Helden und Legenden
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Helden und Legenden

oder: Ob sie uns heute noch etwas zu sagen haben

  1. 248 Seiten
  2. German
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Helden und Legenden

oder: Ob sie uns heute noch etwas zu sagen haben

Über dieses Buch

30 Autoren aus Literatur, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Religion und Politik heute denken nach über alte Begriffe.Helden und Legenden - das ruft Phantasien auf, Erinnerungen an einst Gehörtes. Archetypisches rückt ins Bewusstsein, vielleicht melden sich auch Zweifel: Kann man heute noch etwas mit »Helden" anfangen? Wenn ja: Was?Lässt sich mit Legenden überhaupt noch leben? Muss man nicht einfach mit einer entzauberten, post-heroischen Welt Vorlieb nehmen, sich in sie schicken?Möglicherweise ist es gerade andersherum: Sind Helden und Legenden gerade in einer verdinglichten Welt nicht eigentlich unverzichtbar?Autorinnen und Autoren aus den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens - aus Politik, Literatur, Philosophie, Musik, Wissenschaft, Kunst, Publizistik und Religion - stellen sich in diesem Band dem Nachdenken über Helden und Legenden und zeigendabei Herkunft und Zukunft des einen wie des anderen.Mit Beiträgen von Lukas Bärfuss, Thomas Brose, Christopher Paul Campbell, Alfred Denker, Josef Früchtl, Jürgen Hardeck, Stephan Grätzel, Joachim Hofmann-Göttig, Alexander Holzbach, Anja Kruke, Hermann Kurzke, Sibylle Lewitscharoff, Markus Lüpertz, Olaf Mückain, Eckhard Nordhofen, Jens Reich, Patrick Roth, Brigitte Seebacher, Peter Steinacker, Andreas Tacke, Martin W. Ramb, Abt Andreas Range, Marie-Luise Reis, Holger Zaborowski, Henrike Maria Zilling, Jens Zimmermann, Theo Zwanziger.

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Information

LUKAS BÄRFUSS

Die schwarze Halle

Frau Hoffmann, was haben Sie mir mitgebracht.
Einige Fragen, Hot Berry.
Nichts weiter.
Was haben Sie erwartet.
Alles, Frau Hoffmann, ich erwarte immer alles.
Vergangene Woche hat der Staatsanwalt formell Klage gegen Sie erhoben. Er wirft Ihnen Steuerbetrug in Millionenhöhe vor. Wie sehen die Grundzüge Ihrer Strategie aus.
Welche Strategie.
Wie werden Sie sich verteidigen.
Ich verteidige mich nicht. Ich habe mich noch nie verteidigt.
Ihnen drohen sechs Jahre Gefängnis.
Keine Sorge, Frau Hoffmann, mir droht gar nichts.
Man hat in den letzten Jahrzehnten wiederholt versucht, Sie des Betrugs, der Gründung einer kriminellen Organisation, der Nötigung und des sexuellen Missbrauchs zu überführen. Jedes Mal vergeblich. Ihre Organisation und Sie selbst waren bis anhin unantastbar. Und nun könnten Sie wegen einiger Steuermillionen die nächsten Jahre hinter Gitter verbringen. Man fragt sich, warum Hot Berry nicht einfach seine Steuerrechnung bezahlt.
Weil ich niemandem nichts schulde, Frau Hoffmann.
Das heißt, Sie haben Ihre Steuern beglichen.
Hören Sie nicht zu. Ich habe keine Schulden. Wie könnte ich begleichen, was ich nicht schulde. Wenn man mir den Vertrag zeigt, auf dem meine Unterschrift steht, wenn man mir den Schuldschein präsentiert, mit dem ich irgendeine Verpflichtung eingegangen bin, dann werde ich gerne meine Obliegenheiten regeln.
Steuern werden voraussetzungslos geschuldet. Das müsste Ihnen bekannt sein.
Eine voraussetzungslose Schuld. In die man geboren wird und von der man sich nie befreien kann. Ich dachte, unsere Gesellschaft hätte dieses Stadium überwunden.
Der Staat braucht Mittel, um die Infrastruktur zu unterhalten, Infrastruktur, auf die auch Sie angewiesen sind, Straßen, Wasserleitungen, die Gehälter für das öffentliche Personal.
Wie können Sie wissen, worauf ich angewiesen bin, Frau Hoffmann. Wie lange kennen wir uns. Ich habe nicht um diese Dinge gebeten. Nicht um Wasserleitungen, nicht um Straßen. Um gar nichts habe ich gebeten.
Sie haben Bücher geschrieben über die emanzipatorische Kraft der Armut, über das wahre Glück, über die innere Befreiung. Doch offensichtlich sind Sie selbst nicht frei von niederen Trieben.
Was sind niedere Triebe.
Gier zum Beispiel.
Ich werde Ihnen sagen, was passiert ist. Dieser Staat, der sich an die Stelle der alten Götter gesetzt hat, kommt und verlangt Geld. Ich sage: Ich anerkenne dich nicht. Ich werde dir nicht opfern. Der Staat, dieser Götze, sagt: Du musst bezahlen. Ich sage: Gut, ich werde die Schuld begleichen, wenn du mir sagst, wie ich mich verpflichtet habe. Der Staat antwortet: Du hast dich nicht verpflichtet, du bist verpflichtet. Und ich sage: Zeige mir wenigstens den Schuldschein, den Vertrag, unter den ich meine Unterschrift setzte. Das ist mein gutes Recht. Und der Staat, dieser große Gott, antwortet: Es gibt keinen Vertrag, es gibt keinen Schuldschein. Und ich frage: Warum sollte ich also das Opfer bringen. Und der Staat entgegnet: Weil wir dich sonst büßen. Weil du sonst ins Gefängnis wanderst. Weil wir dich mit Schande überhäufen. Mit welchem Recht, frage ich. Und als Antwort erhalte ich: Mit dem Recht des Stärkeren. Bin ich gierig, weil ich dieses Unrecht nicht anerkenne. Dann bin ich gerne gierig.
Sie haben diese Welt nicht leer vorgefunden. Sie leben von den Leistungen der Generationen vor Ihnen. Sollten nicht auch Sie etwas zurückgeben.
Ich gebe nicht, Frau Hoffmann, ich nehme nur.
Und Sie nehmen eine ganze Menge. Auf dem Weg zu Ihnen bin ich an riesigen Hallen vorbeigekommen, gefüllt mit gebrauchten Gütern des täglichen Lebens. Fernsehgeräte, Teppiche, Autos, Geschirr. Eine Halle, zum Beispiel, durfte ich besuchen, da lagen in schweren Kisten nichts als Orangenpressen, in einer anderen stapeln sich Wäschetrockner, ferner allerhand Sportgeräte wie Skier, Tennisschläger, Bein- und Armschoner aller möglichen Disziplinen, daneben Schraubenzieher, Lötkolben, Mikroskope, und, sehr berührend, einige Hallen voller Teddybären und Kuscheldecken. Hot Berry, warum bringen Ihnen die Menschen ihr gesamtes Hab und Gut.
Weil ich nicht frage. Weil ich nicht prüfe. Weil ich alles nehme, jeden Dreck und jede Schande.
Man bringt nicht nur Dreck. Ich sah auch eine Halle voller Preziosen, Diademe, Hochzeitsringe, Krawattennadeln.
Das ist der größte Dreck. Was man Ihnen wegnehmen könnte. Worauf Sie aufpassen müssen, jeden Tag und jede Stunde.
Womit werden die Menschen für diese Geschenke entschädigt.
Geschenke, Frau Hoffmann, das sind keine Geschenke. Mit Geschenken macht man Sklaven. Für jedes Geschenk erwartet man ein Gegengeschenk, und dafür ein Gegengegengeschenk, und immer so weiter, ad infinitum.
Was ist Ihre Gegenleistung.
Ich verstehe nicht.
Was erhalten die Menschen von Ihnen.
Nichts.
Sie gehen leer aus.
Was verstehen Sie daran nicht, Frau Hoffmann.
Ich verstehe nicht, warum ein vernünftiger Mensch auf seinen hart erarbeiteten Besitz verzichtet, wenn er ganz und gar leer dabei ausgeht.
Genau deshalb. Um leer auszugehen.
Man hat gehört, dass man Ihnen alles, das ganze Vermögen überlassen muss. Einzelne Teile würden Sie nicht akzeptieren.
Wie gesagt, ich nehme alles. Ich frage nicht.
Ich kann Ihnen also zum Beispiel mein altes Frittieröl bringen.
Sie dürfen gerne damit anfangen, Frau Hoffmann. Die meisten, die zu mir kommen, beginnen mit dem Leichten.
Und überschreiben Ihnen schließlich den ganzen Besitz, das ganze Vermögen, bis sie dastehen im Unterhemd.
Es standen tatsächlich viele Menschen nackt vor mir, genau an der Stelle, wo Sie jetzt stehen. Und es ging ihnen nicht schlecht dabei, das kann ich Ihnen versichern.
Sie predigen Besitzlosigkeit – und gehören selbst zu den Reichsten unter den Reichen.
Ich predige nicht, Frau Hoffmann, ich habe nie gepredigt.
Das Material, das Sie den Menschen abnehmen, verscherbeln Sie zu Schleuderpreisen und machen damit weltweit die Märkte kaputt. Zum Schaden der normalen Geschäftsleute, die ihre Ware nicht geschenkt bekommen, sondern kaufen müssen. Ist das gerecht.
Sind das Ihre Fragen, Frau Hoffmann. Sind Sie wirklich deswegen gekommen. Um mich der Scharlatanerie zu überführen, der Lüge und der Heimtücke. Sind Sie gekommen, um Hot Berry die Maske des Menschenfreundes vom Gesicht zu reißen, um der Welt zu zeigen, welche Fratze sich hinter diesem ungemein liebevollen Lächeln verbringt. Das war doch stets Ihre Aufgabe, nicht wahr. Sie haben Georg Brandt getroffen und geknackt, Sie haben William Cage getroffen und geknackt, die Dietrich, so hat man mir erzählt, hätten Sie nach vierundzwanzig Minuten geknackt gehabt, und das im Alter von keinen fünfundzwanzig Jahren. Ihr Ruf als Knackerin ist unerreicht. Monumente haben Sie vom Sockel gerissen, den Mächtigen die Maske vom Gesicht. Die Kollegen nennen Sie den Nussknacker, habe ich recht, weil Sie alle Widerstände überwinden, jeden Trick durchschauen. Und jetzt also, Frau Hoffmann, habe ich diesen Soldaten zu erwarten, der mich zwischen seine Kiefer nehmen und mich der Schale entledigen wird, die mich geschützt hat ein Leben lang, bis zur Erstarrung, zur Versteinerung. Sind Sie wirklich gekommen, um mich mit anfänglich harmlosen Fragen einzulullen, wie Sie es mit Maréchal gemacht haben, diesem Tyrannosaurus Rex der modernen Soziologie, wie Sie ihn beiläufig genannt haben, und der Sie viel zu lange und fatalerweise als Komplizin wähnte, bevor Sie ihm mit der dreizehnten Frage das Messer in die Rippen stießen und umdrehten, dreimal, mit einer Triole von kurzen, präzisen Nachfragen. Oder lieber die andere Methode. Gleich zu Beginn einen rhetorischen Pflasterstein ins Gesicht und meine Visage zerschmettert zurückzulassen wie bei diesem philosophischen Langstreckenläufer, der danach seine Plattitüden über den inneren Marathon der menschlichen Psyche zu sich selbst nur noch undeutlich mit blutigen Lippen stammeln konnte, bis Sie ihn nach der Endlosigkeit von dreiundvierzig Fragen mit Ihrer berühmten Schlussformel »Ich danke Ihnen aufrichtig für dieses Gespräch« zurück in die Peinlichkeit seiner Existenz entließen. Welche Instrumente haben Sie für mich bereitgelegt, werden Sie mich aufschneiden, kitzeln, sprengen, was. Möchten Sie nun auch Hot Berry erlegen, sind Sie es nicht langsam müde, Frau Hoffmann, haben Sie nicht genug Trophäen. Und haben Sie keine Angst vor dem, was zum Vorschein kommen könnte, Frau Hoffmann, vor diesem Entblößten, der, wenn Sie Erfolg haben, bald vor Ihnen stehen könnte.
Angst nicht, Hot Berry, aber ich muss zugeben, dass der Gedanke an Ihre Blöße nicht nur mit angenehmen Empfindungen verbunden ist. Und nein, ich bin meiner Arbeit nicht überdrüssig. Weil ich der Wahrheit nicht überdrüssig bin. Ich möchte zum Beispiel wissen, was es mit der schwarzen Halle auf sich hat.
Die Menschen bringen nicht nur, was Sie als Preziose bezeichnen, nicht nur das Hü...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Einleitung
  5. Patrick Roth: Tombstone. Letzte Begegnung mit Henry Fonda
  6. Lukas Bärfuss: Die schwarze Halle
  7. Joachim Hofmann-Göttig: Meine Helden: Die Koblenzer Trümmerfrauen und -männer
  8. Theo Zwanziger: Helden im Sport
  9. Thomas Brose: Antiheld – Übersetzer – Brückenbauer. Zur Erinnerung an den Dichter Henryk Bereska
  10. Eckhard Nordhofen: Karl macht langsam oder: Wie einer mit dem Pinsel gegen die Zeit kämpft
  11. »Helden sind für mich meine Kinder.« Markus Lüpertz über die Bedeutung von Helden
  12. Sibylle Lewitscharoff: Über Helden und eine große Figur, die kein Held ist
  13. Henrike Maria Zilling: Die »Torheit des Kreuzes« als Heldengeschichte?
  14. Hermann Kurzke: Maria
  15. Alexander Holzbach Sac: San Vincenzo Pallotti. Ein Porträt von Michael Triegel
  16. Jens Zimmermann: Bonhoeffer: Held des Glaubens?
  17. »Mir sind die Demütigen lieber.« Ein Gespräch mit Abt Andreas Range O.Cist. über Helden und Heilige
  18. Andreas Tacke: Die Helden-Legenden-Schmiede: Das 19. Jahrhundert
  19. Anja Kruke: Karl Marx – ein Held für heute? Eine Spurensuche
  20. Peter Steinacker: Bemerkungen zu Wagners Vorliebe für Heldensagen und Mythen
  21. Olaf Mückain: Richard Wagners Siegfried. Vom Archetypus zum Helden der Zukunft
  22. Marie-Luise Reis: Heldengedenken. Ein Gedichtzyklus
  23. Thomas Menges: Odysseus 2015. Zu Marie-Luise Reis’ Bild »Der Tomatenpflücker« und ihrem Gedicht »Für Bootsflüchtlinge«
  24. Thomas Menges: Das Fenster des »Wiederaufbauers« von Markus Lüpertz in der Dorfkirche Gütz bei Landsberg
  25. Josef Früchtl: Das Spiel ernst nehmen. Zur Selbstreflexion der Heldenfigur im Film
  26. Stephan Grätzel: Der Held aus philosophischer Sicht
  27. Jürgen Hardeck: Idole und Idolatrie
  28. Michael Hochschild: Das Nano-Ego des postmodernen Helden
  29. Christopher Paul Campbell: Der absurde Held als eindimensionaler Mensch
  30. Alfred Denker: Der Mann von la Mancha: ein unerwarteter Held
  31. Martin W. Ramb: Der Esel als Antiheld im Reich der Tiere
  32. »Wenn es darauf ankam, hat er immer sehr klare Entscheidungen getroffen.« Ein Gespräch mit Brigitte Seebacher über Willy Brandt
  33. Jens Reich: Menschen haben gehandelt. Kein Determinismus des geschichtlichen Ablaufs
  34. Holger Zaborowski: Von der Zukunft der Helden
  35. Verzeichnis der Mitwirkenden
  36. Dank
  37. Impressum