Sklavennatur und Menschennatur im politischen Denken des Aristoteles
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Sklavennatur und Menschennatur im politischen Denken des Aristoteles

  1. 174 Seiten
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Sklavennatur und Menschennatur im politischen Denken des Aristoteles

Über dieses Buch

Die Studie behandelt das für die Politische Philosophie des Aristoteles zentrale Motiv der Bezugnahme auf Natur und natürliche Gegebenheiten am Beispiel der Aussagen zur Sklaverei. Die in diesem Zusammenhang behauptete Ungleichheit unter den Menschen – die Konzeption einer Sklavennatur – scheint im Widerspruch zu zentralen Lehrstücken von Aristoteles' allgemeiner Anthropologie zu stehen, insbesondere zu der These von der Vernunftbegabung des Menschen, zu seinem Streben nach Eudaimonia, das sich gerade in der Betätigung der Vernunft erfüllt, und zu der Bestimmung des Menschen als politisches Lebewesen. Unterbreitet wird ein Vorschlag, wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann: Die Menschennatur birgt eine Variationsbreite möglicher Realisierungen. Sie umspannt die Extreme der Orientierung am Logos einerseits und des Lebens nach angeborenen Instinkten andererseits und weist ein großes Spektrum auf, das vom Animalischen zum Göttlichen reicht. Dabei können Handwerker und arbeitende Freie durchaus hinter Sklaven zurückfallen, wie einzelne, Barbaren' zu Philosophen aufzusteigen vermögen.

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Information

1 Einleitung

1.1 Sklaverei – ein menschliches Grundverhältnis? Eine erste Problemskizze

Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.1
Dieses berühmte Fragment des Vorsokratikers Heraklit ist für moderne Forschungsarbeiten zur Sklaverei im antiken Griechenland immer noch eine Herausforderung. Denn bezogen auf die kontroversen und oft leidenschaftlich geführten Debatten über die Sklaverei und die Möglichkeiten ihrer Überwindung scheint der Philosoph hier klar Stellung zu beziehen: Die Sklaverei ist in der Verfassung der Welt begründet. So wie „alles“ dem Krieg entstammt, so bleibt es auch durch extreme Gegensätze gekennzeichnet.2 Anhand der Gegensatzpaare ,Freie – Sklaven‘ und ,Götter – Menschen‘ expliziert Heraklit bestimmte Facetten seiner Lehre von der Einheit der Gegensätze als einer „nichtoffenkundigen Harmonie“3. Die Sklaverei ist Folge des Krieges, der Sieger und Besiegte, Freie und Unfreie, Herrschende und Beherrschte hervorbringt.4 Diese Gegensätze bleiben, so legt es die Sentenz nahe, auch in Friedenszeiten bestehen. Jede Verfassung beruht auf der Unterscheidung Herrschender und Beherrschter, sei es in der Monarchie des einen im Fragment erwähnten Königs von seinen Untertanen oder in der attischen Demokratie der wenigen Bürger von den vielen von der Teilhabe an der Polis5 Ausgeschlossenen – darunter auch die große Gruppe der Sklaven. Selbst innerhalb der Familie findet das Prinzip Anwendung: Wie ein König herrscht dort der Vater. Und in allen drei Fällen gilt, dass die Teile eines Gegensatzpaares sich gegenseitig bedingen: Ohne Kind kein Vater, ohne Untertan kein König, ohne Freie keine Sklaven, und jeweils umgekehrt.
So beständig das Prinzip, so wenig statisch sind bei Heraklit die Verhältnisse im Einzelnen: Könige kommen und gehen, Jungen wachsen zu Bürgern und Vätern heran, der Sieger im Krieg macht die Besiegten zu seinen Sklaven, unter sehr glücklichen Umständen kauft ein anderer sie wenig später frei. Das Ringen um Herrschaft, das der Krieg ist, und das – wenngleich unter anderen Vorzeichen – auch im Frieden andauert, bedeutet beständige Veränderung und ist eben darin ein Allgemeines.6
Die politischen Verhältnisse wiederum sind durch Recht und Verfassung geordnet und auch diese sind der kontinuierlichen Veränderung unterworfen: Ist die Sklaverei heute als Verstoß gegen die Menschenrechte erkannt und geächtet, war sie in der griechischen Antike ein selbstverständliches „Institut des Völkergewohnheitsrechts. Der Sieger im Krieg verzichtete […] auf sein Tötungsrecht.“7 Die Institution der Sklaverei trat somit an die Stelle des unmittelbaren gewaltsamen Todes, dem freilich lediglich die Unmittelbarkeit genommen, der umgewandelt und aufgeschoben wurde. Denn ihrer Rechte als Menschen beraubt, sterben die Sklaven – so die klassische These Orlando Pattersons – stattdessen den social death, und oft führt die Gewalt, der sie durch die Herrschenden ausgesetzt sind, über kurz oder lang zu ihrem Tod.8 Ist die Gewalt, über jemanden zu herrschen, heute als Gewaltmonopol des Staates eingegrenzt und durch die Grund- und Menschenrechte relativiert, war die Sklaverei in der Zeit des Heraklit wie des Aristoteles gewöhnliche Herrschaftspraxis und als Teil der sie umgebenden Welt Voraussetzung ihres Denkens.9 Diesen Widerspruch muss aus- und gegenwärtig halten, wer sich mit der Sklaverei in der griechischen Antike befasst.
Das zweite bei Heraklit erwähnte Gegensatzpaar ,Gott – Mensch‘ sensibilisiert uns dafür, dass Gegensätzliches in anderer Hinsicht gleichgestellt sein kann. Denn die im Fragment unterschiedenen Gruppen – die Väter, Könige, Sklaven und Freien – sind als Menschen allesamt den Göttern unterlegen. Der freie griechische Mann ist zugleich ein Beherrschter (nicht nur von den Göttern, sondern immer wieder auch als einzelner Polisbürger, der mal ein zeitlich befristetes Staatsamt innehat, mal den Beschlüssen eines anderen Amtsinhabers folgen muss)10 und in den Gemeinschaften von Herr und Sklave und von Vater und Kind ein Herrschender.
Während die Sklaverei Heraklit als ein Einzelnes zur Veranschaulichung eines größeren kosmischen, begründenden und immer gleichbleibenden Zusammenhangs dient und in den uns erhaltenen Fragmenten nur dieses eine Mal begegnet, widmet ihr Aristoteles im ersten Buch der Politik längere Passagen in mehreren Kapiteln. Hinzu kommen Abschnitte in Buch VII sowie einzelne Sätze in den Büchern II–VI und VIII und den anderen Werken seiner Praktischen Philosophie, also den Ethiken und der Rhetorik. Damit ist die Aristotelische Behandlung der Sklaverei die wohl „eindringlichste und systematischste theoretische Analyse der Institution, die wir aus der Antike überhaupt besitzen“11. Für Moses Finley handelt es sich gar um „the only surviving ancient attempt at an analysis of slavery“, dem er „attitudes and ideological overtones […] in thousands of passages throughout the literature“12 gegenüberstellt. Sie allein ist Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung und wird im Folgenden interpretiert und in den Gesamtzusammenhang der Politischen Philosophie des Aristoteles eingebettet. Begonnen habe ich dennoch mit Heraklit, weil sich vor dem Hintergrund des eingangs zitierten Fragments vier für die Aristotelische Theorie der Sklaverei zentrale Voraussetzungen besonders gut aufzeigen lassen.
i) Wie Heraklit behandelt auch Aristoteles die Sklaverei vor allem als Herrschaftsverhältnis, als Verbindung des Hausvorstands mit seinen Sklaven, und somit relational. Dabei richtet sich das Erkenntnisinteresse des Philosophen im ersten Buch der Politik primär auf die Aufgaben und Ziele des freien griechischen Mannes, der innerhalb des oikos13 (der wiederum ein Teil des Staates ist und deshalb zur Aristotelischen Politischen Theorie gehört)14 unterschiedlichen Gemeinschaften vorsteht. „Der vollkommene Haushalt aber besteht aus Sklaven und Freien.“15 Aus Sicht des Hausherrn ergeben sich dabei drei qualitativ unterschiedliche zwischenmenschliche Verhältnisse: die Verbindungen von Ehemann und Ehefrau, Herr und Sklave sowie Vater und Kind.16 In jeder dieser Gemeinschaften hat der freie griechische Mann ein Gegenüber, das andere Voraussetzungen mit sich bringt und andere Aufgaben hat und in je eigener Weise beherrscht zu werden verlangt,17 soll es ihm – und durch ihn der Polis – „nützlich“18 sein. Die dem Verhältnis Herr – Sklave entsprechende Herrschaftsform ist die despotische, die Aristoteles von anderen, für die Polis relevanteren Herrschaftsformen abgrenzt.19 Der durch dieses Verhältnis hervorgebrachte Nutzen ist die Befreiung des Herrn von der Arbeit.20 Vom Standpunkt des Aristoteles her gedacht, ist die Sklaverei daher nicht nur eine selbstverständliche Einrichtung des Völkergewohnheitsrechts,21 sondern für seine Politische Philosophie, die sich im Ganzen auf die Polis als Bürgergemeinschaft (zu der die Sklaven nicht gehören) und das Ziel des vollkommenen Lebens (von dem die Sklaven ausgeschlossen sind) richtet, eine notwendige Vorbedingung neben anderen und als solche von systematisch untergeordnetem Interesse: „Wenn sie aber in Gemeinschaft getreten und zusammengekommen sind, um nicht allein zu leben, sondern vielmehr um gut zu leben? Denn in jenem Fall hätten auch Sklaven oder andere Lebewesen Poleis: Nun gibt es diese aber nicht, da sie keinen Anteil am Glück haben und auch nicht an einem Leben in Selbstbestimmung.“22
ii) In den Büchern II–VIII der Politik, die nicht oikonomischen Fragen, sondern der im engeren Sinne politischen Sphäre und im Besonderen dem Thema ,Verfassung‘23 gewidmet sind, überwiegt daher – wie im eingangs zitierten Fragment Heraklits und auch bei Platon – die illustrative Verwendung von Sklaventerminologie.24 Das Leben der Sklaven dient hier als ein Negativ, um ein positives Bild des Lebens der Freien zu zeichnen oder ganz allgemein politisches Handeln zu veranschaulichen.25 Despotisch beherrscht zu werden, recht- und besitzlos und nicht autark zu sein – dieser Zustand ist als ,sklavisch‘ charakterisiert, wie auch Armut, Genusssucht, Kriecherei und Feindseligkeit gegenüber dem Staat als typische Merkmale der Sklaven gelten und von dort auf den Bereich des Politischen übertragen werden.26 Insbesondere die Bücher II–VI und VIII nehmen kaum auf die Sklaverei Bezug und wenn doch, so geschieht dies, um politisches Handeln – häufig negativ das des Tyrannen – anhand von Beispielen zu illustrieren.27 Dies führt mitunter auch dazu, dass der Begriff des ,Sklaven‘ eine Ausweitung erfährt, etwa wenn er auch auf Handwerker angewandt wird, sofern diese nicht gänzlich frei sind, sondern von ihrer Hände Arbeit leben und lebensnotwendige Dinge herstellen.28 Auch dienen die unterschiedlichen Herrschaftsweisen innerhalb des Hauses als Paradigmata unterschiedlicher Herrschaftsweisen innerhalb des Staates: Wie ein König herrscht der Vater über das Kind, wie ein Tyrann der Herr über seine Sklaven.29
Halten wir als ein Zwischenfazit für die folgenden Überlegungen fest: Konstitutiv für die Aristotelische Politische Theorie im Ganzen ist die Funktion der Sklaverei für die Polis, die darin besteht, die freien griechischen Männer für die Politik und die Philosophie freizustellen.30 Es geht vorrangig um den partiellen Nutzen, der mittels Sklaven erreicht werden kann: die Bereitstellung des Lebensnotwendigen.31 Insofern dies allererst Voraussetzung für die politische und philosophische Tätigkeit des Herrn ist, ist die Sklaverei gleichsam vorpolitisch. Die Sklaven kommen als Werkzeuge innerhalb des Hauses und als Besitztümer des Herrn in den Blick.32 Darüber hinaus dienen Bezugnahmen auf die Institution dem Aristoteles – wie auch Heraklit – vor allem zur Veranschaulichung grundlegender Strukturen und Prinzipien. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, hat dieser Befund wichtige Implikationen für den Charakter und die Reichweite der Aristotelischen Theorie der Sklaverei.
iii) Im nicht-metaphorischen Sinne verweist Heraklit mit dem Krieg auf eine der faktischen Hauptquellen der Sklaverei und damit auf die Wechselhaftigkeit der Verhältnisse.33 Denn als eine selbstverständlich zu erwartende Folge einer Niederlage im Krieg konnte die Sklaverei grundsätzlich jeden, besonders aber die Frauen und Kinder, betreffen – ein vielfach beklagtes Schicksal, das beispielsweise im zeitgenössischen Theater immer wieder thematisiert wurde. Aristoteles hingegen führt mit den Sklaven ‚von Natur‘ eine Kategorie von Menschen ein, die aufgrund von spezifischen Veranlagungen – ungeachtet ihres faktisch gegebenen rechtlichen Status! – zum Sklaventum disponiert sind. Spielen bei Heraklit Krieg, Vater und König Schicksal, ist die Entscheidung über den Niedrigstatus bei Aristoteles von vornherein gefallen: „Denn das Herrschen und das Beherrschtwerden gehört nicht nur zu den notwendigen, sondern auch zu den nützlichen Dingen, und manche Dinge sind sogleich von der Geburtsstunde an getrennt, das eine auf das Beherrschtwerden, das andere auf das Herrschen hin.“34
Dies wiederum hat die folgende Implikation: Sind die Sklaven – wie in Punkt i) – als Besitztümer und Werkzeuge näher bestimmt, so liegt der durch ihren Gebrauch gewonnene Nutzen einseitig beim Herrn.35 Handelt es sich bei diesen Sklaven jedoch zusätzlich um ohnehin zur Sklaverei disponierte Menschen, entsteht auch für diese ein – wenngleich untergeordneter36 – Nutzen: Eines selbstbestimmten Lebens nicht fähig, so das Argument, profitieren Sklaven ,von Natur‘ von der Leitung durch den Herrn. Daher kann auch von einem Verlust der Freiheit bei diesen Menschen kaum noch die Rede sein und ist ihre Versklavung gerechtfertigt. Was zunächst als bemitleidenswertes Schicksal erscheint, präsentiert Aristoteles an einzelnen Stellen als eine gute und gerechte Ordnung, sofern das Herrschaftsverhältnis der Natur der beteiligten Menschen entspricht: „Was hingegen von Natur herrscht und beherrscht wird, (verbindet sich) zu seiner Erhaltung. Denn was fähig ist, mit dem Verstand vorauszuschauen, herrscht von Natur und ist Herr von Natur, was aber fähig ist, diese Dinge mit dem Körper zu verrichten, wird beherrscht und ist Sklave von Natur. Herren und Sklaven ist deshalb dasselbe nützlich.“37 Und: ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Danksagung
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Aristoteles’ Theorie der Sklaverei. Zugänge und Textgrundlage
  7. 3 Aristoteles als ein konventioneller Denker der Sklaverei
  8. 4 Die Rechtmäßigkeit der Herrschaft des Herrn über die Sklaven: Aristoteles im philosophischen Diskurs
  9. 5 Bezugnahmen auf Natur und natürliche Gegebenheiten in der Sklavereitheorie des Aristoteles
  10. 6 Schlussbetrachtung
  11. Abkürzungsverzeichnis
  12. Literaturverzeichnis
  13. Begriffsregister
  14. Stellenregister