Nelson Mandela
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Nelson Mandela

  1. 128 Seiten
  2. German
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Nelson Mandela

Über dieses Buch

"Afrikas Lichtgestalt" wurde Nelson Mandela genannt, das Time-Magazine kürte ihn zu einem der zwanzig wichtigsten Politiker des 20. Jahrhunderts, 1993 erhielt er den Friedensnobelpreis. Stephan Bierling portraitiert den Politiker und Revolutionär, aber auch den Menschen aus Fleisch und Blut, der heute fast ganz von seinem eigenen Mythos verstellt wird. Er schildert kenntnisreich und sensibel, was Mandela antrieb und was er bewirkte, wie er die langen Jahre der Haft ungebeugt bewältigte und schließlich zur moralischen Instanz eines ganzen Zeitalters wurde.

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Information

Verlag
C.H.Beck
Jahr
2018
ISBN drucken
9783406721168
eBook-ISBN:
9783406721175

1. Der Junge vom Land

Am Abend seines Lebens kehrte Nelson Mandela oft dorthin zurück, wo er aufgewachsen war und eine glückliche Kindheit verbracht hatte: in die rollenden grünen Hügel und saftigen Weiden der Transkei, nach Qunu, 640 Kilometer südlich von Johannesburg gelegen direkt an der N2, der Schnellstraße von Kapstadt nach Durban. Selbst als Präsident Südafrikas residierte er noch an vielen Feiertagen und am Weihnachtsfest in seinem Bungalow aus großen roten Ziegelsteinen und mit seinen Rundbögen im spanischen Stil. Den Bauplan hatte Mandela selbst im letzten seiner 27 Gefängnis-Jahre entworfen, den Grundriss übernahm er 1:1 vom Haus seines dortigen Wärters. Er wählte die Lage seines Heims in der Überzeugung, «ein Mann sollte sterben, wo er geboren wurde».
Zur Welt gekommen war Mandela am 18. Juli 1918 in dem kleinen Dorf Mvezo, wenige Kilometer südlich von Qunu. Sein Vater Gadla Henry Mandela gab ihm den Namen Rolihlahla, was «am Ast eines Baumes ziehen» heißt und umgangssprachlich «Unruhestifter» bedeutet. Er gehörte zu den Thembus, einem der fünf Hauptstämme des Xhosa-Volks, das seit dem Mittelalter aus der Region der Großen Seen in die Transkei eingewandert war. In der Sprache der südafrikanischen Ureinwohner, der Khoisan, bedeutet Xhosa «die wütenden Männer». Mandela sollte seinem Vornamen und dem Namen seines Volks als junger Mann alle Ehre machen. Innerhalb ihres Stamms gehörten die Mandelas zum Madiba-Clan, benannt nach einem Thembu-König aus dem 18. Jahrhundert. Später titulierten viele Bewunderer Mandela respektvoll «Madiba». Der Clan zählte also zur königlichen Linie der Thembu, allerdings nicht zum Haupthaus. Damit waren die Mandelas keine Thronaspiranten, sondern Berater des Königs. Mandelas Mutter Nosekeni war die dritte der vier Frauen Henrys, bei denen der Vater abwechselnd lebte und mit denen er dreizehn Kinder hatte – beides Zeichen relativen Wohlstands. Nosekeni oder Henry hatten wahrscheinlich Khoisan-Vorfahren, auch bekannt unter den abfälligen Namen Hottentotten oder Buschmänner, auf jeden Fall legen dies Mandelas tiefhängende Augenlider, hohe Wangenknochen und heller Teint nahe.
Wenige Jahre nach der Geburt Rolihlahlas verlor Henry seine Position als Häuptling, geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten und schickte Nosekeni mit ihren vier Kindern in die Nähe ihrer Verwandten nach Qunu – eine kleine Siedlung von Rundhütten, gebaut aus einem Gemisch aus Lehm, Schlamm und Kuhdung und mit reetgedeckten, spitz zulaufenden Dächern. Die Hütten der paar Dutzend Familien standen meist um ein Viehgehege, den Kraal, und unweit der Felder. Die Mandelas hatten drei Rundhütten: eine zum Kochen, eine zum Schlafen, eine für Vorräte. Zu essen gab es Mais, Sorghumhirsen, Bohnen und Kürbis, zu trinken in Kalebassen aufbewahrte Sauermilch. Nur wenige reiche Familien konnten sich Tee, Kaffee oder Zucker leisten. Mit Freunden streifte Mandela durch die Hügel und Wiesen, zu Hause erwartete ihn eine liebevolle Großfamilie und, meist für eine Woche im Monat, ein strenger Vater, der absoluten Gehorsam erwartete und auf die strikte Einhaltung der Thembu-Bräuche achtete. Mit fünf, als Hirtenjunge, lernte Mandela, welch zentrale Rolle Rinder im Leben der Xhosa spielten. Sie waren Lieferant von Fleisch und Milch, Zahlungsmittel und Zeichen für den Wohlstand eines Stammesmitglieds. Das Afrika aus dem Bilderbuch mit seinen wilden Tieren und Nationalparks lernte Mandela nicht kennen, dieses Afrika blieb den Weißen vorbehalten und war unerreichbar für Schwarze. Er musste 38 Jahre alt werden, um seinen ersten Elefanten zu sehen. Auch damit unterschied sich Mandelas Kindheit kaum von der seiner schwarzen Altersgenossen.
Das änderte sich, als christliche Freunde Nosekeni und Henry vorschlugen, ihren aufgeweckten Jungen auf eine Missionsschule zu schicken. Obwohl Mandelas Eltern nicht lesen und schreiben konnten, erkannten sie, dass Ausbildung der einzige Weg war, weiterzukommen. Die Zeit der bäuerlichen Lebensweise neigte sich selbst in der Transkei ihrem Ende zu, die Moderne und mit ihr die formale Schulung zogen langsam in die Stammesgebiete ein. Mit sieben besuchte Mandela als erster in der Familie eine Schule. Wie auf dem Land üblich, so bestand sie auch in Qunu aus einem Klassenzimmer für alle Altersstufen. Zur Feier des ersten Schultags schenkte Henry seinem Sohn eine seiner alten Hosen, schnitt sie an den Knien ab und band sie ihm mit einer Schnur um die Hüfte. Bis dahin hatte Mandela nur eine Wolldecke getragen, die um die Schulter geschlungen und von einer Nadel zusammengehalten wurde. «Ich muss einen komischen Anblick geboten haben», schrieb Mandela in seiner Autobiografie, «doch nie habe ich ein Kleidungsstück besessen, auf das ich stolzer gewesen wäre als auf meines Vaters abgeschnittene Hose.»
An seinem ersten Schultag erhielt Mandela von seiner schwarzen Lehrerin auch den Vornamen, der ihn bekannt und berühmt machen sollte: Nelson. Der Grund dafür war einfach. Die weißen Missionare hatten Schwierigkeiten, die afrikanischen Namen auszusprechen. Mandelas Schule betrieben Methodisten, die ihn wie schon seine Mutter auch gleich tauften. Zwei Jahre später ereilte Mandela ein Schicksalsschlag, der sein Leben dramatisch veränderte. Sein Vater starb an einer Lungenkrankheit. Mit dem Ausfall des Ernährers und Versorgers war Mandelas Schulbesuch bedroht. Da die Familie mit dem Königshaus verwandt war, ließ der amtierende Thembu-Herrscher Jongintaba den Jungen in seine unweit von Qunu gelegene Residenz Mqhekezweni bringen. Das königliche Quartier bestand aus zwei großen rechteckigen Häusern mit weiß getünchten Wänden und Wellblechdächern, umgeben von sieben Rundhütten. Etwas Eindrucksvolleres hatte der junge Mandela nie gesehen. Noch dazu trug der König einen eleganten Anzug und fuhr einen «majestätischen … Ford V8», das einzige Auto in der ganzen Region. Kein Wunder, dass sich der weiße Magistrat, die oberste Autorität in der Transkei, mehrmals mit dem «extravaganten Lebensstil» und den konstanten Geldnöten des Königs befasste. Jongintaba und seine Frau kümmerten sich mit der gleichen Zuneigung um Mandela wie um ihre eigenen Söhne und schickten ihn weiter zur Schule. Mehr als zehn Jahre lang sollte der König sein Vormund und Förderer sein. Als Mandela mit 15 ins einhundert Kilometer entfernte Clarkebury-Internat in Qokolweni kam, schenkte ihm der König Anzug und Stiefel, fuhr ihn persönlich hin und stellte ihn dem Rektor vor. Dieser war der erste Weiße, dem Mandela die Hand schüttelte.
Zu Mandelas prägendsten Eindrücken am Hof Jongintabas zählte es, die traditionelle Entscheidungsfindung zu beobachten. Bei den Treffen hörte der König den – ausschließlich männlichen – Beratern und Häuptlingen aufmerksam zu und griff nie in die Diskussionen ein, selbst wenn er kritisiert wurde. Erst am Schluss versuchte er, einen Konsens herzustellen. Ein Treffen konnte nur in Einstimmigkeit enden oder ergebnislos. Mandela betonte in seinen Memoiren, wie wichtig dieses Erlebnis von «Demokratie in ihrer reinsten Form» für seinen eigenen Führungsstil gewesen war. Auch nach der formalen Annexion Thembulands durch die Briten 1885 hatten die Könige große Macht behalten, etwa bei der Landvergabe und der Streitschlichtung. Die Kolonialherren schätzten sie als Mittler zwischen ihnen und der schwarzen Bevölkerung und bezahlten sie sogar. Aber die Könige und Häuptlinge brauchten bei ihrer Wahl nicht nur die Zustimmung der Stammesältesten, sondern auch die Bestätigung der weißen Behörden, und formal gehörten Grund und Boden der britischen Krone.

Als Schwarzer im Land der Weißen

Als Mandela heranwuchs, war die Herrschaft der Weißen fest etabliert in Südafrika. Begonnen hatte die europäische Besiedelung des Landes, als die Niederländische Ostindien-Kompanie 1652 einen Versorgungsposten am Kap einrichtete und sich langsam ins Landesinnere ausbreitete. Aufgrund ihrer strategischen Bedeutung für den Seeweg nach Indien übernahm das aufstrebende Britische Empire während der Napoleonischen Kriege die Kapkolonie. Da die Briten den niederländischstämmigen Siedlern, den Buren («Bauern»), die Expansion ins Gebiet der Xhosa und den Sklavenhandel untersagten, kam es zu Spannungen zwischen den alten und den neuen Herren. Sie eskalierten, als London in den 1830er Jahren auch den Besitz von Sklaven verbot. Ein Fünftel der Buren, etwa 15.000 Personen, verließ daraufhin die Kolonie und zog im «Großen Trek» nach Nordosten. Dort gründeten die Voortrekker, wie sie sich selbst nannten, drei unabhängige Republiken: Transoranje, Transvaal und Natalia. Bei der Ausbreitung nach Natal brachen Kämpfe mit den einheimischen Zulus aus, die mit dem Sieg der Buren endeten. Aus Furcht vor einem Buren-Staat mit Zugang zum Indischen Ozean marschierten kurz darauf britische Truppen in Natalia ein und errichteten eine eigene Kolonie mit dem Namen Natal. Viele der dort ansässigen Buren flohen in die anderen beiden Republiken im Landesinneren, wo sie abgeschieden ihre eigene Kultur und Gesellschaft entwickelten. Der Große Trek wurde zum Gründungsmythos der neuen Buren-Nation, die überzeugt war, ihre Unabhängigkeit gegen imperialistische Briten und feindselige Schwarze verteidigen zu müssen. Unter der Führung von Paul Kruger, dem Präsidenten von Transvaal, entwickelten die Buren den Mythos eines auserwählten Volks, das Gottes Mission in Südafrika erfüllen soll.
In den 1860er Jahren lebten die drei Bevölkerungsgruppen in separaten politischen Einheiten: in zwei britischen Kolonien, zwei Buren-Republiken und mehreren großen afrikanischen Königreichen. Auch wirtschaftlich hatten sie wenig miteinander zu tun. Das änderte sich schlagartig, als man in Transvaal 1867 Diamanten entdeckte und 1886 Gold. Auf einmal besaß das südliche Afrika, dessen Ökonomie bis dahin auf Selbstversorgungs-Landwirtschaft basierte, wertvolle Exportgüter. Die Funde lösten einen Zustrom ausländischen Kapitals und eine Massenimmigration aus. In Transvaal verachtfachte sich die weiße Bevölkerung innerhalb weniger Jahre, und Hunderttausende Schwarze suchten Arbeit in den Goldminen und neu entstehenden Städten. Fast alle Minen standen unter Kontrolle der Briten. Nicht zuletzt um sich billige Arbeitskräfte zu sichern, eroberten sie in den 1870er und 1880er Jahren unter anderem die unabhängigen afrikanischen Königreiche der Xhosa und Zulus, konfiszierten das meiste Land und führten Steuern ein. Schwarze Männer, die bisher freiwillig in den Minen gearbeitet hatten, mussten sich nun zu den Bedingungen der Eigentümer verdingen. Ihre Frauen und Kinder ließen diese Arbeitsmigranten auf dem Land zurück, wo sie von Ackerbau und den Geldsendungen ihrer Männer lebten. Viele Merkmale des späteren Apartheid-Systems wie die Passgesetze, die städtischen Ghettos oder die verarmten Homelands gehen auf diese Zeit der industriellen Revolution Südafrikas zurück.
Mit der Entdeckung von Diamanten und Gold verschärften sich auch die Spannungen zwischen Briten und Buren. Da die Buren kaum über Investitionskapital und Know-how verfügten, gerieten die Minen rasch in britische Hand. Die Profite flossen nach Europa und in die USA und trugen wenig zur industriellen Entwicklung der Burenrepubliken bei. Als die Buren versuchten, über eine Besteuerung der Gewinne einen Teil des Wohlstands im Land zu halten, gerieten sie in Konflikt mit den Minenbetreibern, den europäischen Investoren und schließlich der britischen Regierung. London beschloss deshalb, Transvaal und den Oranje-Freistaat in eine südafrikanische Föderation unter seiner Kontrolle einzugliedern. Aber die Burenrepubliken widersetzten sich einer unfreundlichen Übernahme und erklärten Großbritannien 1899 den Krieg. In ihm sahen sie den ersten antikolonialistischen Kampf der modernen Geschichte in Afrika. Die Kosten des von beiden Seiten äußerst brutal geführten Konflikts waren immens. Die Briten verloren 22.000 Soldaten, die Buren 7000. Härter noch traf es die Zivilbevölkerung. Auf die Guerilla-Taktik der militärisch unterlegenen Buren antworteten die Briten mit einer Politik der verbrannten Erde, die in der Zerstörung von 30.000 burischen Farmen und der Einrichtung von Konzentrationslagern gipfelte. Von den 110.000 internierten Buren starben 28.000 an Auszehrung und Krankheiten, 94 Prozent davon Frauen und Kinder. Auch sperrten die Briten viele Schwarze, die in den Burengebieten lebten und ihnen meist nicht feindlich gesinnt waren, in eigene Lager. 115.000 Afrikaner wurden so im Laufe des Kriegs interniert, mehr als 10 Prozent von ihnen kamen um.
Die Briten kostete der Konflikt mehr als jede andere militärische Auseinandersetzung seit den Napoleonischen Kriegen, auch wurde er in der Heimat immer unpopulärer. Trotz ihrer militärischen Niederlage 1902 gelang es den Buren deshalb, London ein günstiges Friedensabkommen abzutrotzen. Das unterstellte die beiden Republiken zwar der britischen Krone, aber die Buren erhielten Kompensationen für ihre Eigentumsverluste und die Zusage, sich selbst verwalten zu dürfen. Von den fehlenden politischen Rechten der Schwarzen – dem vorgeschobenen Interventionsgrund der Briten – war nicht mehr die Rede. Im Gegenteil, die Furcht, die Schwarzen könnten aufgrund ihrer aktiven Teilnahme am Krieg eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und politischen Lage fordern, ließ Briten und Buren zusammenrücken. Das Wahlrecht zum Beispiel sollten Schwarze nur erhalten, solange es – in den Worten des britischen Gouverneurs für die neuerworbenen südafrikanischen Kolonien, Alfred Milner – «die gerechte Vorherrschaft der weißen Rasse» nicht gefährdete. Zudem lag es im gemeinsamen Interesse von Briten und Buren, die Minenindustrie mit einem ausreichenden Pool billiger schwarzer Arbeiter zu versorgen. Schwarze sollten deshalb nicht das Recht haben, Land über eine bestimmte Größe hinaus zu besitzen, ihre eigene Regierung zu wählen oder ihren Arbeitsplatz oder Wohnort selbst zu bestimmen.
Buren und Briten zielten darauf ab, die Rassen zu trennen und die weiße Vorherrschaft zu institutionalisieren – das war die Basis für die Gründung der Südafrikanischen Union im Jahr 1910. Alle Abgeordneten im Parlament des neuen Staats mussten «von europäischer Abstammung» sein. In Transvaal und im Oranje-Freistaat durften de jure und in Natal de facto nur weiße Männer wählen, in der Kapkolonie bis in die 1930er Jahre auch einige ökonomisch besser situierte Schwarze und Farbige, wie alle Personen genannt wurden, die weder in die Kategorie «weiß» noch «schwarz» fielen. Dabei stellten die Weißen, je zur Hälfte Briten und Buren, bei der Volkszählung 1903 nur 22 Prozent, die Schwarzen jedoch 67 Prozent der gut fünf Millionen Südafrikaner. Die Politik der Rassentrennung sicherte die politischen und wirtschaftlichen Vorrechte der Weißen auf Kosten der Schwarzen. 1911 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das Schwarze von der Übernahme der meisten Fach- und Vorarbeiter-Positionen in den Minen ausschloss. Im selben Jahr legte ein weiteres Gesetz fest, dass sich schwarze Arbeiter in Städten ausschließlich mit Pässen und nur für die Länge ihres Arbeitsvertrags aufhalten durften. Jede Verletzung dieser Vorgaben wurde mit Zwangsarbeit bestraft. Als Schwarze mit Streiks dagegen protestierten und sich in Gewerkschaften zusammentaten, schränkte die Regierung ihre Rechte ein, sich zu organisieren und Arbeitsverträge auszuhandeln.
Um zu erzwingen, dass Schwarze trotz aller Diskriminierungen weiter Arbeit in den Minen und auf den Farmen der Weißen suchten, belastete die Regierung sie mit hohen Steuern, unter anderem auf Hütten und Hunde. Auch erlaubte sie den Schwarzen lediglich, Land in zugewiesenen Gegenden von meist schlechter Qualität zu besitzen. Damit machte sie es ihnen unmöglich, einen eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, und schaltete sie als Konkurrenten der weißen Farmer aus. Weil nicht alle Schwarzen nach Ablauf ihrer Verträge in ihre Stammes-Reservate zurückkehrten und viele als Haushilfen in den Städten arbeiteten, wies ihnen die Regierung dort abgesonderte Wohngebiete zu, sogenannte «Townships». 1927 erhielt das «Eingeborenen-Ministerium» die Kontrolle über alle Angelegenheiten, die Schwarze betrafen. Die Reservate machten nur 13 Prozent der Fläche Südafrikas aus. Die Machthaber in Pretoria regierten sie durch Verordnungen, nicht reguläre Gesetze, und installierten dort eigene Verwaltungen. Die Schwarzen wurden zu rechtlosen Arbeitsmigranten degradiert, die nicht einmal in ihren überbevölkerten und verarmten Siedlungen das Sagen hatten. So lebte fast die Hälfte aller erwerbsfähigen Männer der Transkei in den 1920er Jahren nicht bei ihren Familien. In Orten wie Qunu, wo Mandela aufwuchs, gab es daher vor allem Kinder, Frauen und Greise.

Zögling der Missionsschulen und politisches Erwachen

Auch wenn Mandela immer wieder mit den Folgen der weißen Rassentrennungspolitik konfrontiert wurde, standen für ihn in jener Zeit andere Fragen im Mittelpunkt. Als 16-Jähriger musste er sich dem Beschneidungs-Ritual unterziehen, das bei den Xhosa den Übergang vom Jungen zum Mann markiert. Mit 30 anderen Jungen begab er sich zu zwei abgelegenen Hütten, bekam den Kopf geschoren, den Körper weiß bemalt – und in zwei schnellen, schmerzvollen Schnitten die Vorhaut abgetrennt. Es bereitete ihm später schelmisches Vergnügen, Staatsmänner zum Erbleichen zu bringen, wenn er ihnen in plastischen Details die blutige Prozedur schilderte. Im letzten Teil der Zeremonie hielt der Bruder des Königs eine Rede, in der er den frisch Beschnittenen die Illusion nahm, jetzt Männer zu sein. Die Schwarzen seien vielmehr ein besiegtes Volk, Sklaven im eigenen Land. Die jungen Männer zögen in die Stadt, lebten in Bretterverschlägen, tränken Fusel und ruinierten ihre Lungen in den Minen, und alles nur, damit der weiße Mann in einzigartigem Wohlstand leben konnte. Sie seien Häuptlinge, die niemals herrschten. Mandela war wütend darüber, dass man ihm den Ehrentag mit solch «unwissenden und beleidigenden Bemerkungen» verdarb. Die Weißen betrachtete er damals «nicht als Unterdrücker, sondern als Wohltäter».
Aber langsam wandelte sich Mandelas Einstellung gegenüber den Weißen, ohne sich schon zu einem festen Weltbild zu fügen. Obwohl in der Transkei, dem größten Reservat im Land, traditionelle Formen schwarzer Selbstregierung fortbestanden, sah er, dass das letzte Wort beim Eingeborenen-Ministerium und seinen Magistraten lag. Diese Fremdbestimmung selbst im eigenen Stammesgebiet empfand der junge Mandela als zutiefst ungerecht. Als er 1964 im Gefängnis auf seinen Prozess wartete, schrieb er in unveröffentlichten biografischen Aufzeichnungen: «[Mein] politisches Interesse wurde erstmals geweckt, als ich als Jugendlicher den Stammesältesten in meinem Dorf zuhörte. Die Ältesten erzählten von den guten alten Tagen vor der Ankunft des Weißen Mannes. Damals lebte unser Volk friedlich unter der demokratischen Herrschaft seiner Könige und Berater und bewegte sich frei im gesamten Land. Damals gehörte das Land uns.» In seinen Memoiren berichtet Mandela von Erzählungen Häuptling Joyis, wie die gierigen Weißen die schwarzen Völker des südlichen Afrika gegeneinander aufgehetzt und ihnen das Land weggenommen hätten. Das habe ihn zornig gemacht, und er habe sich betrogen gefühlt. Später musste er allerdings herausfinden, dass nicht alles in diesen Geschichten der Wahrheit entsprach. Tatsächlich hatte ein Thembu-König in den 1870er Jahren die Briten um Schutz und Aufnahme seines Volks in ihr Kolonialreich gebeten, weil er in Fehde mit einem rivalisierenden Stamm lag.
Auch ein anderes Ereignis brachte den jungen Mandela in Kontakt mit der Politik der Weißen. In seinen Memoiren und in fast allen Biografien wird erzählt, wie sein Vater Mitte der 1920er Jahre seine Position als Häuptling und damit Einkommen und Status verlor, weil er sich einer Vorladung des Magistrats widersetzte. Mandela interpretierte die Weigerung später als einen Akt legitimen Widerstands gegen die weißen Autoritäten und betonte, wie er diese «stolze Aufsässigkeit» und diesen «unbeugsamen Sinn für Fairneß» seines Vaters in seiner eigenen Persönlichkeit erkannte. Der Vorfall mag Mandela geprägt haben, selbst wenn er zu jung war, um ihn bewusst miterlebt zu haben. Doch es gibt auch eine andere Version. Mandela-Biograf David Smith fand heraus, dass der Magistrat Henry seines Amts enthob, weil dieser Land unrechtmäßig gegen Geld und Rinder verteilte. Dieses oft bei traditionellen Stammesgesellschaften anzutreffende Patronage- und Abhängigkeitssystem betrachteten die weißen Herren als Korruption. Auf jeden Fall lag der Fall komplizierter, als Mandela in seinen Erinnerungen berichtet.
In der Schule machte sich Mandela so gut, dass ihn Jongintaba 1937 an das methodistische Missions-College Healdtown in Fort Beaufort schickte. Obwohl er dort weiße und schwarze Lehrer hatte, war der Lehrplan rein britisch. Die viktorianische Atmosphäre seiner Schulzeit mit ihrer Betonung von Disziplin, Fleiß und Pünktlichkeit prägte Mandela ein Leben lang. Allein zur Religion hielt er Distanz. Stets missbilligte er starkes Trinken und Fluchen. Auch auf körperliche Fitness, ein gepflegtes Äußeres und ordentliche Kleidung legte er Wert. Bei seinem ersten Deutschlandbesuch 1996 rüffelte er eine Delegation der Grünen, die in Jeans und Turnschuhen auftrat. Wie wenig ausgeformt Mandelas Sicht der Weißen noch war, zeigt seine spätere Bemerkung, er und seine Mitstudenten wollten zu dieser Zeit nichts lieber als «black Englishmen» werden. In Healdtown, wo er überaus strebsam und erfolgreich war, begegnete Mandela erstmals Schwarzen, die keine Xhosa waren, und begann, seinen Stammes-Chauvinismus zu hinterfragen.
Mit 21 durfte er ans Elite-College von Fort Hare in Alice gehen, einer Kleinstadt unweit von Fort Beaufort. Bei seiner Gründung 1916 war Fort Hare die einzige höhere Bildungsstätte nach westlichem Vorbild auf dem ganzen Kontinent gewesen, die Schwarzen offenstand. Mandela bewunderte die moderne Einrichtung, erstmals benutzte er Zahnbürste und Zahnpasta, Toiletten mit Wasserspülung und Duschen mit warmem Wasser. Eigentlich hatte die Regierung Fort Hare als Beruhigungspille für die Schwarzen gegründet, da sie im Ersten Weltkrieg Unruhen befürchtete. Aber schon bald machte sich dort ein unabhängiger Geist breit. Viele spätere Widerstandskämpfer wie der ANC-Präsident und enge Weggefährte Mandelas Oliver Tambo oder Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu besuchten Fort Hare. Auch die späteren Präsidenten Sambias, Botswanas, Tansanias und Simbabwes – Kenneth Kaunda, Seretse Khama, Julius Nyerere und Robert Mugabe – erhielten hier ihre akademischen Weihen. Als Mandela 1939 nach Fort Hare kam, war es mit seinen 150 Studenten die führende Hochschule für Schwarze im sü...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Zum Buch
  4. Über den Autor
  5. Widmung
  6. Inhalt
  7. Vorwort
  8. 1. DER JUNGE VOM LAND
  9. 2. POLITISCHE LEHRJAHRE
  10. 3. DER FREIHEITSKÄMPFER
  11. 4. DER WEG IN DEN UNTERGRUND
  12. 5. DER RIVONIA-PROZESS
  13. 6. HÄFTLING Nr. 466/64
  14. 7. DER VERHANDLER
  15. 8. DER PRÄSIDENT
  16. 9. VERMÄCHTNIS
  17. Kommentierte Auswahlbibliografie
  18. Bildnachweis
  19. Zeittafel
  20. Personenregister
  21. Karte
  22. Impressum