Die amerikanische Fahrt
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Die amerikanische Fahrt

Stories eines Filmbesessenen

  1. 298 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Die amerikanische Fahrt

Stories eines Filmbesessenen

Über dieses Buch

"Die amerikanische Fahrt" erzählt von Patrick Roths Anfängen in der Stadt des Films, von seiner Bewunderung für Bildpoeten wie John Ford und Orson Welles, unverhofften Begegnungen mit Henry Fonda und David Lynch und vom abenteuerlichen Erlernen filmischer Mittel fürs eigene Schreiben. Immer wieder bringen seine Geschichten jene "Movie-Moments" vor Augen - heilig-magische Momente des Kinos, in denen Durchsicht auf ein Größeres gegeben wird, das jenseits der Leinwand liegt. Im ganz Anderen erkennen wir uns plötzlich selbst.Roths "Kamerafahrten" beginnen in seinem amerikanischen Alltag, führen aber immer wieder an existenzielle Entscheidungssituationen heran. Fahrt und Erfahrung, Realität und Traum, Abschiede und zarte Zeichen beginnender Liebe überlagern sich und werden zum Grund des Erzählens. Roths filmische Stories faszinieren und verwandeln. In ihnen begegnet man einem neuen Sehen - und kann es lernen.

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Information

INNEN – AMERIKA – NACHTDie Bild-Flamme
… wie kamst du hinab ins
nächtliche Dunkel / Da du
noch lebst?
Odyssee, XI. Gesang
Nicht glauben sollt ihr,
sondern erfahren.
Neith in SUNRISE
Es war 1972 …
Zur Orientierung: Es gibt keine Handys, keine DVD-Beileger, kein Fax. Wenn wir »PC« hören, denken wir noch, je nach Kontext, an »post Christum« oder an die »Parti communiste«. Es gibt keine Videotheken, keine Videorecorder, die uns Filme im Fernsehen aufzeichnen könnten. Es gibt, ja, eine »Cinémathèque de Paris«, allzufern; gibt die Karlsruher Kinos und das Erste Programm, das Zweite und, im Süden empfangbar, Südwest 3, etwas grobkörniger auch Hessen 3 als rettendes Viertes, ein Vorhof zum Paradies (denn Hessen 3 zeigte – neben dem NDR und Bayern 3, die wir nicht »bekommen« konnten – immer die besten Filme, manche sogar OmU: im Original mit Untertiteln).
Es war 1972, war der Tag vor dem Deutschabitur an meiner Karlsruher Schule.
Ein filmbegeisterter Freund hatte gehört, daß sie in Frankfurt, seit ein paar Wochen schon, Griffith-Filme zeigen. In einem »Theater-« oder »Kino-am-Turm«, so ähnlich hieß es. Er hatte ein Programmheft dabei und zeigte mir, der ich sprachlos dastand, was wir schon alles versäumt hatten.
»Intolerance« zum Beispiel, Griffiths Stummfilm-Monumentalwerk, in dem er vier Geschichten aus vier Jahrhunderten (eine babylonisch-gigantische, eine judäischerlöserische, eine französisch-bartholomäusnachtblutige und eine zeitgenössische, amerikanisch-vorm-Galgenretterische) zunächst ruhig-gemessen parallel zueinander erzählt, die vier Geschichten so motivisch-thematisch vergleichend, dann aber, aufs Ende zu, die oft durch Jahrtausende voneinander getrennten Geschichtsflüsse in immer näher und näher drängenden, schneller und schneller von Stromschnelle zu Stromschnelle springenden Sequenzen zu fassen wagt, ja sie, das Schnitt-Tempo ins Frenetische steigernd, im clash ineinanderschießen läßt, diese Bildflüsse, auf daß – in den Endsekunden vielleicht, in die sich alle Zeiten dunkel-rasend ergössen – aus solchem clash der Vier das gischtweiße Eine aufschiene, das unbeobachtbar-einige Einst: zeitlos stille Welt vor dem Anfang.
Das – und mehr – hatten wir alles versäumt, sagte der Freund.
Jene letzten Sekunden – und wie das alles endlich zusammenschösse in Eins – bildeten wir uns natürlich ein. Wir hatten ja noch nichts gesehen von Griffith, noch keinen einzigen Film. Nur ein paar Bilder in Filmgeschichtsbüchern, ein paar stills, Standphotos, oder die rare Vergrößerung eines Einzelbilds aus der Filmkopie selbst.
Aber Griffith, D.W. Griffith, war der Gott, der am Filmanfang stand. Der Stummfilmgott, der, so hatten wir gelesen, die »Grammatik« des Films erfand und »much of the vocabulary«, wie Orson Welles meinte, also den close-up, das cross-cutting, die Kamerafahrt, sogar die Kamerakran-Fahrt: den ersten boom – für »Intolerance« nämlich, wo er in einer einzigen Kamerabewegung …
… aus den Höhen der Luft langsam
hinabglitt auf exakt-beschriebener
Parabelbahn,
sich mit dem Kran den menschenbestandenen
streitwagenbefahrbaren Mauern Babylons nähernd,
die Belshazzars prunkvollen Palasthof umgaben,
immer näher und
tiefer hinab:
aufs Heer der babylonischen
Tempeltänzerinnen zu – die,
Hinabsteigende selbst,
eine der riesigen Treppen betanzen –
hinabgleitend weiter auf
diese Tänzerinnen zu,
auf Augenhöhe jetzt mit den
Hinabschreiterinnen
und weiter
weiter noch, näher
ganz nah: bis
die Kamera das Gesicht einer
Einzig-Einzelnen
erreicht
vor deren Augen, Nase und Mund
alles hält.
Wir würden’s nie sehen, sagte der Freund, hatten es ja versäumt, dort in Frankfurt, wo sie’s gezeigt hatten.
So Versäumtes war gleichsam auf immer verloren. Das Filmereignis war ja nicht nachholbar, noch nicht, oder höchst-ungewiß-ob. Wenn das Kino schloß, der Film abgesetzt war, blieb uns nichts.
Die eigenen Phantasien waren damals noch nicht gleichwertig, zählten noch nicht. Alles war »außen«, war oder wäre draußen zu sehen, in der Welt.
Welt des Kinos.
»Innen – Amerika – Nacht«, diese slugline, Kopfzeile eines imaginären Drehbuchs, war damals synonym mit dem Kino, dem Ort der Imagination. Es waren amerikanische Filme, für die wir uns begeisterten, amerikanische Bildpoeten. Und die Nacht in deren Amerika konnte uns nicht lange genug anhalten.
Die Dunkelheit des Kinos war noch Inbegriff eines Innen, in dem das Äußere an-zusehen war. Die Geborgenheit im Kinosessel war unser »Winkel von Hahrdt«, unsere Ulrichs-Höhle, rettende Nachthütte. Und wir: »bereit, an übrigem Orte« in ihr Nahrung zum Überleben zu finden.
Man muß wissen: D.W. Griffith, dem Stummfilmer, fühlten wir uns damals auch nahe, weil wir, in den ein, zwei Jahren vor dem Abitur, selbst Stummfilme zu drehen begonnen hatten: auf Normal-8, später auf Super-8. Griffith war uns also, was seine Erzähltechniken anging – das Erzählen in reinen Bildern –, ein Gleichzeitiger. Wir hatten uns die Ambition Hitchcocks zu eigen gemacht, von der er Truffaut anläßlich seiner Bewunderung für den Stummfilmer Friedrich Wilhem Murnau gesprochen hatte. Für uns galt daher – wie Murnau das in seinem 1927 in Hollywood gedrehten »Sunrise – A Song of Two Humans« demonstriert hatte –, den Bildablauf möglichst selten mit Zwischentiteln zu unterbrechen. Pure cinema war unser Ziel, ein Bildfolgen-Opus, das ausschließlich visuell sich entwickelte, ohne erklärend-verdeutlichend je an Buchstabenkrücken zu gehen.
»Griffith haben wir halt versäumt«, sagte mein Freund, »dafür morgen Deutschabitur.«
Morgen Deutschabitur. Und heute, in Frankfurt … – mein Finger war ganz ans Ende des wunderbaren Programmhefts jenes Turm-Kinos gerückt –, heute, am letzten Tag, würden abends zum Abschluß zwei letzte Griffith-Filme gezeigt:
Der berühmte, 1915 erschienene, »Birth of a Nation« – darin geht es um zwei zunächst befreundete Familien, die der amerikanische Bürgerkrieg in verfeindete Lager treibt. Und: ein weniger bekanntes Werk Griffiths, das 1924 erschienene »America«. Wieder geht es um zwei Familien, die – diesmal durch ihre Parteinnahme während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges – auseinandergerissen werden.
»Werden wir alles versäumen, haben wir alles versäumt«, sagte der Freund.
Ich will es kurz machen, auch weil ich nicht mehr weiß, wie wir – ein weiterer Freund stieß hinzu, der auch jammerte, als er dieses Programm sah –, wie im Detail wir dann zu dritt meine Mutter überzeugten, uns noch am selben Abend nach Frankfurt zu fahren.
Wir werden sie angesteckt haben, sag ich mir heute, mit unserer Begeisterung für Griffith-von-dem-wir-nochnichts-gesehen-aber-Höchstes-erwarteten, angesteckt haben mit dieser Verheißung: »D.W. Griffith, father of film«, einem frühen Filmgeschichtsbuch-Klischee letztlich.
Aber Griffith – D.W. Griffith löste sie ein, diese Verheißung.
Wir kamen einige Minuten zu spät zu »Birth of a Nation« – oder war’s »America« gewesen? Jedenfalls war es totenstill, als wir das Kino betraten, verhetzt und atemlos von irgendeinem Frankfurter Parkplatz her, im Dunkeln Platz nehmend. Ich sah nur wenige silhouettierte Köpfe, Stufen tiefer vor uns im Saal, den wir uns – Befürchtungen während der Autofahrt – schon randvoll geredet hatten.
Hier nun war viel zu bestaunen. Wir saßen vier, fünf gebannte Stunden lang, studierten, abgesehen von der Geschichte, vor allem auch Technik, den Einsatz bestimmter Bildmasken; das Sich-Zuschnüren der Irisblenden; auch die – wider alle Realität – aus einer Totalen herausgegriffene, gleichsam schattenumwucherte Lichtung, in die der Regisseur seine Protagonisten manchmal stellte, sie dem Auge empfehlend: des einen oder anderen so herausgestrichenen Merkmals halber; die Dissolves und die zögernd-flackernden, lange den Abschied atmenden Fade-outs; ebenso die wie blind noch erwachenden, dann aber alles-wie-zum-ersten-Mal-sehenden Fade-ins, die zögernden Aufblenden, zögernd im Auf oder Ab schlüssigen Dunkels oder aufschließend-öffnender Helle, zögernd, weil hier an Bilder gerührt wurde, an ein vergangenes Heiliges, das sich – so machte Griffith uns glauben – seinem Twentieth-Century-Kameraauge noch einmal geöffnet hatte. Die ganze vergangene Ära: ein zitternd-flackernder Wiedergänger.
Und mitten im Beobachten, Mitfühlen, Mitskizzieren – ich skizzierte-notierte damals (auch in den Pariser Kinos ein Jahr darauf) auf übers Knie gefalteten Zetteln, den Blick leinwandwärts, was mir an Kompositionen oder pieces of time (James Stewarts Wort für unvergeßliche Momente) bemerkenswert schien –, mitten in meinem wagnerisch-famulesken Lerneifer: hält es mich an.
Hört alles auf.
Ich kann nicht mehr mitschreiben. Sehe nur noch. Sehe:
Den jungen Mann auf der Leinwand, der
neben seinem Pferd steht
Abschied nimmt vom Haus
in dem seine Liebste wohnt.
Ich erzähle jetzt nur, was sich so und nicht anders in mir eingrub – in mir, der ich die Szene später immer wieder zurückrief, zurückrufen mußte. Erzähle nur, wie ich es sah, als ich sah:
Diesen jungen Mann,
Reitzügel in der Hand
neben seinem gesattelten Pferd stehend
kurz vor dem Abschied.
Es geht in den Krieg, den
Abschied für immer vielleicht.
Und er, der junge Mann
der hinaufblickt, sieht nicht
die Liebste dort. Weiß sie nur
hinter verhangenem Fenster.
Still steht er am Abschiedsabgrund
sein stilles Pferd bereit neben ihm.
Da fährt, wie er so steht und hinaufblickt
nein, da bricht
einfahrend durch den rechten Rand des
Filmbilds
eine Säule aus Licht
Bildflamme
zitterndes Säulenlicht, das
zieht her über
Baum und Haus
säulenhaft-hell und aufrecht
gleitet hin übers Fenster, zu dem er
hinaufblickt,
und fährt ihn dann an
fährt ihn feurig ein
in sein Feuer
bevor es weitergleißend
ihn läßt
in lohem Flug aus dem Bild
verschwindet.
Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Griffith hatte einen – was war das? –, einen »Effekt« erfunden, der das Vom-Gefühl-Durchstobenwerden eines Menschen visualisierte: die Lichtsäule, von der er durchfahren wird, die Bildflamme, die ihn für Augenblicke verzehrt.
Das Gefühl, das sich einbrennt – der Moment, da es sich einbrannte –, war damit festgehalten, war stumm auf uns, die wir es sahen, übergesprungen. Teil auch geworden von uns: auch uns hatte es angefahren, durchfahren. Wir sahen es kommen, gleichsam auf-uns-zu-kommen, wie wir sonst den Moment des Schauderns, noch vor dem Höhepunkt des Gefühls, auragleich wahrnehmen. Weil man da noch bewußt ist. Noch bewußt in der Sekunde, bevor das Gefühl durch-stoßend eindringt, völlig Besitz von uns nimmt, wir nicht mehr wissen, was uns gepackt hat. Solche Spur wird später erst lesbar an uns. Denn danach sind wir nicht mehr dieselben.
Das, sah ich, war alles hier aufgehoben, in diesem Moment, in dieser Bildflamme enthalten. Denn das Bild, dieses Erlebnis am Bild, war selbst Bildflamme. Hatte seine Spur hinterlassen an ihm auf der Leinwand, an mir, am Ort selbst.
Der Rest, später, verschwand mir. Wenn ich später an Griffith dachte, dann an die Flamme. Wenn an den Ort, jenes Kino, dann an den Flammen-Moment nur. Als hätte sich nachträglich, über die Jahre, meine Erinnerung an beide Filme verschattet, um den einen Moment herauszuarbeiten, diesen Geniestreich Griffiths.
Diese Idee:
Kein Schnitt aus der Totalen der Szene...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. AUSSEN – AMERIKA – TAG
  4. AUSSEN – AMERIKA – ABEND
  5. INNEN – AMERIKA – NACHT
  6. Inhalt
  7. Impressum