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Lichtenberg-Poetikvorlesungen

  1. 80 Seiten
  2. German
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Lichtenberg-Poetikvorlesungen

Über dieses Buch

In seinen im November 2014 gehaltenen Poetikvorlesungen spricht Marcel Beyer über »die Löcher im Stoff der Wirklichkeit", über Wirklichkeit also, die kein kontinuierliches Ganzes bildet, sondern aus Inseln (und Löchern) zusammenzusetzen ist und sich nicht zuletzt aus medialen Fiktionen speist. Er spricht über einen Tag im Herbst, an dem er in einem Flugzeug aus Paris nach Frankfurt sitzt, in der Reihe vor sich eine fernsehbekannte Literaturkritikerin. Das Notieren der sehr konkreten Situation verkoppelt Beyer mit dem Nachdenken über Georges Perec, der 1974 drei Tage lang schreibend versuchte, einen Platz in Paris »erschöpfend zu erfassen". Perec, das Waisenkind jüdischer Einwanderer, musste sich seine Kindheitserinnerungen erst erschreiben, wohingegen in Cécile Wajsbrots Protokoll der geistigen Erkrankung ihres Vaters dieser allmählich alle Erinnerungen verliert.In den Blick nimmt Beyer nicht weniger als das 20. Jahrhundert, die »Faktenlage" - und die Imaginationsarbeit, die notwendig ist, will man sich eine eigene Lebensgeschichte schaffen. Ein Punkt, an dem »Alice im Wunderland" ins Spiel kommt, und sei es auch nur in Form weißer Kaninchen, die durch die Szene laufen und rufen: »Jemine, jemine, keine Zeit, keine Zeit."

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Information

Zweiter Abend

I

Der Purser erklärt, wir hätten soeben unsere Reiseflughöhe verlassen und befänden uns bereits im Anflug auf Frankfurt. Hinab, hinab, hinab. Etwas anderes gibt es ja nicht zu tun, also fange ich bald wieder zu notieren an.
Sie betrachtet den Vorhang, der die Reihen der Economy Class von den vor uns liegenden Reihen der Business Class trennt. Zart und klein und still wirkt sie, ja, vor allem dies: still, sich nur ab und zu über den freien Sitz hinweg – den Sitz, auf dem unsichtbar der schwere Satz abgelegt ist »Der stirbt noch eher als ich« – ihrem Lebensgefährten zuwendend und leise: »Glitzerkinder« sagend, so leise, daß es sich auch um ein von mir falsch gehörtes, ganz profanes »Glitzerklunker« handeln könnte. Genauso wäre es möglich, daß sie ihn – fürsorglich, neckend und zärtlich zugleich – als ihr »Glimmerprinzchen« anhimmelt, was allerdings nicht zu der von ihr gestellten und im selben Atemzug auch schon selbst beantworteten Frage passen würde: »Was kostet das? Einen Euro.«
Dies also ist sie, sage ich mir, in der Wirklichkeit, die bekannteste deutsche Literaturkritikerin und zugleich eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen, die nicht müde wird, darauf hinzuweisen, welche einflußreichen Menschen sie – im Fernsehen, in der Zeitung, im Leben – bereits als einflußreiche, vielmehr als die ohne den leisesten Zweifel mächtigste Literaturkritikerin überhaupt bezeichnet haben, so wie sie nicht müde wird, auf den ungeheuren Erfolg ihrer Bücher hinzuweisen, als handele es sich bei der Tatsache, daß sich ihre Dauerpräsenz im Fernsehen auf die Verkaufszahlen ihrer Bücher auswirkt, um nichts weiter als um einen kuriosen, wenn auch zugegebenermaßen hübschen Zufall. Dies also ist sie, in der Wirklichkeit: Ich sehe sie vor mir in der Reihe sitzen, und ich sehe: Sie liest nicht.
Wer weiß, vielleicht ist auch ihr auf dem Flughafen Dresden das in einem Wechseldisplay hängende, Veronica Ferres zeigende Plakat aufgefallen, und nun versinkt sie zunehmend in Reflexionen über die Medienvergänglichkeit, denn immerhin handelt es sich bei ihr um eine Protagonistin nicht nur in Fernsehsendungen, die auf dem Prinzip der Authentizitätsfiktion beruhen, sie hat darüber hinaus bereits mehrfach auch eine kleine Rolle als Kommissarin oder Ermittlerin oder Detektivin in einer Vorabendserie übernommen, und zwar, wie sie in zahlreichen Exklusivinterviews bekräftigt hat, zu ihrem größten Vergnügen.
Möglich, die Literaturkritikerin befindet sich in diesem Moment mitten in einem Strudel fröhlicher Wirklichkeitsverwirrung und läßt sich einfach treiben, angeregt vom Gesicht der Fernsehschauspielerin Veronica Ferres, die identisch ist mit der Person Veronica Ferres, oder doch nicht ganz, da sie, Veronica Ferres, anläßlich eines kurz nach Beginn der Dreharbeiten zur in der vergangenen Woche ausgestrahlten Bundeskanzlerinnenkomödie oder -romanze bei einem Empfang der Bundeskanzlerin zu Protokoll gab: »Was für ein komischer Zufall: Gerade hatten wir Drehbeginn zu Die Staatsaffäre, wo ich die Kanzlerin spielen darf. Und heute traf ich Frau Merkel bei ihrem Empfang der Filmschaffenden! Irre!«
Womit – und auch darüber könnte die Literaturkritikerin nachdenken – nun entweder die Authentizitätsfalle zuschnappt, sind Veronica Ferres Begegnungen mit der politischen Macht doch keineswegs fremd, da sie über Jahre hinweg nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn sie als persönliche Freundin des Bundeskanzlers Gerhard Schröder oder als persönliche Freundin des Bundespräsidenten Christian Wulff bezeichnet wurde, womit nun also entweder die Authentizitätsfalle zuschnappt oder im Gegenteil – auch dies ein alter Hollywoodtrick – ein Moment der Entfremdung ins Spiel gebracht wird, indem Veronica Ferres – diskret, implizit, stillschweigend – mit ihrer Aussage einen Webfehler in der Textur der Wirklichkeit markiert, als sei die Haut, in der sie lebt, entgegen der landläufigen, trivialen Wirklichkeitsmustern folgenden Auffassung, mitnichten die Haut, in der sie lebt. Als führte sie, deren Vorname mit einem halben ›W‹ beginnt, selbst vor der Kamera ein Doppelleben.

II

Das Flugzeug ist gelandet. Vor dem Fenster eine sich bis nah an den Horizont erstreckende, von farbigen Linien durchzogene Asphaltfläche. Obwohl der Frankfurter Flughafen für seinen Artenreichtum bekannt ist, habe ich, als die Räder den Boden berührten, auf dem Rasenstreifen neben der Landebahn keine Kaninchen sehen können.
Die Literaturkritikerin steht von ihrem Gangplatz auf, um darauf zu warten, daß die Luke geöffnet wird. Ihr Lebensgefährte steht neben ihr und wühlt im Gepäckfach über der Reihe 6 herum. Meine schwarze Umhängetasche fällt heraus.
Das Buch fällt.
Welches Buch aber von Cécile Wajsbrot, einer Tochter von Überlebenden, der Tochter zweier Menschen, die aufgrund eines Zufalls, einer Nachlässigkeit, einer im Grunde alltäglichen, lebensrettenden Geste, eines Wunders der Shoah entgangen sind? Ihr Plädoyer Für die Literatur? Nein, das wäre für einen Text wie diesen, in dem ich mit der Vorstellung spiele, nichts weiter zu tun, als den wirklichen Ereignissen des 8. September 2014 zu folgen, von einer derart klischeehaften Symbolik, daß die Wirklichkeit selbst sich dagegen sperrt: Ein Buch mit dem Titel Für die Literatur vom Lebensgefährten einer mächtigen, wenn nicht gar der mächtigsten deutschen Literaturkritikerin aus dem Gepäckfach werfen zu lassen, woraufhin sich der Schultergurt meiner schwarzen Umhängetasche in der Armlehne des Gangplatzes in der Reihe 5, rechts, verfängt, so daß sie, zugegeben, gar nicht auf den Boden fällt, sondern vom Lebensgefährten mit einer ungeschickten Bewegung (er geht in die Knie, fuchtelt mit den Armen herum, fängt die Tasche ab, so daß sie vielmehr auf dem Sitz zu liegen kommt, den die Literaturkritikerin wenige Minuten zuvor verlassen hat) abgefangen und, mitsamt dem Buch von Cécile Wajsbrot zurück ins Gepäckfach gelegt wird (wobei er, der Lebensgefährte, wie ich an dieser Stelle phantasiere, mich mit einem verlegenen Blick streift) – etwas derart lachhaft Symbolisches könnte nur in einem lachhaft schlechten literarischen Text passieren, nicht aber in meinem Bericht. Es käme mir nicht in den Sinn, einen solchen von eisernem Kunstwillen diktierten Unfug zu erfinden, seine Erfindung käme einer Schamlosigkeit, einem Verrat an der Literatur gleich, also hat er sich auch in der Wirklichkeit nicht ereignet. Der Grad an Symbolik, den mir die Wirklichkeit an diesem Tag mit dem aus dem Gepäckfach fallenden Buch präsentiert, genügt vollauf, ist im Grunde ohnehin bereits zu viel nach meinen sechs in den Büchern verbrachten Wochen.

III

Nein, beim Buch von Cécile Wajsbrot handelt es sich um den in der deutschsprachigen Ausgabe mit Eine Geschichte untertitelten Bericht Die Köpfe der Hydra, um ein Buch, das sich als ein Gegenstück zu W oder die Kindheitserinnerung von Georges Perec auffassen läßt, ja, das im Grunde aus jener weitgehend leeren, lediglich aus mit Klammern eingefaßten drei Punkten bestehenden Seite in der Mitte des Buches von Perec hervorgegangen zu sein scheint, aus jener Seite, die das Verschwiegene, das zu Verschweigende, das noch zu Erzählende oder das Nicht-Erzählbare markiert.
Ein Buch über die Wortgewalt. Ein Buch, das um das Wort ›verfügen‹ kreist, wie jenes von Georges Perec. In beiden Werken werden zum einen, mit den schattenhaft, in Kurzauftritten beleuchteten nationalsozialistischen Knechten, indirekt Menschen in den Blick genommen, deren ganzer Lebenssinn, deren ganze Lebensenergie und -freude sich darin zu erschöpfen scheint, über das Leben anderer, als ›Juden‹ markierter Menschen zu verfügen, zum anderen widmen sich sowohl Georges Perec als auch Cécile Wajsbrot mit bohrender Geduld Menschen, denen mit den Erinnerungen die eigene Lebensgeschichte abhanden kommt, die demnach nicht einmal über ihr eigenes Leben verfügen.
Wo Perec versucht, eigener Kindheitserinnerungen habhaft zu werden, verzichtet Cécile Wajsbrot, da sie vom allmählichen Erinnerungsverlust ihres Vaters wie ihrer Tante berichtet, erstaunlicherweise weitgehend darauf, die Lücken im Leben ihrer nächsten Verwandten mit Hilfe eigener Kindheitserinnerungen zu schließen, oder: auszubalancieren.
Während ihr Vater, der, so erinnert sich die Erzählerin, nie viel gesprochen hat, ja, nie ganz anwesend schien im Leben der Familie (und womöglich in seinem eigenen Leben), mit seiner fortschreitenden Alzheimererkrankung verstummt, aus der Welt fällt, gerät ihre Tante mit der fortschreitenden Alzheimererkrankung immer tiefer in selbstgeschaffene Wahnwelten, bezeichnet bald diesen, bald jenen Fremden als Bekannten, errichtet eine Gesellschaft unsichtbarer Figuren um sich, mit denen sie regen Austausch zu pflegen meint.
Eine Kindheits-, eine Jugenderinnerung aber teilt die Erzählerin mit, in der ihr Vater so präsent ist wie sonst an keiner anderen Stelle im Buch und vielleicht auch in keiner anderen Erinnerung – als sei er im Leben der Erzählerin eine namentlich genannte Person, über die keine Gewißheit herrscht: »Da gab es diesen Tag auf dem Polizeirevier, als ich fast vierzehn war. Ich sollte nach England fahren und brauchte eine Erlaubnis, keine elterliche, sondern eine väterliche damals, die Erlaubnis, das Land zu verlassen. Wir waren auf dem Revier, mein Vater und ich, bestimmt hatte meine Mutter bereits zu Hause alle benötigten Formulare ausgefüllt, und alles war in Ordnung, es fehlte nur noch die Unterschrift. Doch nein, es mußten noch ein paar Worte hinzugefügt werden«, schreibt sie, und sie sieht ihren Vater – 1936 aus Polen nach Frankreich gekommen, er war »siebzehn Jahre alt, sprach Jiddisch und Polnisch, aber kein Französisch« – sieht ihren Vater zögern, schwitzen, vor Angst gelähmt, und sie spürt seine Panik, weil er der französischen Schriftsprache nicht mächtig ist.
»Ich wollte leise buchstabieren, damit mein Vater sich nicht schämte, aber es war zu spät, der Polizist hörte oder verstand, was ich zu verbergen suchte« – immer wieder finden sich bei Cécile Wajsbrot solche schmerzlichen Momente, in denen das Zusammenspiel von Scham und dem Wunsch, etwas zu verbergen, offengelegt wird. Schmerzlich, weil die Erzählerin, indem sie, einem nicht zu unterdrückenden Impuls folgend, eine beschämende, zu verbergende...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Erster Abend
  5. Zweiter Abend
  6. Literatur
  7. Inhalt
  8. Impressum