J.M.R.-Lenz-Handbuch
  1. 758 Seiten
  2. German
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eBook - ePub

Über dieses Buch

J. M. R. Lenz hat sich keineswegs als ein "vorübergehendes Meteor" erwiesen, wie Goethe urteilte, sondern gilt inzwischen als einer der wichtigsten Autoren des 18. Jahrhunderts. Sein unglückliches Schicksal ist, vor allem über Büchner vermittelt, ein bis heute aktuelles Thema der produktiven Rezeption. Seine Werke entziehen sich aufgrund ihrer formalen und thematischen Vielschichtigkeit schnellen Deutungen. Das Lenz-Handbuch, an dem namhafte Vertreter der einschlägigen Forschung wie auch junge Autoren mitgearbeitet haben, vermittelt ein umfassendes und differenziertes Bild von Leben und Werk. Die Artikel erschließen das Werk nach Gattungen sowie nach übergreifenden innovativen Gesichtspunkten. Die Rezeption von Autor und Werk in Wissenschaft, Literatur, Kunst, Musik und Film wird einbezogen. Dem 'Lenz-Kenner' vermittelt das Handbuch den aktuellen Stand der Wissenschaft, aber auch neue Einsichten und damit die Grundlage für weitere eigene Forschungsarbeiten, dem Interessenten am Autor, an der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts und ihrer Aneignung heute bietet das Handbuch eine Fülle von Informationen und Anregungen, die zugleich der besonderen Rolle von Lenz im literarischen Feld seiner Zeit gerecht zu werden versuchen.

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Information

1.Autor

1.1Leben

Heinrich Bosse
1.Dorpat
2.Königsberg
3.Straßburg
4.Von Weimar nach Waldersbach
5.Russland
6.Weiterführende Literatur
Jacob Michael Reinhold Lenz wurde – nach dem in Russland geltenden Julianischen Kalender (a. St. = alten Stils) – am 12. Januar 1751 geboren. Gestorben ist er am 23. oder 24. Mai 1792 (a. St.). Das Geburts- wie auch das Taufdatum trug der Pastor Christian David Lenz, sein Vater, eigenhändig in das Kirchenbuch des livländischen Kirchspiels Seßwegen/Cesvaine ein. Der Todestag des Dichters lässt sich nicht mehr genau ermitteln, beerdigt wurde er vermutlich auf dem Deutschen Friedhof in der Deutschen Vorstadt Moskaus (vgl. Weinert 2006: 172–174). Wie so vieles in seinem Leben, was wir gern genauer wüssten, bleibt das ungewiss.
Drei literarische Porträts haben die Erinnerung an ihn profiliert. Das erste gibt Goethe in seinen Lebenserinnerungen (1814):
Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz, ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist. […] Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt. (*Goethe 1964a: 495)
Das andere Porträt ist Georg Büchners unvollendete Novelle Lenz (1839). Das dritte, über die biographischen Zeugnisse verstreut, ist Lenzens Selbstentwurf als verlorener Sohn (Lk 15,11–32) eines irdisch-himmlischen Vaters (vgl. Schöne 1968: 122–133; Gersch 1998: 172–190). Biographische Bemühungen um Lenz sind das ganze 19. Jahrhundert hindurch gescheitert (vgl. E. Schmidt 1901). Erst im 20. Jahrhundert haben sie die mehrfachen Lenz-Bilder ergänzt, erweitert und vertieft, namentlich das große, positivistisch ausgerichtete Werk von Matvej N. Rozanov (1901/1909) als Grundlage alles späteren Wissens und die Roman-Biographie von Sigrid Damm (1985/1989), Grundlage aller neueren Beschäftigung mit Lenz. Zuletzt hat Herbert Kraft eine umfangreiche Einführung in Leben und Werk von Lenz vorgelegt (Kraft 2015), die kulturgeschichtlich weit über die bisherigen Biographien hinausgeht, den schwierigen Autor jedoch eher zum idealistischen Aufklärer stilisiert.
Lenzens Werke gehören zur deutschen Literatur, doch Lenz selbst hat kaum mehr als fünf Jahre in Deutschland verbracht. Für sein Frühwerk ist die Herkunft aus Livland bedeutsam (Bosse 1997); für sein Leben, in dem er selbst keine Familie gründete, bleibt seine Herkunftsfamilie ein bestimmendes – und vom Vater bestimmtes – Gegenüber. Livland, der Südteil des heutigen Estland sowie Lettland nordöstlich der Düna (Lettland südwestlich der Düna bildete das Herzogtum Kurland unter polnischer Oberhoheit), war seit 1721 dem Russischen Reich als Ostseeprovinz einverleibt; eine Oberschicht von deutschen Adligen und Geistlichen auf dem Lande und von deutschen Bürgern in den Städten beherrschte ihrerseits die indigene, überwiegend leibeigene Bevölkerung.
Hier gelang dem Vater Christian David Lenz (1720–1798) der größtmögliche gesellschaftliche Aufstieg, nicht nur vom bürgerlichen Stand (der Handwerker und Kaufleute) in den gelehrten Stand (der Akademiker), sondern innerhalb der Geistlichkeit zur höchsten Würde Livlands. Der Sohn eines Kupferschmieds aus Köslin/Koszalin (Pommern) studierte drei Jahre (1737–1740) Theologie in Halle und ging dann als Hofmeister nach Livland. Schon 1742, nach zwei Jahren, wurde er zum Pastor der Gemeinde Serben/Dzērbene berufen, 1749 wechselte er zu der (mit zehn Rittergütern) reicheren Gemeinde Seßwegen/Cesvaine und wurde 1758 Propst des 2. Wendenschen Kreises, im Jahr darauf Pastor an der städtischen deutschen Gemeinde in Dorpat/Tartu. 1779 wurde er zum Generalsuperintendenten Livlands ernannt und verlegte seinen Wohnsitz nach Riga. Theologisch war er – wie alle Erziehergestalten in Lenzens Frühzeit – geprägt durch den auslaufenden Pietismus des Halleschen Waisenhauses. Als Hofmeister begegnete Christian David Lenz dem radikalen Pietismus der Herrnhuter und identifizierte sich damit; nach dem Verbot der Brüdergemeinde (1743) distanzierte er sich Jahre später öffentlich und zweifellos karriereförderlich von ihr (vgl. Jürjo 1994: 145). Die pietistische Bereitschaft, sich unaufhörlich im Kampf gegen die Anfechtungen des ‚Feindes‘ zu sehen (vgl. Soboth 2003: 114), behielt der Vater Lenz auch in seiner späteren Hinneigung zum orthodoxen Luthertum bei, zuletzt als Kämpfer gegen alle aufgeklärten (neologischen) Strömungen seiner Kirche.
Christian David Lenz heiratete 1744 die Predigertochter Dorothea Neoknapp (1721–1778), das Ehepaar hatte acht Kinder. Nach ihrem Tod heiratete Vater Lenz ein zweites Mal (1779), und zwar Christina Margaretha, geb. Eichler, verw. Rulcovius (1718–1796), Tochter und Witwe eines Pastors. Die acht Söhne und Töchter sicherten (mit zwei Ausnahmen) als Akademiker der zweiten Generation erfolgreich ihren Status, die Juristen erhöhten ihn sogar durch Nobilitierung:
Friedrich David Lenz (1745–1809) studierte Theologie in Königsberg, wurde nach dreijähriger Hofmeisterzeit Pastor in Tarwast/Tarvastu (1767–1779), sodann Nachfolger seines Vaters als Oberpastor an St. Johannis in Dorpat, auch Lektor der estnischen und finnischen Sprache an der 1803 wiedereröffneten Universität Dorpat.
Dorothea Charlotte Maria Lenz (1747–1819) heiratete 1767 Johann Christian Friedrich Moritz, damals Konrektor an der Stadtschule Dorpat, später Rektor des Rigaer Lyzeums und Pastor in Tarwast.
Elisabeth Christine Lenz (1748–1800) heiratete 1769 (?) Theophilus Schmidt, Pastor in Neuhausen/Vastesliina.
Jacob Michael Reinhold Lenz (1751–1792).
Johann Christian (von) Lenz (1752–1831) studierte – zugleich mit seinem Bruder Jacob – in Königsberg Jura, wurde nach einem Hofmeisterjahr 1772 Stadtsekretär in Arensburg/Kuressaare, 1774 Notar in Pernau/Pärnu, 1784 Sekretär der Gouvernements-Regierung in Riga, erwarb 1793 den russischen Dienstadel als Kollegienassessor und starb, mit hohen Orden ausgezeichnet, als livländischer Regierungsrat.
Carl Heinrich Gottlob (von) Lenz (1757–1836) studierte Jura in Helmstedt und Jena und begleitete 1779 seinen Bruder Jacob aus Deutschland zurück nach Livland. Nach einer vierjährigen Hofmeisterzeit trat er 1783 in den Staatsdienst, erwarb 1793 den russischen Dienstadel als Kollegienassessor und wurde Oberfiskal und Kollegienrat.
Anna Eleonora Lenz (1760–1845) heiratete – am 4. 1. 1779 in Dorpat, zugleich mit der zweiten Eheschließung ihres Vaters – Carl Emanuel Pegau, einen Königsberger Studienfreund von Jacob, der 1778–1786 Pastor in Sissegal/Madliena, danach Propst von Riga-Land und Mitglied des Livländischen Oberkonsistoriums wurde.
Benjamin Gottfried Lenz (1761–1809) sollte nicht wie die anderen Söhne studieren, sondern Kaufmann in Reval/Tallinn werden. Er gab 1797 seine Handlung zugunsten einer festen Anstellung auf und starb als Inspektor des städtischen Siechenhauses in Reval (vgl. Falck 1907, *Ottow/Lenz 1977).
In dieser Geschwisterreihe stand, wie die im Kreis der Familie weitergegebenen und diskutierten Briefe zeigen (Latvijas Akadēmiskā Bibliotēka, Riga [= LAB]: Fonds 25 – Ms. 1113 – Akt 36), der Jurist Johann Christian dem Dichter besonders nahe, der ältere Bruder und Theologe Friedrich David besonders fern.
Abb. 1: Stammbaum der Familie Lenz

1.Dorpat

Jacob Lenz – so der Rufname (vgl. Weinert 1998/1999) – wurde wie seine Geschwister zunächst vom Vater unterrichtet. Dieser bat schließlich 1756 in einem Brief an Gotthilf August Francke in Halle um die Sendung eines Hofmeisters und schilderte dabei den Ausbildungsstand seiner Kinder. Zu Jacob erklärte er:
Endlich das 4te Kind und jüngste Söhnlein zeigt besondere Munter- und Fähigkeit. Er ist 5 Jahre, liest aber schon ziemlich gut, treibt sich selbst, hat schon einen feinen Begrif von den allerersten Grundwahrheiten des Heils, ist curieux im Nachfragen und memorirt die Worte Lutheri im catechismo. Kurz es ist ein Kind guter Art und hat eine feine Seele bekommen. (Jürjo/Bosse 1998/1999: 33)
Der Hofmeister seinerseits, der von November 1756 bis Anfang 1759 auf seiner Stelle blieb (vgl. *Ottow/Lenz 1977: 440), schrieb seine Enttäuschung über die Verhältnisse in trockenen Worten auf: Er muss mit den zwei Söhnen, dazu einem Bauernjungen zum Aufwarten und einer „alten Frau“, wohl der Mutter der Pastorin, in einem Durchgangszimmer schlafen, täglich acht Stunden unterrichten und bekommt weder Zeit zur Unterrichtsvorbereitung noch die versprochene fachliche Unterstützung vom Herrn des Hauses (vgl. Jürjo/Bosse 1998/1999: 13 f.).
Der Wechsel nach Dorpat bedeutete einen Wechsel vom lettischen in den estnischen Teil Livlands. Für Christian David Lenz hieß es einerseits, auf die reichlicheren Einkünfte sowie das Gehalt eines Propstes Verzicht zu tun, wie er dem Dorpater Magistrat am 25. September 1758 mitteilte, andererseits aber auch „von der mir äußerst unangenehmen Landwirthschaft, wozu ich weder Zeit, noch Lust und Trieb habe“, befreit zu werden (Eesti Ajaloo Arhiiv, Tartu [= EAA]: Best. 995 – Verz. 1 – Akte 6055, Bl. 5). Um den Titel ‚Propst‘ behalten zu können, verzögerte er seinen Umzug um ein halbes Jahr. Dorpat war in den 1760er Jahren eine kleine Landstadt mit 400 Häusern, fast ausschließlich aus Holz, dazu mächtigen Ruinen aus früheren Blütezeiten und kaum 3.000 Einwohnern: Deutschen, Russen, Esten (vgl. *Eckardt 1975 [1876]: 513). Immerhin lag es an der Poststraße von Riga nach St. Petersburg und damit auch an der ‚Straße der Aufklärung‘, die den großen nordostdeutschen Kommunikationsraum durchzog (*Ischreyt 1981). Drei Prediger verrichteten ihre Gottesdienste in der St.-Johannis-Kirche: der Pastor der deutschen Gemeinde, dessen Vertreter, der Diakon oder Nachmittagsprediger und zugleich Konrektor der Lateinschule, sowie schließlich der Pastor der estnischen Gemeinde. Die Beziehungen zwischen Pastor Lenz, seinem Diakon und der Gemeinde waren erfüllt von Auseinandersetzungen, die in den anonymen Erinnerungen aus der Zeit vor dem Dorpater Brande am 25. Juni 1775 (1874) sehr genau paraphrasiert worden sind; Karl Freye hat bisher als einziger von dieser Quelle Gebrauch gemacht (vgl. Freye 1917).
Anders als im größeren Riga gab es in der Landstadt Dorpat einen intensiven Austausch mit dem umsitzenden Landadel. Davon profitierte auch Pastor Lenz. Als ihm vorgeworfen wurde, er habe zu viele Besucher in seinem Hause, verwies er entschuldigend auf die „Zuhörer und Beichtkinder vom Lande“; bei seinem geringen Fixgehalt von 100 Rubeln seien ihm die Gebühren und Geschenke (Akzidentien) der „landischen Fremden“, d. h. des auswärtigen Adels, fast wichtiger als diejenigen seiner Eingepfarrten ([Anon.:] Erinnerungen 1874: 26 f.). Seine Leichenrede auf die Freiherrin von Münnich (1761) verrät viel von der Welt der Patronagebeziehungen, die der Sohn später attackieren wird (vgl. Damm II: 637). Auch Paten sind für die sozialen Netzwerke aufschlussreich: Von den fünf Paten bei Jacobs Taufe waren drei adlig – von den 30 Paten bei der Taufe der Anna Eleonora am 17. Juli 1760 waren 15 Adlige oder deren Frauen, zehn akademische literati oder deren Frauen, fünf Bürger oder deren Frauen (EAA: 1253 – 3 – 2, Bl. 277). Der Haushalt des Pastors umfasste nach dem Bürgerverzeichnis von 1764 ihn selbst und seine Ehefrau, sieben Kinder im Alter von 15 bis anderthalb Jahren, da der älteste Sohn schon 1760 von einem Gönner aus der Familie von Berg nach Königsberg gebracht worden war, ferner den Knecht Jahn, das Kinder-Weib Marry (über 50 Jahre), seine Küchen-Dirn Majje sowie seine Stuben-Dirn Marry (EAA: 995 – 1 – 1471, Bl. 62). Die Zahl der Dienstboten dürfte für städtische deutsche Honoratioren landestypisch gewesen sein. Wegen der Bausubstanz des Pfarrhauses erhob Pastor Lenz in den 1770er Jahren wiederholt und dramatisch Klage. Er verlangte dringend einen Neubau und führte namentlich die rheumatischen Beschwerden seiner immer kranken Frau auf die undichten Stellen des Hauses zurück (vgl. [Anon.:] Erinnerungen 1874: 37).
Zur Predigerstelle gehörte auch ein Teil der Schulaufsicht. Abgesehen von den privaten Unterrichtsverhältnissen („Winkelschulen“), die im Jahrhundert der Hofmeister mehr Schüler anzogen als die öffentlichen, gab es in Dorpat eine Elementarschule für estnische und eine Mädchenschule für die deutschen Kinder, die beide von dem überzeugten Pietisten Tobias Plaschnig (1703–1757), Lenzens Vorgänger, eingerichtet worden waren (vgl. *Tering 1998). In der Mädchenschule sind 1763 der fünfjährige Carl Heinrich Gottlob, 1766 Anna Eleonora und Benjamin Gottfried als Schüler nachzuweisen (EAA: 995 – 1 – 28273). Die vierklassige Lateinschule wurde als „vereinigte Krons- und Stadtschule“ teils von der russischen Regierung, teils von der Stadt getragen, mit entsprechend komplexen Aufsichtsbefugnissen. Für die beiden unteren Klassen wie für die Mädchenschule war Pastor Lenz als Inspektor zuständig, für die beiden oberen Klassen fehlte es an einer Schulaufsicht in den für Lenz entscheidenden Jahren, in denen der Unterricht buchstäblich erlosch. Der Lehrkörper der vereinigten Krons- und Stadtschule hätte aus vier Personen bestehen sollen: Rektor, Konrektor, Subrektor und Rechenmeister. Jedoch wurde der dritte Lehrer (Subrektor) eingespart, die ersten beiden Lehrer bekämpften sich untereinander und stritten mit Pastor Lenz. Der Kleinkrieg der Autoritäten mündete in den Zusammenbruch des Unterrichts. Nach dem Tod des Rektors Krieger (September 1764) amtierte in den gelehrten Klassen nur noch ein einziger Lehrer, der Konrektor (und Diakon) Jakob Andreas Reichenberg (1710–1769); dieser legte im Sommer 1765 die Arbeit nieder, um einer Verurteilung wegen schlechter Führung seines Amtes zuvorzukommen, danach gab es – bis auf den Rechenmeister – anderthalb Jahre lang überhaupt keine Schule mehr. Schließlich wurde im Dezember 1766 Johann Martin Hehn (1743–1793) als Rektor berufen, zum gleichen Zeitpunkt Johann Christian Friedrich Moritz (1741–1794) als Konrektor, beide in Halle ausgebildet; ab 1769 gab es dann wieder einen dritten Lehrer als Subrektor (vgl. *Tering 1998: 81).
Paul Balthasar Krieger, Rektor der Lateinschule von Ende 1760 bis zu seinem Tode, war eine Verlegenheitslösung gewesen; er hatte als einziger der Dorpater Lehrer nicht in Halle studiert und stand, geistlich gesehen, im Rang unter dem Konrektor Reichenberg, welcher Lehrer und zugleich Nachmittagsprediger war. Diese unglückliche Konstellation führte zu unaufhörlichen Zwistigkeiten, die 1762 derartig eskalierten, dass Pastor Lenz seine beiden Söhne, Jacob und Johann Christian, für ein Dreivierteljahr aus der Schule nahm und Jacob sogar auswärts unterbringen wollte. In einem Versöhnungsbrief vom 25. April 1763 verwahrte er sich gegen den Vorwurf, die Söhne hätten zu Hause bei ihm nichts gelernt. Die Schule, wünschte Pastor Lenz, solle transparent sein für den Hausvater, der alles erfahren will, dagegen solle der Lehrer die Kinder weder aushorchen noch gar eidlich zum Stillschweigen verpflichten. Im Zusammenhang mit dem klassischen Beschwerdepunkt, der Prügelstrafe, charakterisierte er seine Söhne wie folgt:
Auch macht man billig unter den Kindern einen Unterschied. So würde z. E. mein Jacob durch Härte und Strafe nur betäubt, und so confuse gemacht werden, daß ihm Hören und Sehen vergehen, und dann nichts mit ihm auszurichten seyn würde. Dagegen aber kann Christian schon einen derben Filz aushalten. (LAB: 1113 – 21, No. 4)
Der Unterrichtsplan, den Sigrid Damm in ihrer Biographie anführt (Damm 1989 [1985a]: 35), lässt sich im Estnischen Historischen Archiv nicht auffinden, wohl aber das Lektionsverzeichnis von 1761 (EAA: 3765 – 1 – 60, Bl. 34–5; 14–15). Es verrät die bescheidenen Ansprüche einer Trivialschule, Latein (Cornelius Nepos, Ciceros Briefe), Griechisch, Geographie, deutsche Epistolographie mit besonderer Berücksichtigung der Rechtschreibung. Täglich gibt es vormittags und nachmittags eine Privatstunde, d. h. der Rektor bietet seine Kenntnisse gegen Bezahlung, je nach Nachfrage, an. Es ist unter diesen Umständen schwer abzuschätzen, was Jacob Lenz in der Schule und was er außerhalb der Schule – zu Hause, autodidaktisch, in frei gewählten Lehr- und Lernverhältnissen wie bei Pastor Theodor Oldekop – gelernt haben mag, mit Sicherheit Französisch, ebenso auch Klavierspielen (vgl. Jürjo/Bosse 1998/1999: 33, Freye/Stammler I: 17). Während der Vater 1760 versichert, er verstünde weder Russisch noch Estnisch (EAA: 995 – 1 – 14159), muss sich der junge Lenz Kenntnisse des Russischen erworben haben (vgl. Damm III: 581, 648), obwohl diese Sprache nirgends in Livland Schulfach war.
Zu Neujahr 1765, also unter der Ägide des angefeindeten Konrektors Reichenberg, hat der vierzehnjährige Jacob Lenz eine Schulrede über die Zufriedenheit vorgetragen (vgl. Falck 1913: 155–165). Darin arbeitet er exzessiv mit den Mitteln szenischer Vergegenwärtigung, führt Beispiele aus der antiken Geschichte wie aus der Märtyrergeschichte an und bezieht sich ungenau, offensichtlich aus dem Gedächtnis, auf lyrische Passagen von Gottsched, Haller, Gellert, Trescho und Eberhard von Gemmingen. Über die stoisch-philosophischen Anweisungen zur Zufriedenheit triumphiert zuletzt die religiöse Erbauung, doch bildet die Lyrik der frühen Aufklärung ein subversives Gegengewicht zur Ergebung in Gott. So könnte, in der Spannung von Beruhigung und Aufbegehren, der frühe Text als „Arbeitsvorgabe für Lenz“ (Hempel 2003a: 54) verstanden werden.
In seinem ersten überlieferten Brief vom 2. Januar 1765 (Damm III: 243) dankt Lenz für eine Gabe, die er für seine Neujahrsrede erhalten hat, und zwar von Friedrich Konrad Gadebusch (1719–1788), Advokat und Syndikus in Dorpat, seit 1771 einer der beiden Bürgermeister der Stadt. Aus Mangel an Auskünften hat man Gadebusch zum Mittelpunkt eines geselligen Kreises gemacht, in dem Jacob Lenz verkehrt haben könnte (Rosanow 1909: 34), aber dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Durch ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort (Julia Freytag, Inge Stephan, Hans-Gerd Winter)
  6. Hinweis der Herausgeber/innen
  7. Abgekürzt zitierte Werk- und Briefausgaben
  8. 1. Autor
  9. 2. Werke
  10. 3. Themen
  11. 4. Rezeption
  12. 5. Zeittafel zu Leben und Werk
  13. 6. Lenz-Bibliographie
  14. 7. Register
  15. Autorinnen und Autoren