Die unsichtbare Tätowierung
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Die unsichtbare Tätowierung

Erkundungen

  1. 224 Seiten
  2. German
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Die unsichtbare Tätowierung

Erkundungen

Über dieses Buch

Ob Hans Dieter Schäfer nach Bagdad reist, in Berlin die Friedrichstraße entlang geht, im Aquarium Tintenfische betrachtet oder den Leuten in der Kneipe zuhört - immer ist er ein genauer Beobachter, dessen Wahrnehmungen Gedankenbewegungen in Gang setzen, die etwas über die Zeit, die Orte, über das Gewordensein und das eigene Ich erzählen. So legt ihm die Erinnerung an eine Melodie aus dem Grammophon der Großmutter den Geschmack von Monatserdbeeren in den Mund, und der Anblick der Ostsee ruft die Suchscheinwerfer aus der Kindheit auf.Seine Erkundungsgänge führen Hans Dieter Schäfer in die Geschichte, in die Literatur, in die Kunst, sie führen ihn an erinnerungsträchtige Orte, die weiträumige Assoziationen aufrufen. Nicht um geschlossene Bilder der Welt geht es ihm, sondern um die umkreisende, tastende Zusammenschau des Kleinen, Zufälligen mit dem großen Gang der Geschichte. "Es gibt zwei Welten - eine sichtbare und eine unsichtbare", heißt es. "Erinnerungen sind das Bindeglied zwischen den beiden."Schäfer notiert Gesehenes, bringt es in einen Zusammenhang mit Erfahrenem und spielt Möglichkeiten durch; seine Prosaminiaturen haben eine außerordentliche Leichtigkeit und Dichte.

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I

Das Haus der Assel in der Oranienburger Straße 21 sieht aus, als hätte ein Bauer mit Mistforken Heu über die Balkons gehievt und dort vergessen. Nach der Wende setzte der Inhaber zwei Samen Knöterich um das Regenrohr als Ausdruck für eine neue Zeit – alles sollte schöner werden, und die Bewohner freuten sich darüber, wie die Pflanzen wuchsen und das Grau der Fassade bedeckten. Unter Vogelgezwitscher betrete ich das halb im Souterrain liegende Lokal. Manchmal glauben die Gäste, daß die Laute von einem Tonband im Gewächs kommen, dann klatscht der Inhaber in die Hände, und für ein paar Sekunden ist es ganz still, bis das Gezwitscher wieder einsetzt – eine Showeinlage, die immer funktioniert. Erst sind nur Spatzen gekommen, dann Finken; insgesamt schätzt man den Bestand auf sechshundert Vögel. »Eindeutig zu viele«, meint der Wirt. Seine Nichte, die im zweiten Stock wohnt, wollte schon einmal eine Katze anschaffen, dann hat sie es doch gelassen, und manchmal sagt ihr Sohn auch: »Laß das Fenster auf, Mama, mit den Vögeln kann ich gut einschlafen.«
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Das Gasthaus Massinger hat alle Fensterläden geschlossen. Durch die Öffnung von der Größe einer Schießscharte kann man im Inneren des würfelförmigen Gebäudes die Eichenholztische erkennen, auf denen Brotkörbchen aus Bast stehen, während neben der Tür die Karte noch immer eine Tagessuppe für 1 Mark 50 und für 9 Mark Sauerbraten oder Wiener Schnitzel anbietet. In einer Minute verwandelt ein heftiger mit Schnee vermischter Hagelschauer die Straße in einen rollenden Eisbach. Wo früher die Mülleimer standen, springt eine Katze die Böschung hoch, die Pfoten scheinen in weißen Filzstiefeln zu stecken und die Augen glühen, als ein »Ksch! Ksch!« das Tier zu verscheuchen sucht. In der Kirche finde ich Schutz. Die Trauben im Schlußstein sind die letzte Erinnerung an den im Mittelalter blühenden Weinbau, doch das Getränk muß ziemlich sauer gewesen sein, so daß man es mit Honig versüßte und warm trank. Als 1519 die Regensburger Judenstadt zerstört wurde, fanden einige der Vertriebenen im Pfarrhof und in anderen Häusern Zuflucht. Beim Mustern des Grabmals für Hans von Leublfing in Ritterrüstung aus rotem Marmor fällt mir ein, daß er wenige Jahrzehnte später der Duldung ein Ende machte; der Straßenname »Am Judenfeld« und die Flurbezeichnung »Judenau« erinnern noch heute an den Aufenthalt. Der Himmel hellt sich wieder auf – draußen auf dem Kirchhof wölben sich über die Gestecke von Allerseelen Schneehauben. An einem Stein wische ich mit dem Finger ein ovales Bild frei und blicke in die Augen eines Jungen mit Grübchen im Gesicht, einem kurzärmligen Hemd und Trägern, die zu einer Lederhose gehören. Zwei Fahrer lenken ihre Lkws auf der Amberger Straße an die Seite, um Pause zu machen; auf dem Arm des einen treten Venen hervor, während der andere von einer Semmel abbeißt und große Schlucke Cola-Mix aus einer 1-Liter-Flasche nimmt. Vom Bayerischen Wald treiben neue Wolken heran, die sich irgendwo im Osten, vielleicht über einem der tschechischen Stauseen, zusammengeballt haben.
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Unterm Palast der Republik im Weingewölbe des geschleiften Stadtschlosses hängen kopfunter Wasserfledermäuse zum Schlafen an den Fußzehen, und es ist, als ob die Flughaut zwischen den verlängerten Fingern und krallenbewehrte Daumen von einem anderen Erdzeitalter erzählen wollte. Andere Tiere schlafen im Stehen oder auf einem Bein, unter Wasser, mit offenen Augen und sogar während des Fliegens – über all dem liegt das Selbstverständliche einer Welt, die außerhalb des Menschen tatsächlich vorhanden ist.
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Die Lufthansa-Maschine nach Nürnberg startet in einer langen Schleife, tief unten liegt die Oase des Tiergartens, daneben in die Abendglut eingefrorene Seen und der Spreekanal mit seinem gewundenen Band – wir schweben, bevor wir nach Süden abdrehen, in die untergehende Sonne hinein. Eine Stewardeß verteilt das Spiegel-Magazin mit dem Foto eines aus der Schädelhöhle befreiten Zerebrums – ein aschgrauer Gewebeklumpen, furchig wie eine Walnuß und weich wie eine Avocado. Unter uns liegt die Erde mit Schmelzwasserströmen der Gletscher und S-förmigen Linien abgetragener Wüstengebirge – ein Zersetzungsvorgang aus Flächen, Formen, Linien, Mustern und Farben. Blau kommt vom Wasser, das den blauen Anteil des Sonnenlichts reflektiert. Eis und Salz sorgen für Weiß. Grün – das sind die Pflanzen. Eisen verwittert und macht in Verbindung mit anderen Elementen die Erde bunt. Kurze Zeit vor der Landung kann man bei Schräglage im Fenster einen der Motoren erkennen – wir gleiten an Lachen mit veilchenfarbenen Flecken vorbei, die vor unserer Ankunft eine Art Monsun auf die Rollbahn geschickt hatte. Beim Hinuntersteigen von der Gangway höre ich das Jaulen eines abfliegenden Jets. Es sind immer noch beinahe 30 Grad. Die Nacht riecht nach Treibstoff und hat einen ganz speziellen Geschmack – manchmal stiebt unerwartet ein Luftzug über das abgenutzt wirkende Flugfeld wie von einem fernen Ozean, um Salz vermischt mit Asche auf die Zunge zu legen.
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Verstohlen hat die Dunkelheit Einzug gehalten, doch noch kein einziger Stern ist zu sehen, dafür steigen Schwalben in einer Kurve mit hellem Zwitschern ohne Intervalle hoch, um anstrengungslos hinter den Häusern nach unten zu fallen. Jogger laufen mit LED-Lampen an der Stirn zur Steinernen Brücke, als wollten sie an der Quaderwand aus Kalk- und Grünsandstein Kohle abbauen. Für eine Geburtstagsfeier hat der Wirt einen Grill in den Spitalgarten gestellt, die Leute stehen um das Fleisch herum – spöttisch tänzeln blaue Flammen über die Schnauze des Spanferkels. Ein Mädchen bläst Seifenkugeln und sieht zu, wie sie auffliegen und vor den Enten zerplatzen, die an der Böschung im Gras mit unter den Flügeln vergrabenen Schnäbeln liegen. Um Mitternacht ist das Lokal geschlossen, doch noch immer steigen gedämpfte Stimmen vom Spielplatz hoch; ein Liebespaar sitzt neben der Rutschbahn und weiß nichts von den Alten aus dem Heim mit offenen, zur Decke gerichteten Augen.
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Neben einem Kiosk in Mainz warten Musiker einer Garde in Schaftstiefeln und mit goldglänzenden Trompeten auf ihren Einsatz; erst als ich am Dom bin, bricht sich das Spektakel Bahn. Der Trommelwirbel wirkt durch die Entfernung gedämpft wie das Wasser, das zwischen schmutzigen Eisresten wegstrudelt. In einem Antiquitätengeschäft brennt noch die Nachtbeleuchtung – Haarkämme aus Horn mit Diamantsplittern, Broschen und Puderdosen in Form einer Muschel fließen auf Samt in ein einziges Muster zusammen, doch das Rot, Grün und Orange erlischt zu einem matten Weiß, weil die Sonne für kurze Zeit aus den Wolken getreten ist und ihre Strahlen über die Auslagen hinweg in die Dunkelheit des Ladens schiebt. Bald wird sich durch Mainz der Rosenmontagszug bewegen. Papierschlangen und Masken in den Schaufenstern beschwören nicht ohne Ironie die Shopping-Stimmung vergangener Jahre. Unter meinen Schuhsohlen knirscht der Streusand – in der Nacht war das Thermometer gestiegen. Die Luft schmeckt nach Frühling. Die Wolken heben sich unterschiedlich schattiert voneinander ab und machen das Licht viel heller als in den vergangenen Wochen. Ein Mädchen fliegt vor Glück aus dem Schultor in die ausgebreiteten Arme der Mutter – der Teddy am Ranzen pendelt hin und her, während aus den Zweigen eine Mondrakete aus Pappe mit groß gemalten Augen auf uns herabschaut.
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Auf einer Reklame für H & M räkelt sich eine fast nackte Frau wie ein erwachendes Tier – das Universum der Sexualität kennt keine Gesetze. »Dann war eine Katze da und hat ihre Freundin Katze besucht. Und dann war eine Zombie da und hat die Katze zerfetzt«, steht neben der Einfahrt zur Tiefgarage in Blasenschrift – Graffiti erinnern an Felsenbilder aus prähistorischer Zeit, wo Tiere ohne Umschweife auf den Stein gemalt wurden, denn nirgendwo fand man Versuche oder mißglückte Kompositionen. Beim Entziffern der Inschriften blickt mich eine Gruppe Kinder aufmerksam an, um gleich wieder ihren Abzählreim fortzusetzen: »Himmel – Pimmel, Pepsi – sexy, schwul – cool.« Vor der Braugaststätte Kneitinger steht eine Frau von den Zeugen Jehovas, in der Hand eine Broschüre: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« – sie trägt Lockenwickler, halb verdeckt, unter dem Kopftuch. Ein Mädchen von ungefähr fünf ruft »Verfickt euch!« zu uns herüber. »A wie Affe«, beginnt ein Rothaariger sogleich mit geringer Lautstärke ein anderes Spiel. »B wie …?«. »Breakdance«, lacht jemand und ein Dritter ergänzt: »D wie Doktor Keineahnung oder Deutschland.« Die Stimme des Mädchens nimmt die Melodie mit »F wie Ficken und Fixen« auf, und eine andere beendet sie mit »Z wie Zichopat«. Busse streuen Scheinwerfer über Kronenkorken, die im Kehricht wie verlorene Münzen glitzern. Oben in den Wohnzimmern setzt das Licht der Fernseher Leere frei, vor der Erwachsene ohne Arbeit warten; auch ihr Leben vollzieht sich wie in einem Kinderspiel – jede Bewegung könnte alles kaputtmachen.
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Von der Blase aus dem Schlaf geholt gehe ich heute nicht wieder zurück ins Bett – unten auf dem Wasser erzeugen die Milchglaslampen der Steinernen Brücke ein Muster, während die Bäume Richtung Autobahn wie zu einem Dickicht massiert stehen. Die duft- und nektarreichen Blütentrauben der Robinie beginnen zu verblassen – auf der Dachschräge links unten liegen die Blättchen in dicken Schichten, als warteten sie darauf, mit Schaufeln in Eimer geschoben zu werden. Lange hielt ich den Baum für eine Akazie. Er enthält giftige Lektine, das gelbe Splintholz ist vergänglich, sein Kernholz dauerhaft, biegsam und fest, so daß es im Bergbau zum Stützen von Stollen verwendet wurde. Auf dem Grund der Donau ruhen Karpfen zwischen den Pflanzen gut getarnt – nähert sich ein anderer, drehen sie die Augäpfel nach oben, so daß einfallendes Licht von weißen Flächen am Sehloch in Pulsen von einer halben Sekunde Länge reflektiert wird. Die Signale bestehen aus UV-Strahlen, die nur Artgenossen wahrnehmen können. Es gibt zwei bekannte Welten – eine sichtbare und eine unsichtbare. Erinnerungen sind das Bindeglied zwischen den beiden.
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Seit einer halben Stunde laufe ich durch den Tiergarten, in der Abendsonne blitzen die erbeuteten Geschützrohre aus den Rillen der Säulentrommeln auf, und mit einem Schlag begreife ich das Kolossale der Todesphilosophie, welche die Metropole über ein Dreivierteljahrhundert in Bann geschlagen hatte – zum Wahn gesteigert dachte sie sich als letztes Kapitel die Öfen aus. Ein Schwarm Vögel mit schwefelgelber Brust wirbelt von dem Rasen auf, bildet am Himmel für Momente ein schwebendes Muster und fällt wie die Teile einer Feuerwerks-Rosette auseinander wieder zur Erde. Der Weg schlängelt sich am dunklen Wasser entlang, während auf der anderen Seite ein Steingarten eine Anhöhe besetzt häl...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Orte
  5. Erinnerungstraining
  6. Ein nichtgeschriebener Roman
  7. Das Klima von Bagdad
  8. Mit fremden Augen
  9. Anhang
  10. Inhalt