boote liegen

im Wasser vor der Winterpause. Eine kindliche

Energie bewahrt sie vor dem Sinken: Naturgesetze.

Wir gehen zurück, Köpfe in Mützen wie Schätze.

Familientreffen

Da sitzen die Gäste an langen Tischen

und wissen mehr über andere

als über sich selbst.

Die Dicken nötigen die Dürren

und sagen, dass man schon

wieder was essen mag.

Über die Verstorbenen heißt es,

schade, dass sie heute nicht

dabei sein können.

Aber das stimmt nicht, wenn wir

fröhlich sind und künstlich lachen,

wollen wir Geister vertreiben.

Geister, von denen keiner weiß,

sind sie gut oder böse. Sie werden uns

einst identifizieren müssen.

Symptome

Ein feines Geräusch geht
durch das Universum,
es ist meine Liebe zu dir.

Nicolas Born

Mit dem Leben kam die

Erinnerung wie ein Husten,

die Hand vorm Mund ist

eine ständige Liebkosung.

Trance bei der Tagesschau,

wenn Welt uns voneinander

abhält. War ich lange weg?

Der Nachbar muss auf den

Balkon zum Glimmen – Rauch

zieht zu uns, markierter Atem.

Das Leben ist eine einzige

Diagnose. Sie haben die

Freiheit, immer wieder an

der falschen Stelle zu lachen.

Anekdote

Celan besucht Heidegger auf seiner Hütte

Die beiden machen eine Wanderung und es

entbrennt ein Wettbewerb: Wer bestimmt

die meisten Pflanzen am Wegesrand.

Heidegger ist gut, der Dichter aber unschlagbar.

Er kennt Wundrose. Leberblume. Lauch.

Der Blick reicht weit nach Westen von oben.

Bis nach Brest können sie sehen. Der Dichter

kennt Mohn und Tausendgüldenkraut-Sternchen.

Sein Wissen ist so gut und geschunden,

er muss gewinnen. Heidegger lächelt sich

in eine Niederlage, von der er sich bis heute

nicht erholt hat. Celan blickt den Denker an,

dessen Bart er nicht deuten kann. Er geht

noch tiefer in Blütenträume und Gedächtnis,

die ihn verrückt werden lassen, sie zwingen ihn,

mit dem Messer auf seinen Nachwuchs loszugehen.

Aus dem Tal hört man derweil das liebe Seelchen

nach dem Ehebrecher rufen: Denk mal nach,

was Worte zu hohlen und leeren Gewächsen macht.

Pariser Levitation

Wir haben ein Zimmer mit Blick

auf die Sorbonne. Kaum schaffen

wir es an den Touristen vorbei

ganz bis an die Sehenswürdigkeiten

heran. Darum sehen wir uns

die Touristen an. Irgendwann

kommt die blaue Stunde, blau,

wie wenn Erkenntnis verschwimmt.

Die Liebe in teuren Hotelzimmern

ist ein Gefühl aus Filmen, die alle

anderen auch gesehen haben.

Die Klassiker sind aus, sagt der

Zimmerservice. Wir nehmen ein

Fläschchen Intu...

Inhaltsverzeichnis

• Cover
• Titel
• Impressum
• I. Mischtechnik
• II. Die Klassiker sind aus
• III. Der reinste Zoo
• Inhalt