JÓZEF ZELKOWICZ
In diesen albtraumhaften Tagen
Kapitel 1
Dienstag, 1. September 1942
Die Krankenhäuser werden geräumt
Am Morgen des Tages, an dem sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal jährte, wurde das Getto wie von einem Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Schon in der Früh, um sieben Uhr, fuhren Lastwagen vor die Krankenhäuser auf der Lagiewnicka-, Wesola- und Drewnowskastraße, und man begann damit, die sich dort befindenden Kranken aufzuladen.
Anfangs waren die Menschen nicht sonderlich interessiert. Schon vor längerer Zeit sprach man davon, dass die Krankengebäude evakuiert werden sollten. Das Getto könne sich einen solchen Luxus nicht erlauben, Kranke in Gebäuden auszuhalten, in denen Arbeitsressorts verteilt werden könnten. Man sprach sogar davon, dass die Baracken, die auf der Krawietzkastraße aufgestellt werden, eben jene Gebäude ersetzen sollten und die Kranken dorthin umgesiedelt werden müssten. Während die Wagen vorfuhren und man damit begann, die Kranken aufzuladen, sahen die Leute darin jene vorhergesagte Evakuierung und nahmen sich diese Angelegenheit nicht sonderlich zu Herzen.
Wie es so oft der Fall war, versammelten sich trotzdem Schaulustige vor den Krankenhäusern, die einfach nur dem Treiben zusehen wollten, das sich an diesem schönen und klaren Morgen vor ihren Augen abspielte. Als jedoch die Zahl der Schaulustigen zunahm und die jüdische Polizei damit begann, sie auseinanderzutreiben, wurden die gaffenden Augen von Sekunde zu Sekunde größer, die Blicke starrender, und wie aus hungrigen Mäulern ergossen sich Fragen:
| – | Warum, in Gottes Namen, benutzt man plötzlich für rein jüdische Zwecke Militärlastwagen? |
| – | Warum, in Gottes Namen, wirft man die Kranken wie Stücke unkoscheren Fleischs auf die Lastwagen? |
| – | Wohin und in welche Baracken wird man sie bringen? Die Baracken auf der Krawietzkastraße sind doch noch längst nicht fertiggestellt?! |
Obwohl niemand auf diese Fragen eine direkte Antwort gab, gefror allen das Blut in den Adern. Die Antwort ergab sich wie von selbst, und sie traf jeden wie einen Schlag auf den Kopf:
Während des Krieges wurden bereits zwei jüdische Krankenhäuser »evakuiert« und geräumt: Einmal die Nervenheilanstalt des Poznanski-Hospitals im März 1940, welches damals noch in der Stadt lag, und das zweite Mal am 17. Juli 1941, als die Klinik für Geisteskranke auf der Wesolastraße geräumt wurde. Und weil bis zum heutigen Tage niemand der Gettobewohner irgendeine Nachricht von den Evakuierten aus den genannten Hospitälern erhalten hat, ist es nicht verwunderlich, dass jedem das Grauen der Situation unerbittlich bewusst wurde:
»Man führt schon wieder eine Säuberung durch!« – Im Getto ist kein Platz für Kranke und Schmarotzer. Im Getto dürfen nur Menschen leben, die arbeiten können. Diejenigen, die nicht arbeiten können, gehen zum »shmelts«.
Der Morgen des Tages, an dem sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal jährte, war von Tränen erfüllt, die aber nicht mehr vermochten, als den Staub und Schmutz von den Straßen des Gettos zu spülen.
Man weiß nicht, wie und durch wen sich die Nachricht »Sie holen die Kranken aus den Krankenhäusern« so schnell wie ein Lauffeuer im Getto verbreiten konnte, aber es begann ein beängstigender und schrecklicher Teufelstanz. Wer von den Gettobewohnern hat nicht irgendjemanden im Krankenhaus: eine Frau, ein Kind, Vater, Mutter, einen Verwandten oder Gönner?
Man geht nicht über die Straßen – man läuft! Aber wer hat schon Kraft und Zeit zu laufen? Niemand! Man wird getragen. Man weiß nicht warum, aber man fliegt. Die Flügel sind gestutzt, aber man bewegt sich trotzdem fort. Geschwollen sind die Füße, aber sie bewegen sich – unerklärlich kurz wird der Weg. Häuser und Straßen verschwinden. Alles, das gesamte Getto – jung und alt –, kennt jetzt nur noch eine Richtung und –
Es ist nicht die Richtung zur Lebensmittel-Kooperative, nicht die zum Metzger, nicht zum Wurstkeller, auch nicht die zum Kartoffelplatz. Heute ist das Getto gefährlich, und man ist krank vor Angst. Das Getto kennt heute nur die eine Richtung: zum Krankenhaus.
Warum rennt man? Man will dabei sein. Man will den nahestehenden Kranken noch ein letztes Mal sehen. Vielleicht wird es ihm danach, vielleicht wird es uns danach leichter sein zu sterben. Vielleicht ist es sogar möglich, jemanden zu retten.
Die Straßen um die Krankenhäuser, ihre Durch- und Zugänge sind gesperrt. Hunderte jüdische Polizisten bewachen sie. Die Henker können in Ruhe ihre Arbeit ausführen. Niemand wird sie stören. Das Klagen aus der Ferne wird wohl kaum an sie heranreichen. Wehgeschrei kann nur menschliche Herzen berühren. Tiere werden sogar durch Gejammer und Geschrei noch gereizter, noch wilder. Die Flügel derjenigen, die jetzt herbeigelaufen kommen, sind nun wahrlich gestutzt. Die Beine – aus Holz. Sie rühren sich nicht mehr von der Stelle. Nur noch die Hände sind beweglich. Sie ringen ihre Hände, und ihre Münder geben merkwürdige und primitive Laute von sich, gar unmenschliche Klänge. Und die Augen, so als hätte sie jemand dazu angestiftet, vergossen endlose Tränen. Es war unbegreiflich, woher diese hungrigen, schwachen und ausgelaugten Menschen die Kraft nahmen, so viele Tränen zu vergießen.
Unter den bettlägerigen Kranken, die sich gar nicht mehr bewegen können, weil sie entweder ein Bein oder einen Arm in Gips haben oder völlig geschwächt sind, und unter jenen, die im Fieber liegen, verbreitet sich schreckliche Panik. Sie werden wahllos, so wie sie dort gehen und stehen – wie Kälber auf dem Weg zum Schlachthof –, auf den Wagen geworfen. Unter jenen Kranken, die sich noch bewegen können, herrscht eine fieberhafte Unruhe. Man versucht sich zu retten. Man springt aus den Stockwerken, man springt über Zäune oder versteckt sich im Keller. Man mischt sich unter das Krankenhauspersonal und versucht sich so zu retten und …
Viele von ihnen, die ihre Nerven und ihre Ruhe bewahren konnten, haben sich auf diese eine oder andere Weise retten können.
Was man sich erzählt
Wie über andere Vorkommnisse im Getto gab es auch über diese Krankenhaus-Evakuierung viele Gerüchte und Versionen.
Eine Version besagt, dass der Präses von dieser Verfügung gewusst haben soll, welche über das jüdische Blut besiegelt wurde, und er soll dies sogar zuvor angekündigt haben. In den letzten Tagen soll er während seiner Besuche in den etlichen Arbeitsressorts deutlich gesagt haben: »Schwarze Wolken brauen sich über den jüdischen Köpfen zusammen …«
Eine weitere Version lautet, er solle nicht nur von der Verfügung gewusst haben, sondern solle auch der Initiator gewesen sein. Er müsse dieses Opfer bringen, weil man von ihm die Deportation der Alten und Kinder verlangte. Um Letztere zu retten, müsse er Erstere opfern.
Eine dritte Version besagt, dass die Deportation der Kranken für den Präses ebenfalls eine Überraschung gewesen sei, wie für all die anderen Gettobewohner. Er wurde nicht zu Rate gezogen, seine Vorschläge fanden kein Gehör, und man hatte seine Entscheidungen nicht befolgt. Es gibt Juden, die viel zu lange »ruhend« im Getto herumsaßen und heute, am dritten Jahrestag des Kriegsbeginns, musste man doch etwas unternehmen, man musste doch beweisen, dass der Verstand noch nicht getrübt war und die Hände noch nicht kraftlos geworden.
Es gibt einen alten Spruch: »Wenn man die Schafe schert, zittern die Lämmer.« Dieser begleitete das widerwärtige Geschehen am heutigen Morgen. Ängstliche Rufe verbreiteten sich im Getto. Laut dieser Gerüchte sind die heutigen Geschehnisse nur das Vorspiel zu einer schlimmeren Tragödie, die sich bald schon abspielen wird. Laut dieser Stimmen ist die Deportation der Kranken nur das Vorspiel für die Deportation der Alten und Kinder, die schon sehr bald, schon heute oder morgen, stattfinden wird. Alte Menschen ab fünfundsechzig Jahren und Kinder bis zu zehn Jahren. So, wie man sich heimlich erzählt, soll der Präses bereits eine Konferenz mit der jüdischen Deportationskommission abgehalten haben, welche das besagte Menschenmaterial bereitstellen muss, das laut Befehl rausgeschickt werden soll.
Eine Bestätigung dieser Gerüchte über weitere Deportationen will das ängstliche und unruhige Volk darin erkennen, dass der Arbeitseinsatz den Befehl erhalten habe, keine neuen Arbeitskräfte mehr in die Ressorts zu schicken. Deshalb geht das Volk davon aus, dass die Deportationskommission diesen Vorwand nutzen will, um die bisher unbeschäftigten Elemente deportieren zu können.
Obwohl dieses Gerücht den Auftrag des Arbeitseinsatzes zu bekräftigen schien, hat es sich derweil nicht im Geringsten bestätigt. Aber weil sich das Volk in keinster Weise beruhigen ließ, wurde, wie es so oft der Fall war während eines Aufruhrs, ein Gerücht schrecklicher als das andere. Es gibt weitere Versionen: Die Macht habe den Befehl herausgegeben, dass ihr in ca. zwei Stunden alle Kranken ausgeliefert werden müssten, die sich, wie auch immer es ihnen gelungen sei, aus den Krankenhäusern geschlichen haben. Sollten sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ausgeliefert werden, würden nicht nur sie – sollte man sie finden – erschossen werden, sondern auch die Menschen, bei denen sie sich aufhielten.
Mittwoch, 2. September 1942
Nicht nur aus den Krankenhäusern …
hat man die Kranken herausgeholt und Gott-weiß-wohin geschickt. Auch die Kinder wurden aus den Preventorien herausgeholt, alle Gefangenen aus dem Zentralgefängnis abgeführt. Weil unter den Gefangenen auch viele zu finden waren, die nur zufällig anwesend waren, wie zum Beispiel all jene, die eine administrative Strafe von 42 Stunden absitzen mussten, weil sie ihre Wohnungen nicht nach Vorschrift verdunkelt hatten und in der Nacht aus ihnen das Licht zu sehen war, oder eingesiedelte Juden, die wegen Überfüllung aus anderen Provinzen kamen und nur vorübergehend im Zentralgefängnis interniert waren, war die Panik, die diese Nachricht hervorrief, unbeschreiblich. Jeder, selbst wenn er über wenig Verstand verfügte, erkannte, dass es eine Verfügung war, die nicht nur Kranke betraf, Arbeitsunfähige und …
Die Herzen schlugen mit großem Schrecken, mit großer Unruhe.
Währenddessen sucht die jüdische Polizei in jüdischen Häusern und sammelt jene auf, die gestern auf wundersame Weise aus den Krankenhäusern entkommen konnten. Dabei spielen sich furchtbare und herzzerreißende Szenen ab. Es wird geweint, man fleht und küsst ihnen die Hände, als könnte dies helfen. Wenn man nur wüsste, dass der Moloch sich mit diesen Opfern zufriedengeben würde, dann würde man sich die Tränen aus den Augen wischen, das Herz erkalten lassen und wie jene Todgeweihten resignieren. Nach fast drei Jahren Gettoleben haben die Bewohner dazugelernt und sich mit dem Tod angefreundet, als wäre er so selbstverständlich und alltäglich wie das Leben. Dieses »Wird es damit enden?« ist aber eine so verbreitete Frage, welche nicht nur den Verstand löchert, sondern auch das Blut in den Adern gefrieren lässt in Anbetracht der Kälte des Verbrechens, wegen deren die Gettobewohner schon bittere Tränen vergossen haben.
»Wird es damit enden?« Die Juden aus der Provinz, die noch nicht lange im Getto sind, begegnen dieser naiven Frage mit einem bitteren Lachen, gar mit Häme. O, sie haben schon Übung, sie wissen es und sie bringen es nicht über ihre Lippen. Überall in der gesamten Provinz hat es sich so zugetragen. Erst wurde jeder Einzelne »gestempelt«, später hat man die Kranken aus den Krankenhäusern genommen, und auch sie: Kinder und Alte und danach erst … auch aus dem Rest Asche gemacht. Deportiert, erschossen, ausgemerzt und verstreut über alle sieben Meere. Frauen wurden ihre Männer entrissen, Männer von ihren Frauen getrennt, Kinder von Eltern und Eltern von Kindern. Auf so unterschiedliche Weise ermordet, als wäre ein gemeinsamer Tod zu wenig für das schwache und gepeinigte jüdische Volk. O, sie kennen das ganze Lied sehr genau, die Provinzjuden! Überall ereignete sich unter gleicher Regie diese Tragödie.
Auf diese Frage geben sie keine Antwort. Sie haben Angst und zittern, diese Worte über die Lippen zu bringen. Sie lachen nur bitter. Es ist ein Gelächter von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, denn sie, die Provinzjuden, haben bereits alles verloren. Das wenige erbärmliche Leben, welches sie noch auf ihren gemarterten Schultern tragen, ist für sie nur noch ein überflüssiger Ballast, von dem sie gerne befreit würden. Für sie ist es leicht zu lachen, aber für den hiesigen Gettojuden, der bis jetzt mit seiner Familie zusammengelebt hat, mit seinen Vertrauten und Verwandten – ihm ist nicht zum Lachen zumute. Ihm gefriert das Blut in den Adern über das gellende Gelächter der Provinzjuden.
Die Kranken, die sich aus den Krankenhäusern retten konnten und die sich in ihren Häusern oder bei ihren Verwandten versteckt hielten und nun von der Polizei aufgespürt und ins Zentralgefängnis gebracht wurden, wurden bereits am Morgen auf Lastwagen geladen und weggebracht.
Der Präses wusste es nicht
Wie sich herausstellte, wusste der Präses nichts von der Deportationsverfügung über die Kranken. In einem der Krankenhäuser lagen sein Schwiegervater und sein Schwager. Der Schwiegervater konnte sich in letzter Minute noch retten. Der Schwager ist vor Schreck gestorben. Die Bewohner, die durch die Verfügung der Deportation betroffen waren, waren neidisch auf den Präses: Sein Schwager ist gestorben. Ist er doch auf einem Bett unter Menschen gestorben, und man weiß, wo seine Gebeine liegen. Aber, die armen elenden Kranken, die man halb und ganz tot auf die Lastwagen geladen und weggebracht hat, wer wird je erfahren, was mit ihnen geschehen ist?
Donnerstag, 3. September 1942
Schreckliche Panik
Der gestrige Tag brachte kaum Ruhe in die Gemüter der Gettobewohner. Im Gegenteil: Je länger der Tag andauerte, umso mehr wuchs die Sorge.
Die Nacht ging schlaflos vorüber, und der Morgen brachte aufgescheuchte, vor Schreck aufflatternde Schwalben ins Getto. Die Kinder draußen in den Marysin-Kolonien lebten verhältnismäßig unter viel besseren Bedingungen als all die anderen Kinder. Aber sie gaben diesen Vorteil auf und gingen zurück ins Getto, um im Schutze ihrer Verwandten zu leben. Es sind nur jene Kinder in den Kolonien geblieben, die nirgendwo anders bleiben konnten – Waisen, die keine Verwandten mehr im Getto hatten.
Man hat sich geeinigt
Die Macht bestand darauf, dass ihr alle entlaufenen Kranken zugestellt werden sollten. Aber da nicht alle gefunden werden konnten und auch, weil man nicht alle herausgeben konnte, da viele von ihnen Beziehungen hatten und sie zu den Protegierten des Gettos gehörten, ist man mit den Behörden übereingekommen, dass ihnen die Kehille statt der entlaufenen Kranken zum Austausch zweihundert andere Menschen zust...