1.1 Internationalistische Weltliteratur
Zwischen der Novemberrevolution und dem Ende der Weimarer Republik entstand transnational eine Weltliteratur der Arbeiterbewegung, die bisher in den gegenwärtig florierenden Debatten über literarische Globalisierung und Weltliteratur unbeachtet geblieben ist. Literaturgeschichtlich stellt diese internationalistische Weltliteratur nichts weniger als das erste Projekt dar, organisatorisch, diskursiv und ästhetisch eine Weltliteratur zu schaffen, die mit einer politischen und sozialen Massenbewegung verbunden sein sollte. Durch sie kam es ganz grundsätzlich erstmals zu einem breit angelegten Versuch, die seit dem neunzehnten Jahrhundert zuerst im deutschsprachigen Raum und dann transnational zirkulierende Idee der Weltliteratur durch kulturpolitische und literarische Praktiken zu verstetigen und zu institutionalisieren.
Internationalistische Weltliteratur rückte proletarische Welten in den Mittelpunkt ihrer literarischen Imagination und erzeugte diese durch Organisationen wie die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei für Alle (UBFA) und die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS); durch Wissenstransfers in Zeitschriften wie Arbeiter-Literatur; durch Veranstaltungen wie den zweiten Kongress proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow (1930); durch Übersetzungen von fremdsprachiger proletarischer Literatur; durch Versuche, bestimme Autoren wie Jack London in Deutschland zu kanonisieren; durch eine literaturgeschichtliche Neuerfindung von Weltliteratur als Gegensatz von zwei transnationalen Klassenliteraturen; durch den Aufbau grenzübergreifender Kommunikationsnetzwerke, durch die die Zeitschrift Die Linkskurve, die amerikanische New Masses und die japanische Senki verbunden waren; und nicht zuletzt durch literarische Texte selbst, die wie die Werke von Franz Jung, Anna Seghers und Egon Erwin Kisch proletarische Welten durch avantgardistische Verfahren wie die Montage und Gattungen wie die Reportage entwarfen.
Die durch vielfältige kulturelle und mediale Praktiken erzeugten proletarischen Welten internationalistischer Weltliteratur standen zu proletarischen Welten in literarischen Texten im Verhältnis. Auf beiden Ebenen wurde den Aktivisten und Aktivistinnen sowie dem Lesepublikum eine internationalistische Weltbeziehung ermöglicht, wodurch sie sich als Teile einer „vorgestellten Gemeinschaft“ internationalistischer Weltliteratur erfahren konnten.1 Internationalistische Weltliteratur erzeugte so inner- und außerhalb des literarischen Textes eine proletarische Moderne der Arbeiterbewegung. Diese erstreckte sich von Deutschland und Ungarn über Russland und Tadschikistan, über China und Japan bis in die USA. Die Literatur-, Kultur-, Sozial- und Mediengeschichte dieser internationalistischen Weltliteratur der Weimarer Republik ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.
Die Rekonstruktion dieser Geschichte erfordert allerdings ein neues theoretisches Nachdenken über Weltliteratur. Die Ideengeschichte von Weltliteratur einschließlich der zeitgenössischen Weltliteraturtheorie wird nämlich vor allem von Varianten der Prämisse dominiert, dass die Welt in verschiedene Kulturen und Zivilisationen geteilt sei, welche verschiedene Literaturen hervorgebracht hätten, und dass zugleich eine transkulturell und transhistorisch geteilte Humanität globale Kommunikation und Interaktion ermögliche.2 Die internationalistische Weltliteratur der Zwischenkriegszeit unterscheidet sich von dieser dominanten Strömung in der Ideengeschichte der Weltliteratur nun grundsätzlich dadurch, dass sie nationale, kulturelle und sprachliche Differenzen sowie ein humanistisches Menschheitsverständnis durch die Vorstellung einer durch einen Klassengegensatz strukturierten Welt an den Rand rückt und den Polen dieses Gegensatzes, also dem Bürgertum und dem Proletariat, unterschiedliche Klassenliteraturen zuordnet. Mit dem theoretischen Handwerkzeugs zeitgenössischer Weltliteraturtheorie lässt sich diese historische Form der Weltliteratur nicht angemessen beschreiben, da erstere sich bestenfalls auf literarische Machtverhältnisse und -asymmetrien konzentriert, die zu Nation, Kultur, Sprache, race oder Ethnizität in Beziehung stehen. Aus diesem Grund entwickelt mein Buch einen Beitrag zur Weltliteraturtheorie, der sich gewissermaßen emisch an der historisch konkreten Form von Weltliteratur orientiert, die es untersucht.3 Meine Monografie macht das Verhältnis von globaler sozio-ökonomischer Stratifikation und transnationalen literarischen Öffentlichkeiten zum Gegenstand ihrer theoretischen Überlegungen. Auf diese Beziehung hatte der Diskurs internationalistischer Weltliteratur in den 1920er und 1930er Jahren bereits selbst verwiesen, selbstverständlich jedoch mit einem anderen theoretischen Instrumentarium und Vokabular. Dabei wird die Monografie vor allem auch zeigen, dass eine der Leerstellen der zeitgenössischen Weltliteraturtheorie (und dies betrifft gerade auch ihre soziologischen Varianten) tatsächlich darin besteht, dass sie Fragen nach transnationalen Öffentlichkeiten, die im Verhältnis zu globaler sozio-ökonomischer Stratifikation stehen – und die sich also gerade nicht ausschließlich oder auch nur primär durch Kultur, Nation oder Sprache bestimmen lassen –, nicht angemessen diskutieren und oftmals nicht einmal stellen kann. Im Zuge meiner kritischen Rekonstruktion der Geschichte der internationalistischen Weltliteratur in der Weimarer Republik leistet das vorliegende Buch deshalb auch einen Beitrag zur Weltliteraturtheorie, indem es den Ansatz einer Theorie transnationaler literarischer Gegenöffentlichkeiten entwickelt und erprobt.
Dass ein bis dahin in einer solchen Breite ungekanntes weltliterarisches Projekt gerade im Rahmen der Arbeiterbewegung und historisch ab ca. 1918/19 entstand, ist keineswegs ein Zufall. Wie Régis Debray und Katerina Clark gezeigt haben, ist die Geschichte der Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis zu den real existierenden sozialistischen Staaten geradezu von einer Obsession mit der Druckkultur geprägt – mit Literatur in einem weiten, nicht auf kanonisierte Gattungen beschränkten Sinne. Literatur war sozial- und kulturgeschichtlich eine Bedingung für das Entstehen und das Fortbestehen der Arbeiterbewegung. Dies gilt sowohl in einer sehr praktischen Weise, da zum Beispiel Drucker in der frühen Arbeiterbewegung eine große Rolle spielten und das Wort Sozialismus erstmals vom französischen Setzer Pierre Leroux verwendet wurde, als auch insofern die Bewegung später einen veritablen „cult of the book“ entwickelte, welcher sich zum Beispiel darin äußerte, dass während des Kalten Krieges nirgends so viele Bücher pro Kopf gedruckt wurden wie in den kommunistischen Staaten, wo sich auch die meisten öffentlichen Bibliotheken pro Einwohner bzw. Einwohnerin befanden.4 Die praktische und diskursive Verbindung von Weltliteratur und Internationalismus gehört fraglos zu dieser Kulturgeschichte. Sie findet sich erstmals prominent in der Präambel zum Manifest der Kommunistischen Partei formuliert, in der Karl Marx und Friedrich Engels ankündigen, dass der Text durch seine Übersetzung in mehrere Sprachen transnational verbreitetet werden sollte.5 Erfüllte sich diese Hoffnung der Autoren auf eine weltliterarische Zirkulation des Manifests erst Jahrzehnte später,6 so blieb auch die Idee einer proletarischen Weltliteratur – abgesehen von einigen frühsozialistischen Diskussionen und trotz der grenzüberschreitenden Zirkulation von Texten der Arbeiterbewegung – lange bestenfalls randständig.7 Dies galt gerade auch für den deutschsprachigen Raum, in welchem trotz eines theoretischen Bekenntnisses zum Internationalismus oftmals nationale und lokale Imaginationen in der Arbeiterbewegung dominierten.8 Kann in der engen Beziehung von Arbeiterbewegung und Literatur eine kulturgeschichtliche Bedingung für das Entstehen einer internationalistischen Weltliteratur gesehen werden, entwickelte sich diese Form der Weltliteratur als literarische Praxis und Diskurs erst infolge des Ereignisses der Russischen Revolution.
Im Kontext des Erfolgs der Oktoberrevolution und der letztlich niedergeschlagenen europäischen Rätebewegung – beispielsweise in Deutschland oder in Ungarn – kam es nämlich nicht nur zu einer verstärkten Reisetätigkeit von Aktivistinnen und Aktivisten.9 Es ereignete sich vor allem auch eine Intensivierung der transnationalen Zirkulation linker Literatur, die teilweise durch die kulturellen Organisationen Sowjetrusslands betrieben oder unterstützt und teilweise durch andere gegenöffentliche Vernetzungen, wie zum Beispiel die Arbeit syndikalistischer Gewerkschaften, ermöglicht wurde.10 Mit dem Proletkult entstand zur selben Zeit erstmals eine einflussreiche Literaturbewegung, die sich als genuin proletarisch verstand und sich – im Unterschied zu früheren und späteren Debatten über eine Literatur der Arbeiterbewegung – radikal von einem bürgerlichen Erbe und bürgerlichen Schriftstellern abzugrenzen versuchte. Der Proletkult – wie auch die 1919 von Henri Barbusse gegründete Organisation Clarté – katalysierte das transnationale Entstehen einer proletarischen Literatur, wodurch sich zum Beispiel die neue Gattung des proletarischen Romans g...