Briefwechsel
I. Berlin, Gestapo-Frauengefängnis
Barnimstraße
II. KZ Schloss Lichtenburg
[Dokument VI] Postkarte. Olga Benario an Leocadia Prestes, Prettin, 22. Februar 1938.1
22. II. 38.
Meine liebe Mutter!
Seit dem 15. II. befinde ich mich nicht mehr in der Barnimstr. in Berlin. Meine Adresse lautet neu: Schloss Lichtenburg, Prettin, Kreis Torgau. Ob Du mir in Zukunft direkt hierher oder weiter über die Gestapo in Berlin schreiben kannst, weiss ich noch nicht. Deshalb schreibe mir vorläufig wie bisher. Sobald ich genauen Bescheid habe, werde ich es Dir mitteilen. – Vorläufig habe ich beinahe so etwas wie Heimweh nach meinem nun [unsichere Lesart] früheren Aufenthaltsort in der Barnimstrasse. Siehst Du, so wird man! Was ich Dir in meinem letzten Brief über Handarbeiten für das Anita-Kind geschrieben habe, ist leider hinfällig geworden, da man mir hier nicht gestattet, derartiges wegzuschicken. – Nun ist die Kleine schon 4 Wochen bei Euch. Ist sie gesund? Und wie geht es Carlos? Voll Sehnsucht erwarte ich Deine Nachrichten, küsse vielmals mein Kindchen von mir u. mit den besten Wünschen für Dich umarmt
Dich Deine Olga
37. Luiz Carlos Prestes an Olga Benario, Rio de Janeiro, 28. Februar 1938.
Olga, meine Geliebte,
vor mir liegt Dein schöner Brief vom 19. Januar und ich danke Dir von ganzem Herzen für Deine Worte, die voller Liebe sind, und für alles, was Du mir über unseren kleinen Liebling erzählst. Doch ich warte ungeduldig auf Nachricht über Dein Leben und Deine Gesundheit nach der traurigen Trennung vom 21. Januar. Wie geht es Dir, meine Kleine?
Glücklicherweise sind die Nachrichten über unsere Tochter recht ermutigend. Sicher hast Du die Briefe von Mama und von Lygia bereits erhalten und weißt also, wie das derzeitige Leben unserer Anita Leocadia aussieht. Du wirst auch wissen, wie sie reagiert hat, als sie ein Bild von mir sah. Ich kann mir absolut vorstellen, was sich dabei in ihrem Köpfchen abspielte ... Sie küsste das Bild und wiederholte die Worte, die Du ihr beigebracht hattest, denn Du warst es, die ihre Augen in diesem Augenblick sehnsüchtig suchten. Doch unsere Kleine hat sich recht schnell an ihre neuen »Mamas« gewöhnt, was vollkommen natürlich ist in ihrem Alter, und ich kann mir vorstellen, wie verwöhnt sie ist. Sorgen mache ich mir nur um ihre Gesundheit wegen der jetzt unvermeidlich so anderen Ernährung, auch wenn unsere Mutter sich große Mühe gibt. Doch unserer Kleinen geht es glücklicherweise gut und mit der guten Luft und der Sonne am Strand wird sie jetzt sicher noch kräftiger.
Deshalb dreht sich meine ganze Sorge jetzt um Deine Gesundheit, denn mir ist klar, wie sehr Dein Herz leidet. Schreibe mir und erzähle in Deinen nächsten Briefen, wie Du jetzt lebst.
Was kann ich Dir über mich sagen? Gesundheitlich geht es mir nicht schlecht, und ich bin schon nicht mehr so mager. Danke für Dein Angebot, mir bei meinen Deutschstudien zu helfen; leider macht die Entfernung irgendetwas Praktisches in diesem Sinne fast unmöglich. Trotz der Schwierigkeiten glaube ich jedoch kleine Fortschritte zu machen. Über meine Lektüre kann ich Dir nichts Neues oder Interessantes erzählen. Im Augenblick lese ich das Buch von Wells, über das ich Dir schon in einem anderen Brief berichtet habe, und Du kannst Dir vorstellen, wie gerne ich mit Dir über jedes Kapitel darin sprechen würde. Mit vielen Äußerungen des Autors bin ich nicht einverstanden, doch seine geschichtliche Zusammenfassung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist bewundernswert, denn sie lässt uns fühlen und verstehen, wie der Lauf der Geschichte von diesen ihr innewohnenden allgemeinen Gesetzen beherrscht wird. Das bedeutet: Auch wenn der vernunftbegabte Mensch der in der Geschichte agierende Faktor ist, entsprechen die Ergebnisse dieser Handlungen nicht den gewünschten Absichten; vielleicht scheinen sie am Anfang dem verfolgten Ziel zu entsprechen, doch schließlich sind die Wirkungen anders als gewünscht. Es ist ungefähr so wie in der Mechanik – Intensität und Richtung des Zusammenspiels von verschiedenen Kräften sind völlig anders als bei jeder einzelnen dieser Kräfte. Doch in diesem Brief ist es nicht möglich, mehr zu sagen, nicht wahr?
Wir müssen geduldig auf bessere Zeiten warten, in denen wir aus größerer Nähe freier sprechen können, nicht wahr? Ich schließe also. Mit meinen besten Wünschen für Deine Gesundheit umarme ich Dich von ganzem Herzen. Dein
Karli
38. Olga Benario an Luiz Carlos Prestes, Prettin, 11. März 1938.
Prettin, 11. 3. 38.
Mein lieber Karli!
Leider habe ich seit Deinem Brief vom 8. Dez. nicht mehr von Dir gehört, obwohl ich weiss, dass Du danach bereits 3 Briefe an mich geschrieben hast. Siehst Du, in Momenten, wo ich Deine lieben Worte am nötigsten hätte, muss ich sie entbehren.
Aus einem Brief von Lygia habe ich erfahren, dass unsere kleine Anita auf 4 Wochen nach Nizza gefahren ist. Wie freue ich mich, dass wenigstens unserem Kind die Sonne scheint! –
Seit Mitte Februar befinde ich mich nicht mehr in Berlin, sondern in Mitteldeutschland. Ausserdem bin ich seit 14 Tagen krank, zu Bett. Ich hatte einen Gallen-Anfall von Fieber begleitet. Jetzt bin ich schon auf dem Weg zur Besserung u. Du sollst Dir nicht allzu grosse Sorgen meinetwegen machen. – Als letzte Reserve habe ich nun »Gil Blas« von Le Sage gelesen.1 Ich bin entzückt von der graziösen Darstellung der Personen u. ihrer Geschichte. Dazu kommt, dass ich mir bei dieser Lektüre sogar vorstellen kann, was für ein Gesicht Du beim Lesen dieses Buches, u. welche Kommentare zu den verschiedenen Stellen, Du machen würdest. Das ist ganz sonderbar. –
Im übrigen wollte ich Dich bitten, Dich erneut dafür zu interessieren, ob meine Freundin2 Nachrichten von ihrem Gatten erhält, u. alles im Bereich Deiner Möglichkeiten Liegende zu tun, damit sie wenigstens diese Beruhigung hat. –
Lieber, es fehlen mir Deine Briefe zur Beantwortung. Die Tage sind endlos u. meine Gedanken wandern von Dir zu unserer kleinen Anita u. wieder zurück. 2 Jahre sind wir nun schon von einander getrennt u. man fragt sich: wie lange noch? –
Hoffentlich bist Du gesund u. hast genügend zu lesen. –
Hast Du Anita’s Photographien erhalten?
Nun, ich muss schliessen. Mit vielen »saudades« umarmt Dich
Deine
Kleine
39. Luiz Carlos Prestes an Olga Benario, Rio de Janeiro, 14. März 1938.
Du meine geliebte Kleine,
von ganzem Herzen danke ich Dir für Deinen schönen, lieben Brief vom 12. Februar. Deine Worte zeigen mir all Deine Energie, mit der Du Dich wappnest, um dem letzten Schlag widerstehen zu können, der Dich getroffen hat – die traurige Trennung von unserer geliebten Anita Leocadia. Doch Dein Brief hat mich über Deinen geistigen und gesundheitlichen Zustand sehr beruhigt. Ich möchte hier nicht von der Vergangenheit reden, aber ich versichere Dir, meine Kleine, dass ich absolut verstehen kann, wie groß Deine Leiden während dieser zwei Jahre waren. Es ist sehr hart für mich gewesen, diese Leiden auf keinerlei Weise lindern zu können ... Doch dies ist nicht der Augenblick, um solche Erinnerungen an die Oberfläche kommen zu lassen, nicht wahr? Freuen wir uns am Glück unserer kleinen Anita Leocadia. Sicher hast Du dieselben Nachrichten wie ich von unserer Tochter erhalten, weißt also schon von ihren Fortschritten. Ihr Wachstum ist wirklich bemerkenswert, ich kann mir schon vorstellen, dass sie so groß wird wie Du. In Kürze erhalten wir beide ein neues Foto von der Kleinen – das verspricht mir unsere Mutter – und dann lerne ich ihr Lächeln kennen und Du kannst feststellen, dass unser Liebling glücklich ist und von Zärtlichkeit umgeben lebt.
Ich möchte Dich zu Deinen Fortschritten im Portugiesischen beglückwünschen. Ich kann sie an Deiner richtigen Beurteilung des Meisterwerks von Alencar erkennen. Ich weiß, dass Du nicht an alle romantischen Übertreibungen des Autors glaubst, doch ich meine auch zu verstehen, dass Du mit dem wissenschaftlichen Pessimismus des großen Naturforschers Humboldt nicht einverstanden bist, der gesagt hat, in der Natur Brasiliens sei alles groß außer dem Menschen ... Auch wenn man die Figur von Peri1 nicht idealisiert, war der große Weise (und Humboldt war ein wahrer Weiser) ungerecht zu unseren Indigenen, die jahrhundertelang heroisch gegen die Sklaverei kämpften. Doch zurück zum Portugiesischstudium. Jetzt wäre es an der Zeit, einige unserer moderneren Schriftsteller zu lesen und zwei unserer größten Dichter kennenzulernen – Gonçalves Dias2 und Castro Alves3. Vielleicht kann Dir Mama einige Bücher dieser Autoren senden. Mit diesem Brief sende ich Dir zwei schöne Sonette voller Natürlichkeit und Inspiration. Du wirst den wahren Sinn unzähliger Wörter erfassen können. Ich hoffe, diese kleinen Gedichte machen Dir ein wenig Freude, denn ich weiß, wie gut es in unserer derzeitigen Lage tut, für einen Augenblick der traurigen Wirklichkeit zu entkommen und unsere Gedanken etwas Schönem zuzuwenden, das in uns das Gefühl von Vollkommenheit erwecken kann. Du wirst verstehen, dass ich Dir das Beste von dem sende, was mir zufällig unter die Hände gekommen ist.
Du schreibst auch über Deine Handarbeiten und ich kann Dir versichern, dass ich Dich beneide, ich wünschte, ich könnte auch so etwas machen. Mit Freude warte ich auf eine Deiner Strickarbeiten, auch wenn die Hitze hier es fast unmöglich macht, derartiges zu tragen. Den grauen »Pullover«, den Du mir noch hier in Rio gestrickt hast, habe ich sehr wenig getragen. Doch manchmal freue ich mich an ihm. Du kennst meine Vorliebe für solche »Reliquien«, nicht wahr?
Über mein Leben kann ich Dir wieder nichts Neues erzählen. Um die Gesundheit steht es nicht schlecht, und ich tue mein Möglichstes, um diese endlosen Tage auszufüllen. Von meiner Lieblingszerstreuung habe ich Dir noch nicht berichtet, denn Du kennst sie ja bereits: mir über knifflige Probleme den Kopf zerbrechen. Es bereitet mir immer wieder ein kleines Vergnügen, mich nach großer Anstrengung an den Beweis eines Lehrsatzes zu erinnern oder an die Ableitung einer Formel, die ich seit Langem vergessen hatte. Heute habe ich mir den Kopf zerbrochen, bis ich mich wieder an die Formel für die Seitenberechnung des regelmäßigen Zehnecks erinnert habe und, was noch schwerer war, an das grafische Vorgehen bei seiner Konstruktion. Das sind so meine mathematischen Spielereien ... Meine derzeitige Lektüre ist ein Buch über die Geschichte der Französischen Revolution, das ich vor einigen Tagen aus Paris erhalten habe. Doch es ist Zeit zu schließen, Liebe. Ich hoffe, dass Du weiterhin sehr auf Deine Gesundheit acht gibst und dass Du neben dem halben Liter Milch auch etwas Obst kaufen kannst. Mit meinen besten Wünschen für Deine Gesundheit umarme ich Dich von ganzem Herzen. Dein
Karli
Soneto de Coelho Neto4
Ser mãe é desdobrar fibra por fibra
o coração; ser mãe é ter no alheio
Lábio que suga o pedestal do seio
A vida onde o amor, cantando, vibra.
Ser mãe é ser anjo que se libra
Sobre um berço dormido; é ser anseio,
É ser temeridade, é ser receio,
É ser força que os males equilibra.
Todo o bem que a mãe goza é bem do filho,
Espelho em que se mira afortunada,
Luz que lhe põe nos olhos novo brilho.
Ser mãe é andar chorando num sorriso,
Ser mãe é ter u...