1 Arn von Salzburg und die Salzburger Sermones-Sammlung
1.1 Erzbischof Arn von Salzburg
Am 24. Mai 802 schrieb Alkuin einen langen Brief an Arn, den Erzbischof von Salzburg, in dem er u.a. von den Reformbemühungen Karls des Großen berichtete. An des Kaisers gutem Willen sei nicht zu zweifeln, erwähnte der Angelsachse, aber Karl verfüge nicht über so viele adiutores iustitiae wie über subversores, er hätte nicht so viele praedicatores wie praedatores. Die meisten würden nämlich ihren Vorteil suchen und nicht Gott.1 Dies war eine pessimistische Sicht auf ein eigentlich ehrgeiziges Unternehmen Karls des Großen, das in dem großen Kapitular von Aachen desselben Jahres seinen Ausdruck gefunden hatte. Aber der Angelsachse war damals schon hoch betagt, krank und vom Hof weit entfernt.
Ähnliche Gedanken hatte er bereits wenige Jahre zuvor, 796, als er noch angriffslustiger war, gegenüber dem Kämmerer Meginfred geäußert. Damals kämpfte der Angelsachse noch mit großer Überzeugung darum, sein Konzept der friedlichen Wortmission am Hof durchzusetzen. Anhand der fehlgeschlagenen Befriedung der Sachsen könne man die Probleme eines Missionsgedankens erkennen, der sich zu sehr an Härte orientiert hatte. „Die Zehnten zerstören den Glauben der Sachsen“, schrieb Alkuin an den Hofbeamten. Wenn das leichte Joch Christi und die angenehme Bürde dem härtesten Volk der Sachsen mit derselben Emsigkeit gepredigt worden wäre, wie der Zehnte eingetrieben worden war, dann hätte es wohl keinen Widerstand gegen das Sakrament der Taufe gegeben, argumentierte er. Die Missionare sollten praedicatores sein, keine praedatores, forderte er daraufhin. Dies alles sei dem Kaiser zwar bekannt, aber es würde an geeigneten adiutores fehlen.2
Zu diesen wenigen praedicatores zählte Alkuin ganz offensichtlich den Salzburger (Erz-)Bischof. Mehrfach verwies der Angelsachse auf die bedeutsame Rolle Arns als pastor.3 796 meinte er in dem berühmten Brief, der auf die Bedeutung des Namens des Salzburger Bischofs anspielt, als Adler würde er mit dem schärfsten Blick seiner spirituellen Augen von der Höhe seiner Gnade die vom Wellengang umtosten Fische aus dem Meer dieser Welt ziehen.4
Die Bedeutung Arns als Prediger wird nicht nur daraus ersichtlich, dass der Angelsachse den Salzburger mehrfach in seinen Briefen als einen der wenigen hervorhob, der in diesen tempora periculosa überhaupt zu predigen vermochte, sondern auch in der Bezeichnung, die er diesem zuteil werden ließ. Christus war für Alkuin der praedicator totius mundi5, oder der praedicator beatissime pacis.6 Paulus wird mehrfach als egregius praedicator,7 einmal als pius praedicator angesprochen.8 Nur zwei seiner Zeitgenossen wurden vom Angelsachsen in einem Brief mit dem Titel praedicator bezeichnet. Der eine war Fridugis, der Nachfolger Alkuins als Abt von Tours. Er wird an einer Stelle robustus praedicator et insuperabilis doctor genannt.9 Arn jedoch bekam von Alkuin das Prädikat clarissime verbi Dei praedicator zugesprochen.10 Diese Bezeichnung beruhte nicht allein auf der Freundschaft zwischen dem Angelsachsen und dem Salzburger, sondern verdeutlicht die bedeutsame Rolle Arns als Prediger und Autor im Allgemeinen.
In den letzten Jahren wurde das Profil des Salzburger Erzbischofs als Autor durch einige Publikationen und Neufunde geschärft.11 Vom Briefwechsel Arns sind nur zwei kurze Schreibenvon seiner Seite überliefert.12 Vertraut man der jüngeren Literatur, fällt eines davon sogar aus und muss Alkuin zugerechnet werden.13 Aus seiner Feder scheint auch die auf Basis einer älteren Vorlage verfasste Instructio generalis zu stammen.14 Längst ist Arn als Verfasser des Reinigungseides Leos III. bekannt.15 Harald Willjung stellte diesem Text ein Gutachten Arns zum filioque zur Seite, das als Vorlage für das Konzil in Aachen 809 gewählt wurde.16 Um 790 und 800 hat er jeweils die Erstellung eines Besitztitelverzeichnisses auf Basis des heute verlorenen Libellus Virgilii erstellen lassen.17 Dem Umkreis Arns ist wahrscheinlich auch der von Arno Borst edierte Traktat „De sole et luna“ zuzurechnen.18 Obwohl Hartmut Hoffmann einige berechtigte Kritikpunkte an der Zuschreibung äußerte, spricht ein bisher in der Diskussion nicht berücksichtigtes Fragment aus Saint-Amand aus den ersten Jahren des 9. Jahrhunderts durchaus für eine Entstehung aus dem erweiterten Umkreis des Salzburger Erzbischofs.19 Arn scheint auch eine bedeutsame Rolle in den Debatten über die Taufe gespielt zu haben, die den Hof sehr beschäftigten.20 Ihm oder zumindest seiner Umgebung werden auch zwei Konzilsordines zugeordnet.21
Einer davon zeichnet sich durch mehrere integrierte Predigten aus, die u. a. auf Briefen Alkuins an Arn basieren. Seit Längerem ist ein Synodalsermo Arns bekannt, den er wohl in Regensburg im Jahr 806 gehalten hatte.22 Vor kurzem wurden drei kürzere Texte von H. Schneider ediert, die ursprünglich wohl aus der Feder des Salzburger Erzbischofs stammen. Es handelt sich dabei um eine admonitio, um eine theologische Einleitung zu einem Kapitular und um ein Kapitularexzerpt.23 In der admonitio, die wohl 813 erfolgte, forderte der Salzburger Erzbischof seine Hörer dazu auf, nach Jahren der Ermahnungen zu evaluieren, was ausgeführt bzw. vernachlässigt worden sei, und was sie gemeinsam ihrem Herrn melden müssten.24 Diese Worte entsprechen ganz dem entschlossenen Ton, den der Kaiser in diesem Jahr selbst angeschlagen hatte.25 Dieser Text, der gemeinsam mit einem Proömium und einem Kapitularexzerpt überliefert wird, ist der eingangs erwähnten Missi cuiusdam admonitio zur Seite zu stellen. Sie bereichert das „so facettenreiche Genre wie das der Kapitularien“ ebenso wie sie die Vielseitigkeit und Flexibilität des Salzburger Oberhirten unterstreicht.26 Denn nur in dieser spezifischen Situation, in der Arn seine Rede vor dem versammelten bayerischen Episkopat hielt, zog er diesen in eine sonst nirgends so deutlich formulierte Verantwortung für die Umsetzung der kaiserlichen Anweisungen.
Vielleicht kommt Arn oder sein Umkreis auch als Redaktor der karolingischen Version der Lex Baiwariorum in Betracht. Ähnlich wie die Redaktion ausgesuchter Kapitularien im Vaticanus latinus 7701 könnte er das bayerische Recht vor allem nach Maßgaben der Reformen von 802 ergänzt haben.27 Jüngst wurde ihm auch die Beauftragung der althochdeutschen Exhortatio ad plebem christianam zugesprochen.28
Alle diese Texte verdeutlichen die starke Rolle Arns in den intellektuellen Kreisen am Hofe Karls des Großen.29 Es mögen u. a. auch diese gelehrten Beiträge gewesen sein, die dazu verhalfen, dass der Salzburger Erzbischof an vorderster Stelle unter die Zeugen von Karls Testament gereiht wurde.30 Zu den Texten, die aus Arns Feder oder zumindest aus seinem Umfeld stammen, ist nun vor allem eine Sermones-Sammlung zu zählen, die die Zeugnisse der literarischen Tätigkeit in Salzburg im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts weiter bereichert. Diese Sammlung steht im Fokus der vorliegenden Untersuchung und sie hilft, Arns Tätigkeit in Bayern besser zu verstehen. Denn seine wichtigste Rolle dürfte die des Predigers gewesen sein.
1.2 Predigtsammlungen in Bayern
Zwischen 811 und 818 bat Erzbischof Hildebald von Köln den Abt von Mondsee, Lantperht, um die Erstellung eines Homiliars. Der zweite Teil der Sammlung ist heute noch in der originalen Handschrift erhalten.31 Sie ist nicht nur ein Zeugnis für den jüngeren Schriftstil in Mondsee, sondern auch für die hervorragende Stellung Bayerns bei der Frage der Überlieferung und Erstellung von Handschriften.32 Denn Hildebald ordnete nicht nur die Erstellung eines neuen Homiliars an, sondern brachte aus Mondsee gleich noch ein bereits bestehendes nach Köln mit.33
Was die Aufbewahrung älterer Sammlungen betrifft, so sind etwa die Homiliae XL in evangelia und die Homiliae in Ezechielem Gregors des Großen im bayerischen Raum um 800 bzw. aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts mehr als zehnmal überliefert.34 Ähnliches trifft auf die jüngeren Sammlungen, etwa auf jene des Alanus von Farfa35 oder des Paulus Diaconus, zu,36 womit nur die prominentesten Sammlungen angesprochen sind. Einige weitere Sammlungen, wie jene des Augustinus, des Caesarius von Arles, Leos des Großen, des Maximus von Turin und vieler anderer mehr sind ebenfalls mehrfach erhalten, oder ihre Existenz im Bayern des frühen neunten Jahrhunderts kann indirekt durch ihre Verwendung in kompilierten Texten aus dieser Zeit erschlossen werden.37
Wenn man schließlich jene Handschriften dazu zählt, die nur einzelne Predigten überliefern, dann erhöht sich die Zahl der Überlieferungen dieser Texte um ein Vielfaches. Noch kann niemand sagen, wie viele bisher unbekannte Texte sich darunter befinden bzw. unter welchen Gesichtspunkten diese Sammlungen angelegt wurden.38 Denn als Produktionsstätten für neue Sammlungen taten sich die bayerischen Skriptorien in dieser Zeit ebenfalls hervor. Neben dem Mondseer Homiliar wird auch der Ursprung der Sammlung des Pseudo-Bonifatius39 und der Homilien-Sammlung des Pseudo-Beda in Bayern um 800 gesucht. Dazu kommen noch das sog. „Bayerische Homiliar“40 und die genannte Salzburger Sermones-Sammlung.
Ein vergleichbarer Befund ist für die Überlieferung hagiographischer Texte im bayerischen Raum zu attestieren.41 Von der Forschung wurden bisher allein die in Bayern verfassten und oft nur bayerische Heilige betreffenden Texte als Zeugnisse „bayerischer Hagiographie“ aufgefasst und untersucht.42 Zahllose Handschriften, die Passiones, Apostelakten und Viten a...