Schermanns Augen
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Schermanns Augen

Roman

  1. 820 Seiten
  2. German
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Schermanns Augen

Roman

Über dieses Buch

Ein Gulag-Roman mit deutschen und österreichischen Protagonisten. Eine Rückschau ins Wien der zwanziger Jahre. Ein Roman, der ins Zentrum des 20. Jahrhunderts führt.Eben noch war Rafael Schermann in der Wiener Caféhaus-Szene ein bunter Hund, bekannt mit Gott und der Welt von Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Magnus Hirschfeld bis zu Else Lasker-Schüler, Herwarth Walden, Ehrenstein, Döblin, Bruckner, Eisenstein, Stanislawski, Piscator… Selbst der scharfzüngige Karl Kraus erhoffte sich von Schermanns graphologischer Begabung beim Deuten von Briefhandschriften entscheidende Hilfe in seinem Liebeswerben um Sidonie Nádherný…Und jetzt landet dieser schillernde Mann völlig abgerissen und todkrank als Gefangener am Ende der Welt, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas an der Bahntrasse nach Workuta im Lager Artek. Sofort zieht einer, der aus Handschriften Vorhersagen ableiten kann, außerordentliches Interesse auf sich, ob nun das des Lagerkommandanten (selbstder kann nicht sicher sein, ob er morgen Chef eines größeren Lagers sein oder man ihn erschießen wird) oder das seiner Mitgefangenen, "achthundert Männer, zweihundert Frauen. Eine echte sowjetische Großfamilie… jeder weiß alles vom anderen und wünscht ihm die Krätze an den Hals." Und dann behauptet Schermann noch, kein Russisch zu können, und beansprucht einen Übersetzer. Steffen Mensching stellt ihm den jungen deutschen Kommunisten Otto Haferkorn an die Seite. Das ungleiche Paar, mal Herr und Knecht, mal Don Quijote und Sancho Pansa, kämpft ums Überleben unter brutalen, absurden Verhältnissen im mörderischen Räderwerk des zwanzigsten Jahrhunderts.Zwölf Jahre hat Steffen Mensching an seinem opus magnum gearbeitet, es ist ein großer Wurf geworden.

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Information

I SCHNEE

Safranowka, ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta gelegen. Bis 1935 ein verschlafenes Fünfzig-Seelen-Dorf, windschiefe Hütten und eine baufällige, als Getreidespeicher genutzte Kirche. Dann übernahm das NKWD die Siedlung. Fünf Jahre später lebten hier knapp tausend Häftlinge, Frauen und Männer. Schermann war jetzt einer von ihnen. Er wurde bei einem Halt auf freier Strecke aus dem Transport geholt. Zwei Sträflinge, die zum Beräumen der Gleise eingeteilt waren, schleppten den Ohnmächtigen in Begleitung eines Postens zum Schlitten des Depotverwalters Trufulski. Der lieferte ihn in der Krankenbaracke ab. Ein Greis. Obwohl erst sechsundsechzig. Nicht allein die unbegründete Verlegung, auch der Aufenthalt im Brygidki-Gefängnis, die Odyssee im Viehwagen, Lemberg, Kiew, Charkow, Gorki, Hunger, Durst und Kälte, die Arbeit im Sägewerk der Sondersiedlung Fediakowo hatten Spuren hinterlassen. Erschöpfungsschlaf. Schnarchen. Ein Spuckefaden hing aus seinem Mundwinkel in den Stoppelbart. Pritschen dicht an dicht. Neben dem Alten ein Deutscher, Häftlings-Nummer 80824, Otto Haferkorn, geboren am 3. Februar 1916 in Berlin-Lichtenberg, Patient wider Willen, der es geschafft hatte, mit dem Verdacht auf Pellagra, den Skorbut des Nordens, drei Tage lang die Arbeit im Forst zu schwänzen. Ein 10-Ender, verurteilt nach Paragraf 58 Absatz 6, 8 und 10. Spionage, Terror und konterrevolutionäre Agitation. Bei guter Führung käme er 1949 in Freiheit. Schummriges Licht fiel durch zwei winzige schneeverwehte Fenster. Die Petroleumlampe blakte. Im Kabuff des Feldschers Nikolai Petrowitsch Petrenkow hing eine Glühbirne von der Decke. Von dort drang Geklapper. Was werkelte der Kerl in seiner Mönchszelle herum? Wärmt sich vermutlich die Suppe auf, dachte der Deutsche. An Balanda, der salzlosen Suppe, herrschte bei ihm kein Mangel. Die Schwerkranken waren nicht mehr in der Lage, Nahrung zu fassen. Ihre Portionen bildeten Koljas Zusatzverpflegung. Der Gehilfe von Dr. Ginsburg war nach Verlegung des Arztes in die Gebietshauptstadt zum Leiter des Lazaretts ernannt worden. Ein neuer Doktor sollte ihn ablösen. Aber in den Transporten, die das Transitlager Kotlas erreichten, fand sich kein Mediziner, oder, was eher zutraf, andere Kommandanten setzten ihre Ansprüche durch und sicherten sich die begehrten Kader. Die Übergangslösung währte inzwischen ein halbes Jahr. Seitdem war Petrenkows Bäuchlein rund und runder geworden. Die Wanze lebt gefährlich, meinte Zederbaum, der Diplomat, passt der Quacksalber nicht auf, nehmen ihn seine Kameraden beim nächsten Fluchtversuch als Bytschok mit, als Kälbchen, das man sich ans Bein hängt, bis es für die Schlachtung reif ist. Je fetter, desto besser. Der Neuzugang keuchte. Vor dem Tod kriegt man immer schlecht Luft. Die Russen besaßen für die ungemütlichsten Augenblicke trostreiche Sprichwörter. Haferkorn filzte den Alten. Ohne große Hoffnung, in seinen Taschen Brauchbares zu finden. Der Mann war durch zu viele neugierige Hände gegangen. Trug einen zivilen Mantel, keine Häftlingskluft, der Kragen ehemals pelzbesetzt, Reste fühlte man am Revers, Auslandsware, für den russischen Winter zu dünn. Also war der Neue im Frühling oder Herbst verhaftet worden. In der Innentasche stieß Otto auf einen länglichen Gegenstand, den viele Insassen auch im sowjetischen Alltag nie besessen hatten, obwohl das Leben, wie Genosse Stalin verkündet hatte, schöner und fröhlicher geworden war, eine Zahnbürste. Echte Borsten. Der Holzgriff mit blassgoldener Gravur. Grand Hotel Šroubek, Praha. Botschaft aus einer anderen Welt. Der Deutsche zitterte. Gier und Neugier. Er vergaß jede Vorsicht und leerte die prall gefüllte Tasche über dem Herzen des Fremden: ein Portemonnaie (Leder, schwarz, mit Druckknopf), darin – unglaublich! – Geld, Rubel, ein 100-Złoty-Schein (bunter Lappen, Baum, Wanderer, Blondine mit Füllhorn), deutsche, französische, dänische Münzen (mit Loch und ohne), Visitenkarten, ein Etui mit Nickelbrille, das ellipsenförmige Glas gesprungen, Adressbuch aus Leder, Kopierstift, blau, mit abgebrochener Spitze. Im Einband eine Nähnadel mit weißem Faden. Nadeln waren verboten – und begehrt. Man konnte damit nicht nur Fufaikas und Hosen flicken, die Urki brauchten sie zum Tätowieren. Zeichnungen auf der Haut waren die Orden der Kriminellen. Zwischen den mit Namenslisten gefüllten Seiten der Kladde lagen gefaltete Zeitungsausschnitte. Ottos geschultes Auge kannte die Typen, Grotesk, Antiqua, ausländische Zeitungen, französisch, polnisch, englisch, ein Blatt ungarisch. Jeder Gegenstand eine Sensation. Der Deutsche hatte Druckerzeugnisse dieser Art seit einer gefühlten Ewigkeit – vierhundert Tage lang – nicht mehr in der Hand gehalten, der Besitz solcher Papierchen war schon im Zivilleben gefährlich, im Lager konnte es den Kopf kosten. Andererseits waren die Fetzen als Tauschmasse von unschätzbarem Wert: Brot, Tabak, Kascha bekam man dafür. Raucher zahlten gut. Als Otto die Beute unter der Pferdedecke versteckte, rührte sich der Greis, drehte den Kopf, öffnete die Augen. Otto hielt dem Blick stand. Würde alles leugnen. Gibt’s Mehlspeis? Haferkorn antwortete wie gewohnt Russisch. Was heißt das, Mehlspeis? Wieso spricht er deutsch? Der Unbekannte wiederholte den Satz, gähnte und schlief ein.
Kein Posten betrat die Sanitätsbaracke freiwillig. Aber Kosinzew wollte den Neuzugang sehen. Jetzt. Sofort. Die Staatsmacht persönlich. Mit blitzblanken Stiefeln. Kolja hüpfte um den Hauptmann herum. Eine räudige Krähe. Beugte den Kopf, flüsterte irgendwas in sein Ohr. Otto schnappte das Wort Simulant auf und fühlte sich augenblicklich ertappt. Die beiden Männer näherten sich der Pritsche. Der Häftling ist schwach, gebrechlich, aber nicht ernsthaft krank, plapperte der Sanitäter, wenn Sie mich fragen, Bürger Kommandant, ich weiß nicht, was er im Lazarett soll? Der Hauptmann antwortete mit Fistelstimme, scharf: Das zu beurteilen, sei er, Kolja, kaum der richtige Mann. Wenn der Transportführer so entschied, gab es Gründe. Zu Befehl. Selbstverständlich. Damit wir uns recht verstehen, Artek bietet ein Feld vielfältiger Aufgaben. Brigade 5 kann kaum erwarten, dich wieder zu begrüßen. Petrenkow duckte sich weg wie ein getretener Hund. Heute Abend will ich diesen Gefangenen ansprechbar vorfinden. Der Lagerleiter stieß mit der Stiefelspitze gegen die Tür und humpelte in die Kälte. Krüppel, verdammter. Petrenkow spuckte durch die Zahnlücke. Die Drohung hatte gesessen. Sollte er in die Fünfte zurückmüssen, wäre er geliefert. Er hatte sich aus dem Klub der Urki verabschiedet, als er ins Lazarett wechselte. Endgültig. Wer zur Administration überlief, wurde zur Nutte, ein Verräter oder Fioletnik, so genannt, weil Mützendeckel und Kragenspiegel der NKWD-Offiziere veilchenblau waren. Uspechin, der Pate, geboren als Boris Jegorowitsch Spechow, würde ihm höchstpersönlich einen Besenstiel in den Arsch schieben, so tief, dass er zum Maul wieder rauskam. Der Sanitäter brauchte einen Schluck. Im Medikamentenschrank wartete reiner Spiritus. Nicht der geringste Vorteil, den der Scheißposten bot. Was glotzt du, Pisser? Desinfektion. Otto war klug beraten, den Mund zu halten. Die Entscheidung, wer wie lange in der Krankenbaracke blieb, lag allein im Ermessen des Feldschers. Kolja sah zwar aus wie ein Depp und war mehr oder weniger Analphabet, aber in Artek herrschte er über Leben und Tod. Wenn Otto für gesund erklärt wurde, zog er morgen früh wieder in die Taiga. Weshalb er bleiben durfte, war ihm ohnehin ein Rätsel. Der Sanitäter benötigte eine Hilfskraft, weil er zu feige war, die infektiösen Fälle selbst zu versorgen, Burjew, den Esten und die sieche Lehrerin. Aber auch für dieses Himmelfahrtskommando fände er spielend Ersatz. Also, Schnauze halten, Schwäche zeigen. Nachdenken. Zum Beispiel darüber, warum sich der Hauptmann um den Gefangenen bemüht. Das stank doch. Und damit war nicht der Geruch in der Baracke gemeint: Schweiß, Pisse, Eiter, verdreckte Wäsche, Ofenrauch, durchnässte Strohsäcke. Mit Timofej Nikititsch Kosinzew war ein ungewöhnlicher Duft dazugekommen: Trojnoj Nummer 3. Richard Grewe, der Parteiorganisator der Deutschen Zentral-Zeitung, hatte das Parfüm ebenso verschwenderisch benutzt wie der Lagerleiter. Das Kölnisch Wasser erinnerte an den Geruch, der aus Schusterläden aufstieg. Allerdings musste in der Werkstatt zuvor ein Liter Lavendelöl verschüttet worden sein. Der Duft passte nicht in den Hohen Norden, zeigte aber allen Insassen in Artek an, wenn der Kommandant eine Inspektion unternommen hatte. Sein Besuch im Lazarett brach mit der Norm. Da war Vorsicht geboten. Kaum hatte sich Kolja in sein Refugium zurückgezogen, als der Deutsche die Schätze des Alten ergriff und unter der Decke seines Nachbarn zur Linken verstaute. Der Basmatsch, der dort schnaufend nach Atem rang, war bereits ein Fitil, ein Docht, sein Lebenslicht am Erlöschen. Nach der Diagnose des amtierenden Lazarett-Chefs litt der Kasache mindestens an fünf Krankheiten: Pellagra, Schneeblindheit, Ruhr, Erfrierungen, Lungenentzündung. Er starb so ausdauernd wie eine Katze. Ihn würde niemand durchsuchen. Fand man den Kram durch Zufall doch, konnte sich Otto zurücklehnen. Ihm war nichts nachzuweisen. Und wenn schon, Kameradendiebstahl war kein Delikt. Geklaut wurde überall und ständig. Die Urki, die sogenannten Volksfreunde, lebten von Raub und Hehlerei. Eiferten ihnen die Politischen nach, kehrten sie gewissermaßen zu ihren proletarischen Wurzeln zurück. Ein Erziehungserfolg. Diebe gehörten zum Volk. Volksfeinde, Leute wie Otto, wollten es vernichten.
Des Deutschen mangelnde Neugier wurmte Kolja. Er wollte ausgefragt werden. Um dann die Antwort verweigern zu können. Otto wusste, zeigte er dem Sanitäter lange genug die kalte Schulter, würde der irgendwann von selbst lossprudeln. Zwar war er ein widerlicher 58er, Ungeziefer auf zwei Beinen, kapitalistischer Spion, andererseits der einzige Insasse der Baracke, mit dem man schwatzen, lästern, vor dem man aufschneiden konnte. Also, hör zu. Der Alte ist Pole und kommt, wie ich aus gut unterrichteter Quelle weiß, aus einem Speziallager im Solwytschegodsker Rayon, der Ort heißt Fediakowo, sechzig Kilometer flussabwärts, aber ursprünglich aus dem im Herbst befreiten Gebiet der Westukraine. Kolja plapperte die Verlautbarung der Nachrichten-Agentur TASS artig nach, kam sich dabei amtswichtig vor, zog die Augenbrauen nach oben. Ich weiß mehr, sollte das heißen. Ein Pole, na und? Die kamen zu Tausenden. Wie im Frühjahr die Zugvögel. Naturgewalt. Schicksal. Im Februar, als Otto an der Rampe Bahnschwellen auf Güterwagen verladen musste, hatten die ersten Transporte die Station passiert. Fracht für Workuta. Überfüllte Stolypin-Wagen. Armeeoffiziere niederer Ränge, Notare, Polizeibeamte, Richter. Vertreter eines ausgelöschten Staates. Heruntergekommene Existenzen. Von niemandem geschätzt. Nur ihre Kleider waren begehrt. Europäische Mode. Den Beamten folgte das Fußvolk, der Anhang in Sippenhaft, Kinder, Frauen mit apathischen, wachsbleichen Säuglingen, Greise, die nicht aussahen, als hätten sie noch eine weite Reise vor sich. Obwohl die Begleitmannschaft beim Halt die Gleise absicherte, gelang es Otto, Zederbaum und Nikulin, Schnee durch die Gitterfenster zu werfen. Surow, der Brigadier, scheuchte sie von den Wagen weg. Jeglicher Kontakt mit den Deportierten sei verboten. Sie schrien ihn an. Ob er das Elend schon vergessen habe? Nicht die Enge, der Gestank, die Hitze oder Kälte (je nachdem, wann man verschickt wurde) noch das erbärmliche Essen hatte die Reise in den Norden zur Tortur werden lassen. Das Schlimmste war der Durst. Tücher wurden durch die Gitter gedrückt, damit sie, im Fahrtwind flatternd, Regentropfen auffingen. Mit wie viel Einfallsreichtum bemühte man sich um dreckig-schwarze Eiszapfen, die am Waggondach wuchsen. Brachen sie ab, ohne dass man sie auffangen konnte, war die Verzweiflung groß. Gebildete Männer tranken ihren eigenen Urin und heulten wie Kinder, wenn ihnen die Pisse durch die Finger floss und im Stroh landete. Molodez. Prachtkerl. Der Feldscher tätschelte den schorfigen Schädel des Alten. Ein Glückspilz. Kippte um, gerade als der Leutnant die Waggons kontrollierte. Wenn die Strecke verweht war, rückten die Weiberbrigaden an und mussten das Gleis räumen. Der Zug stand abfahrbereit. Zeit für einen Zählappell. Die Gefangenen knieten vor den Viehwagen im Schnee. Die Eskorte ließ Wasser verteilen, die Abortkübel leeren, die Leichen auf die Böschung werfen. Kam die Frühlingssonne, taute der Boden, würde sie irgendwer beerdigen. Die Kolonnen, die in den Wald zogen, nahmen bei Schneefall den sicheren Weg über die Schwellen. Bei solcher Gelegenheit hatte Otto seinen Nebenmann, Sergej Pawlowitsch Nikulin, gefragt, was die Haufen auf dem Bahndamm verbargen. Deine Zukunft, hatte der Richter geantwortet. Der Pole würde genauso geendet haben, als namenloser Eisklotz, hätte man sich nicht seiner, aus welchen Gründen auch immer, erbarmt und ihn ins Lager gebracht. Trufulski, der Spediteur des Patienten, war ein freier Mann, trotzdem hatte er nicht auf eigene Faust gehandelt. Irgendwer musste eine Anweisung gegeben haben. Statt als Leichnam im Schnee lag der Alte nun, zugedeckt, schwer atmend, aber lebendig, in der für nordrussische Verhältnisse wohltemperierten Krankenbaracke. Der Sanitäter näherte sich Haferkorn. Rate mal, was auf ihn wartet? Vermutlich der Tod. Unter normalen Umständen hättest du recht, der Feldscher hob, von seiner Geschichte begeistert, die Stimme, aber das Gegenteil ist wahr. Er machte eine Kunstpause und holte das Leinensäckchen hervor, in dem er die Machorka verwahrte. Während er sich ein Rehbeinchen bastelte, eine krumme, aus Zeitungspapier gedrehte, mit Spucke verklebte Papirossa, verkündete er, jedes Wort betonend: Der Vogel darf nicht krepieren. Kniff dabei das linke Auge zusammen. Der Polacke hat Freunde. Otto zwang sich ein Grinsen ab. Es gehörte im Lager zu den Spielregeln, mit Neuigkeiten, die keiner prüfen konnte, zu prahlen. Seit wann besaßen die Pans Gönner? In der Hackordnung standen sie auf der untersten Stufe, sogar ihn, den Deutschen, behandelte man mit mehr Respekt. Nur ein Umstand verlieh Koljas Märchen eine gewisse Glaubwürdigkeit: Hauptmann Kosinzews Visite.
Väterchen, Augen auf, es gibt was zwischen die Zähne. Petrenkow als netter Onkel. Nicht sein Rollenfach. Da habe er aber Schwein gehabt, meinte er, dass sie ihn hier, bei ihnen, ausgeladen hätten, Arzt sei er zwar keiner, habe aber eine solide medizinische Ausbildung, zehn Jahre Dienst im Sanitätsbataillon. Schwachsinn. Wer glaubte das? Der Alte hob das Kinn, fordernd. Übersetze! Otto dachte nicht dran. Was wollte der Kerl von ihm? Du kannst doch Deutsch. Er war zu lange Häftling, um sich von einem Gespenst foppen zu lassen. Ein Schlag, und die Jammergestalt stand nie wieder auf. Woher weiß er, dass ich Deutscher bin, dachte Haferkorn, wo er doch gerade erst eingeliefert wurde? Das Lager war klein, achthundert Männer, zweihundert Frauen. Eine echte sowjetische Großfamilie, sagte Michail Zederbaum, jeder weiß alles vom andern und wünscht ihm die Krätze an den Hals. Otto war der einzige Deutsche in Artek, die Hessen aus den Dörfern um Engels behaupteten zwar, welche zu sein, aber das Gewäsch, das sie redeten, hatte so viel mit Deutsch zu tun wie ein Furz mit einer Fanfare. Noch weniger das Plautdietsch der Mennoniten, die zu Schlitten Schlirre sagten, wer sollte das verstehen? Der Pole hatte kurze Wachphasen, gähnte, räkelte sich, fluchte, forderte Aufmerksamkeit, schlief wieder ein. Hör zu, Faschistschik, vergatterte ihn der Feldscher, wenn er das Maul aufmacht, ruf mich. Und zwar sofort. Otto nickte. Er hasste den Spitznamen, musste aber einräumen, dass er ihn schützte. Faschistschik, der kleine Faschist. Der Teufelspakt vom August 39 hatte, auch wenn es widersinnig war, seine Lage gebessert. Seitdem stand er unter Protektion. Keiner wagte, ihn zu schlagen nur seiner Herkunft wegen. Deutsche und Russen waren Verbündete, Partner im Kampf gegen den westlichen Imperialismus. An einem seiner besseren Tage hatte ihm Jelomanow, der Untersuchungsrichter in der Lubjanka, mit aufgesetztem Lächeln gratuliert. Der Reichsaußenminister würde heute im Kreml empfangen, da dürfe er während der Befragung sitzen. Tage später erfuhr Otto, durch einen Neuzugang in der Zelle, von Ribbentrops Audienz bei Stalin. Gerüchte über einen Freundschaftsvertrag machten die Runde. England und Frankreich seien schachmatt. Litwinow blieb verschwunden. Bewährte Kader im Narkomindel wurden aussortiert. Die Gemeinschaftszellen füllten sich bis an die Schmerzgrenze. Der September war so schneidend heiß, wie der Winter bitterkalt werden sollte. Ende Oktober ging Otto auf Transport. Die Welt versank hinter einem Schneevorhang. Beschlüsse, Gesetze, Manifeste, die in der Hauptstadt von Wissenschaftlern der Lomonossow-Universität, Verkäuferinnen im Staatlichen Warenhaus, den Mitarbeitern der Konfitürenfabrik Bolschewik, von Belegschaftsversammlungen, Einheiten der Roten Armee, Matrosen der Arbeiter-und-Bauern-Flotte, Wohngenossenschaften, von Traktoristen in Kolchosen und Melkern in Sowchosen begrüßt und ausgewertet wurden, spielten tausend Kilometer weiter nordöstlich keine Rolle mehr, es sei denn, sie hatten Auswirkungen auf die Löhnung der Wachen oder die Brotration der Gefangenen. Dreihundert Gramm waren das mindeste. Die Prawda erhielt der Lagerleiter mit zweitägiger Verspätung, das Exemplar war bereits von Semjon Schemjena, seinem Vorgesetzten in Kotlas, gelesen, zerknittert und gelegentlich befleckt worden. Den Seki, das Kurzwort stand für Gefangene, Sakljutschonnyje, reichte die Gerüchteküche. Zuzüglich der Propaganda, die am 1. Mai oder am 7. November aus den Lautsprechern dröhnte. Nach einem knappen Jahr in Safranowka hatte ihn Kosinzew in sein Büro kommandiert. Wenn der Genosse Molotow, wie man munkelt, nach Berlin fährt, Faschistschik, wirst du amnestiert, todsicher. Das war wenige Tage vor dem Revolutionsfeiertag gewesen. Seitdem nichts. Still ruhte der See. Otto war bereit, nach Deutschland zurückzukehren. Wenn die führenden Genossen mit den Nazis gemeinsame Sache machten, warum nicht auch die kleinen Leute? Anfangs, in den Wochen der Untersuchungshaft, hatte er den Pakt für ein Märchen gehalten, für den Trick eines Spitzels, die Fieberfantasie eines Durchgedrehten, der zu lange im Isolator gehockt hatte. Hitler, der Abschaum, ein Gefährte, Mitstreiter, Vertrauter Stalins? Jetzt, nach Monaten in Eis, Schneestürmen, Schlamm, in Mückenschwärmen, Gluthitze, bei Dauerregen im Wald, mit offenen Blasen an den Händen, Geschwüren in Kniebeugen, Achselhöhlen, im Schritt, mit losen Zähnen und wachsgelber Haut, verlaust und verwanzt, mit verschissener Wäsche, war Otto Haferkorn, Jungkommunist und Sohn eines klassenbewussten Arbeiters aus Berlin-Lichtenberg, derart vom Elend angefressen, dass er alles tun würde, um in ein warmes deutsches Konzentrationslager ausgeliefert zu werden. Im Traum lief er trotzdem jede Nacht durch Moskau, überquerte die Gorki-Straße, stand an der Linotype und setzte im Haus der Iskra Revoljuzii die Deutsche Zentral-Zeitung. Verschwitzt verließ er den Druckereibetrieb in der Filippowskigasse, nickte dem schwerhörigen Wassil, der an der Pforte saß, Sonnenblumenkerne kaute und die Schalen unter den Tisch spuckte, einen Abschiedsgruß zu, schob die Schiebermütze schräg auf den Scheitel und folgte einem weißen Sommerkleid.
Wer zu nachlässig, geschwächt oder zu dumm war, auf seine sieben Sachen aufzupassen – glücklich, wer sieben Sachen sein Eigentum nennen konnte –, hatte das Nachsehen. Am Abend legten sich die Männer in voller Montur auf die Pritschen. Damit bekämpfte man weniger die Kälte, die Holzfäller kehrten meist in klitschnassen Lumpen von der Arbeit zurück, sondern wollte verhindern, dass einem das Hab und Gut, das man am Leib trug, buchstäblich unter dem Arsch weggestohlen wurde. Nachts, sagten die Urki, ist die beste Zeit, um im Trocknen zu angeln. War der Verlust eines Löffels noch zu verschmerzen – man schnitzte sich im Wald, wo man an Werkzeug herankam, einen neuen –, konnte ein verschwundener Essnapf den Hungertod bedeuten. Niemand würde einem seinen leihen. Ersatz aus dem Depot erhielt man erst nach umständlichen Anträgen, deren Bearbeitung, wenn sie erfolgte, Wochen brauchte. Obwohl wässrig und fleischlos, bildete Balanda den Grundstock der Verpflegung. Das schlimmste, kaum ertragbare Verhängnis war, wenn ein Gefangener, durch Fahrlässigkeit oder Diebstahl, etwas verlor, das ihn an sein ziviles Vorleben erinnerte, einen Kamm, eine Pfeife, die Fotografie seiner Frau oder Kinder oder ein geliebtes, behütetes Buch. Vielleicht traf den Polen der Schlag? Dann käme er, dachte Otto, in keine Erklärungsnot. Er selbst besaß nur noch einen Gegenstand, den er am Morgen des 18. Juli 1939 bei sich gehabt hatte: ein handgroßer Zettel, Karomuster, vierfach gefaltet: Besuch mich, wenn Du Zeit hast und Mumm. Maria, Hotel Metropol, Zimmer 558. Die Nachricht hatte er – während der Fahrt im Gefängniswagen – nicht in den Schuhen versteckt. Anders als das Foto seiner Eltern, das er dort zu verbergen suchte, wurde der Zettel nicht entdeckt. Vielleicht würde er auch das Foto noch besitzen, wenn er es nicht hätte hineinschmuggeln wollen. Was wäre, wenn. Die Litanei aller Gefangenen. Wie oft hatte Otto sich in den letzten fünfzehn Monaten gefragt, ob sie ihn auch geholt hätten, wenn er krank oder zu feige gewesen wäre, um Marias Einladung Folge zu leisten. Zehn Jahre für ein Rendezvous? Ein teurer Spaß. In Safranowka galt für ihn wie für alle 10-Ender Schreibverbot. Würde er ihr geschrieben haben, wenn er gedurft hätte? War sie noch frei? Man verschwand eben mal so. Spurlos. Falls man nach viertausend Tagen zurückkam, würde man sehen, was vom alten Leben übrig war. Nichts, meinte Zederbaum, mach dir keine Illusionen, alles wird weg sein, Frau, Kinder, Freunde, deine Katze, die Bibliothek, Tagebücher, deine Orden und Zigarettenspitzen, sogar die Erinnerungen. Ausgelöscht. Trübe Gedanken. Otto verdrängte sie. Er lag im Lazarett. Immerhin. Die anderen zogen in diesem Augenblick los, bei eisigem Nordwind, Brigaden zu zwanzig Mann, Äxte und Sägen geschultert, begleitet von einem mürrischen Posten mit Karabiner, der am Kolonnenende lief und vor allem die Axtträger im Blick behielt, die an der Spitze zu marschieren hatten. Wer unaufgefordert aus der Rotte ausbrach, wurde angerufen. Einmal. Erst ein Schuss in die Luft, dann, gezielt, auf den Körper. Manche Wachen gönnten sich auch den Spaß, die Regel von rechts nach links zu lesen, indem sie erst auf den Flüchtling schossen und den obligaten Warnschuss in den Äther nachlieferten. Otto hatte es erlebt. Aus der Kehle des Alten kam ein Pfeifen, heiser, animalisch, ekelhaft. Stirb doch, dachte Otto. Hast du’s hinter dir. Hier ist der beste Ort, um die Fliege zu machen. Die erste Regel des Lazaretts hieß Teilnahmslosigkeit. Entweder war man zu geschwächt, um irgendetwas außerhalb des eigenen Schmerzes wahrzunehmen, oder man gab vor, todkrank zu sein, und musste sich vor nichts mehr hüten als vor Mitleid. Kranke waren selbstsüchtig. Durst, sagte der Pole auf Deutsch, gib mir zu trinken. Was denkt er, wer er ist? Das ist kein Hotel und er kein Zimmerkellner. Flink wie ein Geist kam Kolja zurück. Aus dem Blechnapf in seiner Hand stieg Dampf. Halte den Kopf, wurde der Deutsche aufgefordert. Während der Feldscher zu seinem Verschlag zurückeilte, nippte er an dem Getränk. Tee, kein Wasser. Gib! Die linke Hand des Alten traf Ottos Oberschenkel. Scheusal, soll ich dir die Brühe ins Gesicht kippen? Der Sanitäter drängte ihn zur Seite, stopfte dem Polen Brotkrümel ins Maul. Ich habe auch Durst, maulte der Deutsche.
Der Greis kratzte sich den Bart und forderte seine Habe zurück. Otto, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. I Schnee
  6. II Blut
  7. III Papier
  8. IV Wasser
  9. V Holz
  10. VI Brot
  11. VII Licht
  12. VIII Feuer
  13. Epilog