Kreuzzug und Kinderträume in Lessings ›Nathan der Weise‹
I.
»Es war zwar […] ein wenig unüberlegt, in einem Stücke, dessen Stoff aus den unglücklichen Zeiten der Kreutzzüge genommen ist, die Toleranz predigen.«1 Der Satz liest sich wie eine Kritik an Lessings ›Nathan‹. Er stammt jedoch von Lessing selbst, und zwar aus dem Jahre 1767, also ein Dutzend Jahre bevor er dieses, sein letztes Stück verfaßte. Das Drama, um das es damals ging und das Lessing zwar rügte, das ihn aber nichtsdestoweniger zutiefst beschäftigte, war Cronegks ›Olint und Sophronia‹, das erste Drama des Nationaltheaters in Hamburg. Die ersten sieben Stücke der ›Hamburgischen Dramaturgie‹ handeln von nichts anderem. Sie sind noch heute interessant, nicht als Kritik an dem zu Recht vergessenen Cronegk, wohl aber als Vorschau auf Lessings eigenes Werk.
Der Anstoß zum ›Nathan‹ kam bekanntlich durch Lessings Streit mit Pastor Goeze. Damals schrieb er an seinen Bruder Karl: »Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine Art Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat, die ich mir damals wohl nicht träumen ließ.«2 Dieser Brief wird meistens im Hinblick auf die »gegenwärtigen Streitigkeiten«, also das theologische Gerangel mit Goeze, interpretiert. Mich dagegen interessiert der erwähnte alte Schauspielentwurf. Ich führe ihn zurück auf den eingangs zitierten Satz, der sich scheinbar trotz seiner Negativität auf nichts anderes als den ›Nathan‹ beziehen kann: Ich schlage vor, daß es sich um eine Art negative Inspiration handelt, die von Cronegks Stück ausging. Es war ja immer charakteristisch für Lessing, daß er durch Polemik zu seinen eigenen Ideen fand. Durch diese Polemik lassen sich auch seine Absichten im ›Nathan‹ deutlicher ablesen.
Die Quelle von ›Olint und Sophronia‹ ist eine Episode in Tassos ›Das befreite Jerusalem‹. Wir halten heute leicht die Gegenüberstellung der drei Religionen während der Kreuzzüge für eine orginelle Idee Lessings und vergessen darüber, daß Tassos Epos im achtzehnten Jahrhundert noch sehr bekannt und beliebt war. Goethe erwähnt es liebevoll sowohl in seinem ›Wilhelm Meister‹ wie auch in ›Dichtung und Wahrheit‹, ganz zu schweigen von Goethes eigener Dramatisierung der Tasso-Biographie. Lessing erwartete offensichtlich, daß ein gebildetes Publikum Tassos Werk gut kennen würde. Er schreibt: »Der Stoff ist die bekannte Episode beym Tasso.« (1. Stück, S. 185) Lessings Zeitgenossen sahen die Kreuzzüge wohl im rosigen Lichte einer phantasievollen und phantastischen Fiktion aus der Renaissance, doch die Historiker, die Lessing gelesen hatte, entwarfen schon ein viel düstereres Bild jener Zeit.
Cronegk hatte also eine von Tassos christlich-romantischen Episoden dramatisiert und neu ideologisiert. Ort der Handlung ist Jerusalem, das von Gottfried von Bouillon belagert und von Sultan Aladin regiert wird. Bei Cronegk, wie später bei Lessing, spielt der Belagerer keine Rolle, der Sultan eine um so größere. Zwei heimliche Christen, Evander und Olint, Vater und Sohn, sind die männlichen Hauptpersonen. Evander ist eine vorbildliche Vatergestalt, wie es bei Lessing später Nathan sein wird. Der junge Olint ist, wie Lessings Tempelherr, ein Protektionskind des Sultans. Doch wünscht er nichts sehnlicher, als ein Märtyrer für seinen Glauben zu werden und diesen öffentlich zu bekennen. Dem weisen und reifen Evander gelingt es nur mit Mühe, ihn zurückzuhalten. Dazu kommt zweifacher Liebeskummer: Olint liebt die Christin Sophronia und wird seinerseits von einer »Heidin«, der Perserin Clorinde, geliebt. Clorinde ist Kriegerin, wie sie in Tassos Gedicht, sowohl auf moslemischer wie auf christlicher Seite, mehrfach auftauchen. In Tassos phantastischem Kontext sind sie eher am Platz als bei Cronegk. Clorindes interkonfessionelle Liebe ist Cronegks, nicht Tassos Erfindung.
Der böse islamische Priester Ismenor bringt die Handlung in Gang, indem er ein Kruzifix aus der Kirche stiehlt und es in die Moschee bringt, um die magischen Kräfte des Kreuzes für seine Zwecke zu verwenden. Olint entwendet das Kreuz und schickt es an Gottfried. Nach der Entdeckung dieses zweiten Diebstahls schwört der Sultan, alle Christen in seinem Bereich hinzurichten, wenn das Kreuz nicht noch am selben Tag wieder da sei. Sophronia, die nur auf eine Gelegenheit wartet, für den wahren Glauben zu sterben, meldet sich freiwillig als Schuldige. Olint eilt, sie zu retten, die beiden bekennen ihre Liebe zu einander und streiten darum, wer Märtyrer sein darf. Ismenor benimmt sich, wie man es von einem vollendeten Bösewicht, der Sultan, wie man es von einem Despoten mit Scheuklappen erwartet. Die Perserin Clorinde gesteht ihre Liebe zu Olint, er weist sie ab, er hat ja seine geliebte Sophronia. Diese macht es sich zur Aufgabe, Clorinde zum Christentum zu bekehren, während Olint eine Bekehrung des Sultans anstrebt.
An dieser Stelle bricht der Text des frühverstorbenen Cronegk ab. In der Vorstellung, die Lessing in Hamburg sah, war das Stück von einem ansonsten unbekannten und unbedeutenden Dramatiker namens Roschmann um einen fünften Akt ergänzt worden. In diesem Akt sterben sowohl Olint wie Sophronia den Märtyrertod. In Tassos Version werden sie durch Clorindes Einsatz und ihre Bitten gerettet.3
Dieses nicht gerade vielversprechende Material diente Lessing in der ›Hamburgischen Dramaturgie‹ als Ausgangspunkt für seine Diskussion über die Mängel des zeitgenössischen Theaters und seine Ausführungen darüber, wie es besser sein könnte. Wenn wir uns nun die eben skizzierten Personen und Situationen aus Cronegks Drama vor Augen halten und sie mit ›Nathan‹ einerseits, mit Lessings Forderungen für ein modernes Theater andererseits vergleichen, stellt sich heraus, daß der Dichter-Kritiker in seinem Meisterwerk eine bewußt polemische Kontrafaktur des schwachen früheren Kreuzzugstücks schrieb.
Zunächst stellt Lessing fest, daß die Christen die Schuld an den Kreuzzügen getragen hätten und daß Cronegk daher nicht »die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion« (7. Stück, S. 210) hätte demonstrieren sollen. In seinem eigenen Stück ersetzt er den fanatischen Sultan Aladin durch den aufgeklärten Sultan Saladin, setzt den böswilligen christlichen Patriarchen an die Stelle des niederträchtigen Priesters Ismenor und bietet uns als Repräsentanten des Islam den menschenfreundlichen, gottergebenen Al-Hafi. Das heißt aber, daß der Patriarch nicht einfach als eine Karikatur von Goeze gesehen werden kann: Seine Verwandtschaft mit Ismenor ist älter als die Irritation, die von dem Pastor ausging.
Zweitens tadelt Lessing die leichtfertige Unterstellung bei Cronegk, daß der Islam eine polytheistische Religion sei. Seine eigenen drei Muslims – Saladin, Sittah und Al-Hafi – werden nicht müde, ihren Monotheismus zu betonen. Cronegks Evander äußert Entsetzen bei der Vorstellung einer Mischehe: »Ein Christ / Liebt eine Heidin – Gott.« (Cronegk, I 2, 107 f.) Lessings Tempelherr hingegen sagt achselzuckend, als er mit demselben Problem konfrontiert ist: »So – liebt der Tempelritter freylich, – liebt / Der Christ das Judenmädchen freylich. – Hm! / Was thuts?« (III 8, 614 – 616)4 Ähnlich geht es in Sittahs und Saladins Gespräch am Anfang des zweiten Akts, wo sie die Möglichkeit einer Ehe mit Christen als Preis für den Frieden durchspielen, um den Gedanken wieder aufzugeben, angesichts von christlicher Intoleranz und Starrsinn.
Das Thema Märtyrertum ist zentrales Anliegen bei Cronegk. Lessing bemächtigte sich dieses Themas mit seiner ganzen polemisch-kritischen Begabung und verurteilte es als unmodern und außerdem als psychologisch unglaubwürdig. Märtyrer seien nichts für eine aufgeklärte Geisteshaltung und noch weniger für ein Theater von heute. Das psychologische Argument lief einfach darauf hinaus, daß man unter normalen Umständen ungern stirbt. Der Dichter muß sich daher besondere Mühe geben, Personen zu erfinden, die so ungewöhnlich sind und sich in so ungewöhnlichen Umständen befinden, daß das Publikum ihnen ihre Opferbereitschaft auch glaubt. »Was in Olint und Sophronia Christ ist, das alles hält gemartert werden und sterben, für ein Glas Wasser trinken.« (1. Stück, S. 187) Die menschliche Todesangst wird für modernes Empfinden allzu leicht abgetan. Ein neues Zeitalter will ein anderes Theater sehen: »Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder Rasender, der sich muthwillig, ohne alle Noth, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten, in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte.« (1. Stück, S. 187) Zwar spiele dieses Drama in einer vergangenen Zeit, doch sei es nicht für ein Publikum jener Zeit bestimmt. Der Dramatiker »schrieb sein Trauerspiel eben so wenig für jene Zeiten, als er es bestimmte, in Böhmen oder Spanien gespielt zu werden«. Das moderne Publikum dürfe man nicht wegen der historischen Kulisse zu kurz kommen lassen. Vorurteile seien Vorurteile, unbeschadet des Kostüms.
Was sind aber die Umstände, in denen ein moderner Held, laut Lessing, in einem modernen Stück sein Leben riskieren darf? Die Frage wird brisant, wenn wir bedenken, daß Lessings junger Held, ebenso wie Cronegks, ein Christ ist, der über gewisse Verbindungen zum Sultan verfügt und gleichzeitig auch den Feinden des Sultans verpflichtet ist. In beiden Stücken besteht seine auffallendste Tat darin, daß er sein Leben einsetzt, um ein junges Mädchen aus dem Feuer zu retten.
Lessing hatte sarkastisch die Glaubwürdigkeit von Olints Todesbereitschaft in Frage gestellt. Der Sarkasmus zum selben Thema ist im ›Nathan‹ noch unüberhörbar, dort allerdings im Dienste der Dramatik und der Aufklärung. Der Tempelherr hat nämlich darauf hingewiesen, er habe Recha aus christlicher Gesinnung und aus Pflichtbewußtsein gerettet. Also wie der Held eines Märtyrerdramas. Sie aber nimmt ihm den Wind aus den Segeln, mit den Worten:
[…] Tempelherren,
Die müssen einmal nun so handeln; müssen
Wie etwas besser zugelernte Hunde,
Sowohl aus Feuer, als aus Wasser hohlen.
(III 2, 103 – 106)
Das Motiv aus Cronegks ›Olint und Sophronia‹ wird nur aufgenommen, um es als falsch auszuweisen. Tatsächlich hat Curd, der Tempelherr, weder automatisch noch aus Aberglauben gehandelt, und Rechas Worte sollen ihn wissen lassen, daß es eines Menschen unwürdig sei, sich solcher Ausflüchte zu bedienen. Ohne Märtyrer zu sein, hat Curd eine beispielhaft gute Tat vollbracht, als er das Leben einer Fremden rettete. Hätte er sie gekannt und geliebt, so wäre sein ...