1.1Der prominente Erstdruck
Ganz neu, und angenehm erzählt sei eine späte Redaktion des Fortunatus gemäß dem Hinweis auf einem Titelblatt aus der Zeit um 1850. Doch schon im sechzehnten Jahrhundert lässt sich Werbung mit der ‚Neuheit‘ bei zahlreichen Nach- und Neudrucken nachweisen.39 Beispielsweise versieht 1590 der Augsburger Druckherr Michael Manger seine Ausgabe des hier untersuchten Romans mit der Angabe Yetzundter von neüwem mit schoͤnen lustigen Figuren zuͦgericht. In der germanistischen Forschung gilt allerdings vor allem der ebenfalls in Augsburg erfolgte Erstdruck von 1509 im Vergleich mit der literaturgeschichtlichen Tradition in mehrerlei Hinsicht als etwas Neuartiges.40
Stichpunkte bei dieser Einschätzung sind der Bruch von Erzählkonventionen sowie die Hybridisierung gegenläufiger Erzählschemata,41 die Radikalisierung von Kontingenz42 und die Integration schwankhafter Elemente.43 In seiner Rezension der systemtheoretischen Arbeit von Manuel Braun stellt Rüdiger Schnell klar, dass „nicht die von Braun herausgestellte Weltperspektive“ mit Kontingenz und „Verzicht auf Sinnstiftung“ neu sei, „sondern deren ungenierte Aufnahme in einen nicht-schwankhaften Roman“.44 Seiner Ansicht nach zeichnet also das systematische Unterlaufen von Gattungserwartungen durch die Kombination traditioneller Versatzstücke das Neue des Fortunatus aus. Hinzu tritt der Umstand, dass hier nach allgemeinem Konsens die traditionsreiche Weisheitslehre durch ein pragmatisches Verständnis machiavellistischer Handlungsrationalität ersetzt werde, was einen neuen Heldentypus hervorbringe.45 Eingedenk der Literaturtradition des anverwandelnden Wiedererzählens lässt sich dieser Prosaroman daher mit einigem Recht als „frühmoderne[r] Roman“, „erster Originalroman“ oder „als Prototyp frühmodernen Erzählens“ bezeichnen,46 wobei mit der bloßen Etikettierung wenig gewonnen ist.
Auch Detlef Roth weist die „Technik der Montage“ als „ein Novum im frühneuhochdeutschen Prosaroman“ aus.47 Er weist jedoch darüber hinaus darauf hin, dass sich alle Quellentexte in (zumeist Augsburger) Druckausgaben und in deutscher Sprache nachweisen lassen (vgl. S. 205 f.). Durch den Rückgriff auf aktuelle Drucke erhalte der Roman selbst „Aktualität“ (S. 207).48 Die Affinität des Autors zu gedruckt vorliegenden Texten führt Roth gemeinsam mit der erkannten Montagetechnik zu der These, dass der Fortunatus „der erste deutsche Roman“ sei, „der von Anfang an für den Druck“ (ebd.) und damit „von Grund auf für ein anonymes Publikum geschrieben wurde“ (S. 228 f.). Er macht sich damit ein Argument der Frühdruck-Forschung zu Eigen und wendet es gegen die interpretatorischen Auseinandersetzungen der germanistischen Fortunatus-Philologie: Wer den Absatz eines literarischen Werkes bei einem unbekannten Publikum wahrscheinlich machen möchte, müsse ein möglichst breites Spektrum möglicher Rezeptionsinteressen abdecken (vgl. S. 228), daher habe der Autor auf „viele aktuelle, aber heterogene Quellen und Erzähltraditionen“ zurückgegriffen (S. 229). Da er sie jedoch nicht aufeinander abstimme, lägen nun „‚Unstimmigkeiten‘“ vor, welche die „Interpretationsschwierigkeiten“ der modernen Auslegung allererst hervorbringen (ebd.). In letzter Konsequenz stellt er damit „die Geburt des modernen Romans“ als „Produkt des Medienwandels“ dar.
So attraktiv dieser Gedankengang auch ist, Zweifel an seiner Stichhaltigkeit sind durchaus angebracht. Roth selbst verweist darauf, dass das Publikum der frühen Drucke regional begrenzt und damit für den Druckerverleger nicht wirklich anonym sei (vgl. S. 229/Anm. 128). Weiterhin zeigt Hans-Joachim Koppitz hinsichtlich der Absatzchancen, dass ein Verkaufsargument eher gegen den Druck einer innovativen Neuschöpfung und für die Neuausgabe traditioneller Geschichten sprechen würde.49 Auch lässt sich die Strategie, möglichst Disparates anzubieten, sodass jeder Rezipient einen Anknüpfungspunkt finden könne, ansonsten nicht belegen. Im Gegenteil neigen frühe Druckausgaben zu einer verallgemeinernden Reduktion etwaiger Spezifika eines Textes.50 Überhaupt erscheint es mir gar nicht plausibel, dass die Montagetechnik aus einem anderen Grund als um ihrer selbst willen für einen zu gewinnenden Leser interessant sei. Wer Reisebeschreibungen lesen möchte, wird nicht allein wegen der Integration einiger einschlägiger Passagen auf den Fortunatus zurückgreifen, und wer Erbauung sucht, wird nicht schon wegen seiner legendarischen Kontrafakturen zum Romanleser. In den Paratexten findet sich denn auch keine Werbung für die vorliegende Textsortenverschmelzung. Dass Texte Spannung erzeugen, also unterhalten, und darüber hinaus durch die Integration verschiedener Wissensbestände belehren können (vgl. S. 228), ist schließlich seit Horaz ein Gemeinplatz und kein Spezifikum von Texten, die eigens für die Drucklegung hergestellt sind.
Bei aller Kritik an der Plausibilisierung der Motivation zur Montage bleibt jedoch unstrittig, dass der Fortunatus 1509 gedruckt wurde und nur gedruckt überliefert ist. Damit behält Roths Aufforderung Gültigkeit, „die möglichen Verständnisdimensionen“ des Romans, die eben „auch mit dem Medium des gedruckten Buches zusammenhängen“, mediengeschichtlich zu untersuchen (S. 230). Für mich heißt das, ausgehend vom positiven Überlieferungsbefund, die einzelnen haupttextuellen, strukturellen und die im Druckmedium so prominenten paratextuellen Dimensionen der Sinnstiftung auf eine mögliche Textdeutung hin zu befragen. Für den Erstdruck des vorliegenden Romans führe ich dies in Auszügen, für eine späte Redaktion aus dem neunzehnten Jahrhundert ausführlich durch. Im Hauptteil der Arbeit werden die einzelnen Dimensionen anhand der Textgeschichte des Prosaromans von Herzog Ernst systematisch untersucht.
1.1.1Das Reisebuch des Fortunatus
Ich setze am Beginn des zweiten Handlungsteils ein: Fortunatus ist tot, seine Söhne halten das Trauerjahr (vgl. F 1509, S. 507 f.).51 Der jüngere, lebhaftere, der beiden,52 der in der Erzählerrede später das Epitheton ‚Abenteurer‘ erhält (vgl. F 1509, S. 533 u. ö.), nutzt die Eingezogenheit, um einen Bericht zu lesen, den Fortunatus auf seinen Reisen verfasst hat. Es ist schon lange bekannt, dass der unbekannte Autor selber Reisebeschreibungen als Quellentexte verwendet.53 Solche dienen ihren Verfassern nach Hannes Kästner üblicherweise dazu, sich innerhalb der Gemeinschaft zu profilieren und Prestige zu erwerben; darüber hinaus – und das verbindet die vom realen Anonymus interpolierten Texte mit dem imaginären Werk seines Helden – können mithilfe von Reiseberichten „Welterfahrung und Weltwissen“ an das Zielpublikum vermittelt werden.54 Bei diesem handle es sich nach Kästner nicht selten um „die nachfolgende Generation“.
Nach seiner Lektüre ist Andolosia fortan willens zu „wandlen“ (F 1509, S. 508). Da sein Bruder ihn nicht begleiten möchte, begehrt er – gegen den letzten Willen seines Vaters, der verboten hat, die Glücksgüter zu teilen (vgl. F 1509, S. 506) – den Wunschsäckel. Der Umstand, dass der Reiselustige nicht etwa das Wunschhütlein wählt, das ihm unbegrenzte Mobilität ermöglichen würde, sondern nur den Säckel als Garanten repräsentativen Erscheinens, gibt die Motivation seines Aufbruchs deutlich zu erkennen. Andolosia möchte „nach eeren stellen“, wie es der Vater auch getan habe (F 1509, S. 508), und begibt sich auf eine passionierte peregrinatio zu den schönsten Frauen Europas, während Fortunatus „nur frembde land“ habe sehen wollen (vgl. F 1509, S. 521). Dies ist die unmittelbare Wirkung, die Fortunatus’ Schrift auf seinen Sohn hat. Kästner nimmt diese „egoistische[ ] Zielsetzung“ wunder, da der Vater auf Handlungsebene gerade auch christliche Wallfahrtsorte mit Interesse besucht habe.55 Ampedo fügt sich letztlich in Andolosias Absichten, bleibt in Famagusta und lässt den Bruder „wandlen vnd nach eeren stellen“ (F 1509, S. 508).
Jahre später, als Andolosia zurückkehrt und Ampedo den Säckel überlassen möchte, weigert sich der ruhigere Bruder, der sein ganzes Leben zu Hause verbringt, das Glücksgut anzunehmen, da auch er inzwischen seinen ‚Fortunatus‘ gelesen hat: „Ampedo sprach/ ich will des seckels gantz nicht/ wann wer yn hat der muͤß zu aller zeit angst vnd not haben/ das hab ich wol glesen/ was angst vnd not vnser vater loblicher gedaͤchtnuß geliten hat“ (F 1509, S. 557). Reiselust wandelt ihn im Gegensatz zu seinem Bruder nicht an. Denn während Andolosia auf Grundlage der Aufzeichnungen Reisen als Möglichkeit des Ehrerwerbs wahrnimmt, vereindeutigt Ampedo das Gelesene im Hinblick auf Gefahren und Strapazen. Der Leser des Fortunatus von 1509 kann nun nicht entscheiden, ob die fascinosa oder die tremenda in besagter Schrift überwiegen, da sich der Erzähler, der als dritte Instanz Bezug auf das fingierte Buch nimmt, weiterer Kommentierung enthält.56 Er erwähnt lediglich, dass der Titelheld mit Lüpoldus’ Hilfe57 „ain buͤchlin gemacht“ habe, das „macht vnd [...] vermügen“ derjenigen geistlichen wie weltlichen Herren verzeichne...