Augenblicke mit Jean Améry
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Augenblicke mit Jean Améry

Essays und Erinnerungen

  1. 270 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Augenblicke mit Jean Améry

Essays und Erinnerungen

Über dieses Buch

Dieses Buch bildet die Quintessenz aus 35 Jahren Beschäftigung Kestings mit Leben und Werk Jean Amérys.Jean Amérys Auschwitz-Essay »Jenseits von Schuld und Sühne" gilt als Schlüsselwerk über den Zivilisationsbruch des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war nicht das erste Buch des Autors, aber dasjenige, das ihn schlagartig berühmt machte. Sein Nachdenken über die Folter und deren Nachwirken ist bis heute maßgeblich und in seiner Aktualität bedrängend, es wird zitiert, wann immer über dieses Thema gesprochen wird. Neben Essays hat Améry auch ein erzählerisches Werk geschaffen, etwa sein letztes Buch »Charles Bovary, Landarzt", das heute in seinem Rang vielleicht stärker erkannt ist als zu seinen Lebzeiten.Hanjo Kesting beschäftigt sich seit 35 Jahren in zahlreichen Aufsätzen, Vorträgen und Radiobeiträgen immer wieder mit dem Werk und der Persönlichkeit des Essayisten und Romanciers Jean Améry. Seit 1977 standen beide im Briefwechsel und pflegten bis zu Amérys Freitod im Oktober 1978 ein freundschaftliches Verhältnis. In diesem Band versammelt Kesting acht grundlegende Aufsätze über den Essayisten, den Erzähler, den Denker. Es sind literaturkritische Texte über einzelne Werke, über den schriftstellerischen Weg Amérys, über die Beziehung von Améry zu Jean Paul Sartre, und es sind sehr persönliche Erinnerungen und Versuche, die Persönlichkeit in all ihrem Facettenreichtum und ihrer Tragik auszuleuchten.

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Information

Briefwechsel

1. Hanjo Kesting an Jean Améry, Hannover, 18. April 1977

Lieber Herr Améry,
beigeschlossen erhalten Sie meinen Brief an die Herren Oxenius und Schaeble über unsere Co-Produktions-Vereinbarung. Ich hoffe, daß ich das, was wir in Brüssel besprochen haben, hier sinngemäß wiedergegeben habe.
Da nun auch in der Zeitung zu lesen war, daß Sie den Lessing-Preis für 1977 erhalten, fühle ich mich erst jetzt, im nachhinein, in der Hermes-Rolle richtig wohl. Nochmals herzlichen Glückwunsch und meine besten Grüße, auch an Ihre Frau,
Ihr Hanjo Kesting

2. Jean Améry an Hanjo Kesting, Brüssel,
26. April 1977

Lieber Herr Kesting:
Verzeihen Sie bitte, daß ich Ihre Zeilen vom 18. ds. erst heute beantworte. Ich war hauptberuflich mit einer schweren Grippe beschäftigt, der sich aus lauter Solidarität auch meine Frau anschloß.
Ich danke Ihnen doppelt: erstens für den Glückwunsch, den Sie mir ja als geflügelter Bote schon persönlich aussprachen, dann auch für die unsere Vereinbarung betreffenden Briefe an die Herren Oxenius und Schäble.
Meine Krankheit hat mich leider durch Wochen meinem pauvre Charles ein bißchen entfremdet. Aber ich werde ihn schon wiederfinden, zumal ich auch noch auf sehr erhellende Entwürfe Flauberts stieß, in denen er übrigens merkwürdigerweise dem armen Mann gerechter wurde als in der endgültigen Fassung.
Für heute bin ich mit herzlichen Grüßen, denen meine Frau sich anschließt
Ihr: Jean Améry

3. Jean Améry an Hanjo Kesting, Brüssel, 19. 7. 77

Lieber Hanjo Kesting:
Hier nur die kurze Nachricht, daß ich meinen Charles Bovary zu einem guten (wie guten? Man wird sehen …) Ende gebracht habe. Derzeit wird das Manuskript getippt. Sie werden es unserer Vereinbarung gemäß bis Mitte Oktober erhalten. Es hat noch kein Mensch bislang die Arbeit gesehen und ich bin nicht wenig gespannt, die ersten Urteile kluger Leute zu hören.
Werden Sie auf der Buchmesse sein? Wenn ja: ich bin über den Klett-Stand zu erreichen.
Herzlichst,
Ihr J.A.

4. Jean Améry an Hanjo Kesting, Brüssel, 7. 10. 77

Lieber Herr Kesting:
Zuvor dies: Eben lese ich in der Zeit höchst Ärgerliches. Wenn Ihnen irgendeine Solidaritäts-Erklärung von meiner Seite aus von Nutzen sein kann – ich bin jederzeit auf dem Plan; aber gewiß, hoffentlich, haben Sie gewichtigere Namen in die Waagschale zu werfen. Vielleicht sehen wir einander auch auf der Buchmesse. Ich würde mich freuen. Erreichbar bin ich dort über den Klett-Cotta-Stand während der ganzen Messe-Dauer.
Mit gleicher Post geht als imprimé mein Charles Bovary an Sie ab. Ich bin nicht wenig begierig, Ihr Urteil zu hören, zumal bislang noch niemand das Ms. zu Gesicht bekam. – Die Technik werden Sie alsogleich einsehen: Ich habe zum Teil (sehr frei) montiert, zum anderen paraphrasiert. Schließlich habe ich dem Meister ganz selbstherrlich seine Gestalten, namentlich Charles B., aus der Hand genommen und umgeformt: sie gehören ja heute nicht mehr seinem, Flauberts, Schatten, sondern der Welt – und also auch mir. – Die Schwierigkeiten waren erheblich. Vor allem mußte ich für Charles eine Sprache erfinden, die sowohl »realistisch« rechtfertigbar wie literarisch möglich ist. Unausweichlich wurde mir der Bursche auch auf dem Wege seiner Ichfindung immer klüger und komplexer. Enfin, vous allez voir!
Die Kenntnis von Madame Bovary setzte ich prinzipiell voraus (für das Buch). Für die Funksendung kann ich unschwer eine knappe Einführung verfassen, in der ich die bare story nacherzähle. Für den Augenblick ist mir nur wichtig, daß Sie rechtzeitig in den Besitz des Textes gelangen.
Bis zum 22. Okt. werde ich von Brüssel abwesend sein; Sängerfahrten durchs tiefste Deutschland, die mein ambitiöser junger Verleger Michael Klett mir einbrockte. Danach bin ich in Brüssel erreichbar, so daß wir den Termin der Produktion vereinbaren können.
Bis dahin bin ich mit herzlichen Grüßen und in der Hoffnung, Sie vielleicht in Fkft. zu sehen,
Ihr Jean Améry
NS. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen mein Gekritzel zumute. Ich bin im Augenblick ohne rechte Sekretariats-Hilfe, da meine Frau (so wie ich selber es bin) sehr überlastet ist.

5. Hanjo Kesting an Jean Améry, Hannover, den 27. 11. 77

Lieber Jean Améry,
es fällt mir nicht leicht, Sie um Entschuldigung zu bitten, daß ich Sie so lange auf diesen Brief habe warten lassen. Was nach Erhalt Ihres großen Manuskript-Konvoluts nach Tagen hätte zählen sollen, zählt nun nach Wochen. Bei so gewichtigem Anlaß wie Charles Bovary, Landarzt wäre nichts anderes geboten gewesen als direkte und unverzügliche Antwort. Ich bin Ihnen also eine Erklärung schuldig, und ich suche sie in nichts anderem als in der fatalité.
Nicht zu versichern brauche ich, daß ich nicht müßig gewesen bin, das Manuskript war ständig bei mir, ich habe es inzwischen mehrfach, genau: dreimal gelesen. Wenn ich zunächst mit der Antwort zögerte, so allein deshalb, weil ich glaubte, Ihnen ausführlich schreiben zu müssen, in notwendiger Ruhe und mit ausreichender Zeit. Sie fehlte mir in den hektischen Oktoberwochen, als ich nach dem Angriff des Herrn Stoltenberg einige unangenehme Diskussionen im Sender durchzustehen hatte – weswegen ich im übrigen nicht zur Buchmesse kam, wie Ihnen dort wohl Gisela Lindemann sagte. Dank für Ihr spontanes Anerbieten von Beistand, den ich allerdings nicht in Anspruch zu nehmen brauchte. Alles ist nämlich, wie man es nennen kann, »glimpflich« ausgegangen, wobei freilich das Wort schon anzeigt, daß es nicht völlig befriedigend war. Denn der amtierende Intendant des NDR, Herr Schwarzkopf, hat sich nicht auf der ganzen Linie hinter mich gestellt, vielmehr einige Passagen meiner von Stoltenberg kritisierten Sendung »mißbilligt« und dies auch Herrn Stoltenberg mitgeteilt. Das hat für mich zwar keine unmittelbaren Folgen, ich fühle mich dadurch auch nicht irritiert oder gar eingeschüchtert. Doch hat es mich schon betroffen gemacht, daß der Intendant sich nicht vor mich gestellt hat in einer Angelegenheit, in der durchaus die Möglichkeit dazu bestanden hätte.
Diese Sache war noch nicht ausgestanden, als mich die fatalité in anderer Weise traf. Es ging Schlag auf Schlag. Nach sechzehn Monaten im Krankenhaus starb meine Mutter an jenem heimtückischen Krebs, der sie in den letzten Wochen schrecklich hat leiden lassen. Zweimal riefen mich die Ärzte in diesen Wochen nach Duisburg an ihr Krankenbett, weil sie das Ende nahe glaubten. Viele Tage habe ich bei ihr gesessen, zuletzt litt sie so sehr, daß ich nur noch wünschen konnte, sie erlöst zu sehen. Als ich gerade nach dem zweiten Besuch zurück in Hannover war, kam die Nachricht von ihrem Tode. An dem Tag, an dem meine Mutter beerdigt wurde, bekam ich dann plötzlich heftige Schmerzen, die ich zunächst für eine Folge der allgemeinen Anspannung hielt. Doch am nächsten Tag mußte ich, noch in Duisburg, ins Krankenhaus, um den Blinddarm entfernen zu lassen. Am Tag nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus starb dann, ebenfalls in Duisburg, mein Großvater, Vater meiner Mutter, womit nun für mich Vaterlosen endgültig alle Verbindungen nach hinten, in die Vergangenheit, abgeschnitten sind.
Sie werden sich vorstellen können, was dies alles bedeutete: mit meinem Bruder hatte ich die Beerdigungen auszurichten, Wohnungen aufzulösen mit den tausend Verbindlichkeiten, die dabei entstehen. Ich hatte kaum Zeit, an etwas anderes zu denken, fühlte mich dazu auch, physisch wie psychisch, außerstande. Jetzt bin ich wieder in Hannover, aber in einem immer noch eigentümlich wirklichkeitsentrückten Zustand, in dem zu arbeiten und mich zu konzentrieren mir schwer fällt – ein wenig bin ich aus der Façon geraten. Auch bin ich noch nicht in meinem Büro (darum schreibe ich mit geborgter, nicht ganz funktionierender Schreibmaschine, die eigene steht in einem Speditionswagen noch in Duisburg), der Arzt ermahnt mich zu noch vorsichtiger Arbeitsweise – ich kann nur hoffen, daß Sie meinen Brief ohne Groll wegen der Verspätung entgegennehmen, ich danke Ihnen jedenfalls für die Geduld, mit der Sie, ohne zu mahnen, das Ausbleiben einer schnellen Antwort hingenommen haben.
Doch nun zu Charles Bovary, dem Unglücklichen, dem Sie ein besseres Schicksal zumindest in den Augen der Nachwelt zugedacht haben. Ich habe das Manuskript, wie gesagt, dreimal gelesen, beim ersten Mal verschlingend, beim zweiten Mal mit den Augen des Redakteurs, der daraus zwei Sendungen machen will (allein dieser Durchgang hat mir Kopfzerbrechen bereitet und tut dies jetzt noch), nun, am Wochenende, zum dritten Mal mit einiger zeitlicher Distanz zur ersten und zweiten Lektüre und darum mit neuer Überraschung und Erkenntnis. Nützlich war, daß auch meine letzte Lektüre des Flaubert-Romans erst einige Wochen zurückliegt – so konnte ich die Texte, den Roman Flauberts und Ihren roman d’essay, gleichsam mit stillschweigendem Bezug aufeinander lesen. Und so sehr mich bei der Flaubert-Lektüre die Gestalt der Emma Bovary gefangen nahm (der Leser wird in der Tat genötigt, sich in sie zu verlieben und die Welt nur mit ihren Augen zu sehen), so sehr überzeugten mich primavista Idee und Entwurf Ihres Unternehmens, dem armen Charles wenigstens nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihn – neben Emma – zur zweiten tragischen Heldenfigur im bürgerlichen Trauerspiel Madame Bovary zu machen. In der Durchführung dieser Idee ist es Ihnen gelungen, die Klippe zu umschiffen, die ich anfänglich, nach der Lektüre des Exposés, als die heikelste ansah: wie es nämlich möglich sei, Charles zu erhöhen, ohne Emma gleichzeitig sinken zu lassen; wie es möglich sei, Charles mit Liebe und dem ihm gebührenden Mitgefühl anzuschauen, ohne ihr die Teilnahme zu entziehen und ohne ihr ihre Geringschätzung Charles’ zu verübeln; mit einem Wort: ihn tragisch werden zu lassen, ohne ihr die Tragik zu nehmen.
An Emma Bovary, so wie Flaubert sie uns gibt, wird bei Ihnen in der Tat nicht gerührt. Vor allem bleibt sie ganz und gar (und sie wird es zunehmend) das Objekt von Charles’ Liebe, sie bleibt auf diese Weise groß, und er wird groß, Charles, der einzige, der der bedingungslosen Passionsbereitschaft Emmas gewachsen ist. Nicht Léon, nicht Rodolphe, Charles ist ihr abgründiger Liebhaber.
Sie versuchen, die Potentialität dieser Figur anzudeuten, ja überhaupt erst wahrzunehmen. Aber nicht nur das, auch die neuerliche Lektüre des Romans selbst hat mich davon überzeugt, den ich freilich nun mit anderen Augen las. (Wobei ich mich erinnere, ähnliche Wiedergutmachungswünsche, Rettungsabsichten, schon einer anderen Figur gegenüber gehegt zu haben, die ihr Erfinder allerdings nicht so schmählich um jede bessere Wirklichkeit betrügt: Fontanes Instetten in Effi Briest. Dieser imponiert indes weniger als bürgerliches Subjekt, vielmehr als Repräsentant preußischer Moralität.)
Um zu Flaubert zurückzukehren: er macht tatsächlich nicht die geringste Anstrengung, Charles gerecht zu werden, er sieht ihn nur mit den Augen Emmas, zeigt ihn uns als tölpelhaft, töricht, ahnungslos, vertrauensselig, gutmütig und schwächlich, seine Güte und Liebe sind nur angedeutet, und auch dies lediglich in Zusammenhängen, die weniger schmeichelhaft als ridicule sind und die auch diese Eigenschaften als fragwürdig erscheinen lassen.
Doch warum schreibe ich Ihnen das? Ich sage Ihnen damit nichts Neues, Sie haben es vorher und schärfer gesehen. Vielleicht will ich Ihnen damit andeuten, wie sehr mich die Idee der Ehrenrettung Charles’ gefangen nimmt, wie sehr mich die spekulative und dann höchst konkret an einem Menschen erprobte Beschäftigung mit der Frage reizt, ob die Moral Emmas, die bedingungslos und grenzüberschreitend ist, und die Moral Charles’, die nicht weniger abgründig ist, aber sich erst in liebendem Verzicht erfüllt, mehr sein können als bloße Gegensätze, von denen schließlich noch, unter dem kalten Auge Flauberts, der eine durch den anderen der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
Ich finde glänzend gelungen, wie Charles bei Ihnen menschlichen Umriß bekommt, wie hinter seiner passion der Abgrund sichtbar wird, wie Sie das Abgründige zu Ende denken in den Grenzbereichen von Rachelust, Mord, Nekrophilie und latenter Homosexualität (denn damit hat zu tun, wenn auch nicht primär, daß Charles sexuell erwacht bei der Lektüre der Briefe von Léon und Rodolphe). Glänzend, geradezu unwiderlegbar ist der Versuch, Charles gegen Flaubert auszuspielen. Der Revisionsprozeß zugunsten Charles Bovarys wird gewonnen. Der Versuch, Literatur zu rechtfertigen, ist verloren. (Das ist freilich, im Exposé, ein ungeheuerlicher Satz, der mir zu schaffen macht. Gilt er für alle Literatur? Mir leuchtet er ein für den Ästheten Flaubert, nicht für den Realisten – doch darüber nachher.) Am überzeugendsten wird der Revisionsprozeß jedoch nach meinem Eindruck nicht in den beiden Schlußkapiteln gewonnen – trotz der unerhört starken und dichten letzten acht Seiten –, sondern in dem großartigen essayistischen Kapitel (III.) über die Wirklichkeit Gustave Flauberts.
Lassen Sie mich auch sagen, daß ich mit einem Problem, das Ihre Arbeit aufwirft, noch nicht zurande gekommen bin. Es ist dies allerdings ein prinzipielles Problem, bei dem ich dazu neige, für Flaubert Partei zu ergreifen, ihn, den realistischen Erzähler, in Schutz zu nehmen gegen Ihre ausgleichende Gerechtigkeit, die ich letztlich als pathetisch und ironisch zugleich empfinde. Das will erklärt sein (wobei die Schwierigkeit darin liegt, daß Sie alle Fragen, um die es mir geht, im Text ja nicht etwa unbehandelt lassen, sondern selber stellen und auch beantworten. Bei einigen Fragen bleibt ein Rest, der sich schwerlich auflösen läßt, doch der nicht unerwähnt bleiben sollte.) Ich sagte: pathetisch und ironisch. Pathetisch (ich könnte auch sagen: emphatisch), weil Sie Charles gegenüber gerecht sein wollen. Ironisch: weil Flauberts Ungerechtigkeit vielleicht die der Wirklichkeit selber ist und weil Ihr Versuch, sie zu korrigieren, vielleicht der relativierenden, idealistischen, ironischen Haltung des menschlichen Bewußtseins entspringt. Die These (deren ich keineswegs ganz sicher bin) lautet, kurzgefaßt, so: Flaubert ist ungerecht gegenüber Charles, aber diese Ungerechtigkeit ist in einem anderen Sinn gerecht. Erlauben Sie dazu noch einige Worte.
Sie schreiben auf S. 95 in einer m. E. zentralen Passage: »Der Dichter hat seinem Geschöpf nicht jene existentielle Freiheit zuge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorwort
  5. Der Tod des Geistes als Person. Erinnerung an Jean Améry
  6. Nirgends zuhause. Jean Amérys »Örtlichkeiten«
  7. Schickung und freie Wahl. Jean Améry und Jean-Paul Sartre
  8. Furor reflectionis. Jean Améry als Erzähler
  9. Der Idiot des Romans »Charles Bovary, Landarzt«
  10. »… das durchdringende Gefühl der Luftexistenz …«. Beim Lesen von Amérys Briefen
  11. Augenblicke mit Jean Améry. Versuch einer Erinnerung
  12. An den Grenzen des Geistes. Eine O-Ton-Collage Jean Améry zum 100. Geburtstag
  13. Briefwechsel
  14. Editorische Notiz
  15. Bibliographie der Arbeiten mit und über Jean Améry
  16. Nachweise