1. Vorwort
Narratologie tritt nicht selten mit dem Anspruch auf, alles beschreiben und analysieren zu können, was der Mensch jemals erzählt hat. GÉRARD GENETTES berühmtes Buch ,Die Erzählung‘ (1994) befaßt sich fast nur mit zwei großen Geschichten, mit Homers ,Odyssee‘ und mit Marcel Prousts ,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘; diese beiden stehen stellvertretend für alle. An brauchbaren, guten und ausgezeichneten Einführungen in die Erzähltheorie herrscht eigentlich kein Mangel. Warum also noch eine neue?
Dieses Buch entstand aus der Erfahrung, daß das methodische Besteck der Narratologie, wie es den etwas fortgeschrittenen Studierenden der Germanistik vertraut ist, schon recht bald ziemlich stumpf wird, wenn man es zur Analyse mittelalterlicher Erzähltexte heranzieht. Vor allem scheint sich dabei das Verhältnis zwischen dem ,Wie‘ der Geschichte und ihrem ,Was‘ umzukehren: Erzähl- und Literaturtheorie haben ein sehr fein justiertes Instrumentarium dafür entwickelt, die Textur der Oberfläche – des Wortlauts, des discours – einer Geschichte zu beleuchten und dabei besonders darauf zu achten, wie diese Geschichte durch die je besondere Wahrnehmung und Auswahl von Informationen sowie durch die Stimme ihres Erzählers an den Leser vermittelt wird. Weitaus weniger Gedanken hat sich die Narratologie über die Frage gemacht, wie im Akt des Erzählens das ,Was‘ einer Geschichte entsteht, in ihrer je eigenen ,Sujetfügung‘ bzw. ihrem ,Emplotment‘, über die Frage also, wie das Geschehen – die histoire –bündig aus Handlungen und Handlungsgründen zusammengesetzt wird.
Wenn man mittelalterliche Erzählungen untersucht, wird man bald feststellen, daß die Kategorien der gängigen Erzähltheorie zu oft nicht so recht passen: Wo es um die ,Oberfläche‘ der alten Geschichten geht, um ihren Wortlaut und ihre Vermittlung durch einen Erzähler, erscheinen die filigranen Differenzierungen und Begriffe der Narratologie übertrieben und unnötig komplex, während sich andere Probleme stellen, beginnend damit, daß hier manchmal auch ein Blick in die gängigen Rhetorik-Handbücher sinnvoller erscheint als in diejenigen der Erzähltheorie:
- – Es fällt ausgesprochen schwer, die Selbstinszenierungen der Erzählinstanz durchgängig von der Selbstthematisierung des realen Autors zu
trennen, weil die Autoren als Subjekte und auch als Objekte der Rede in ihren eigenen Texten auftreten, auch um damit die Geltung ihrer Geschichte zu sichern.
- – Es fällt ausgesprochen schwer, das System der narrativen Informationsvergabe nachzuzeichnen: Die Figuren wissen und sprechen oft von Dingen, von denen sie – im Gegensatz zum Erzähler – eigentlich nicht die geringste Ahnung haben dürften.
- – Es fällt ausgesprochen schwer, zu verstehen, daß mittelalterliche Texte für unseren Geschmack immer zu wenig oder zu viel erzählen: Handlungen haben nicht selten keine nachvollziehbar plausiblen oder zu viele und dann widersprüchliche Gründe, sie sind untermotiviert oder überdeterminiert.
- – Es fällt ausgesprochen schwer, zu verstehen, daß die Protagonisten und auch die Nebenfiguren mittelalterlichen Erzählens nicht durch einen spezifischen Charakter geprägt sind, der sich kontinuierlich und bruchlos fortentwickelt, im Sinne moderner psychologischer Erwartungen, sondern daß die Identität der Figuren im wesentlichen nur durch soziale Bindungen, gattungsabhängige Verhaltensmuster und durch ihre je eigene Geschichte bestimmt ist: Eigenschaften, die wir heute als unveräußerliche Bestandteile menschlicher Individualität und Identität auffassen, können in den Texten völlig ,vergessen‘ oder auf andere Figuren ,verschoben‘ werden.
- – Es fällt ausgesprochen schwer, zu verstehen, daß logische Brüche und scheinbare Unstimmigkeiten der Handlung nicht in jedem Fall die Unfähigkeit mittelalterlicher Autoren dokumentieren: Sie begegnen auch in den besten Texten, erstens weil die Funktion besonderer Handlungsumstände sich oft im Augenblick erschöpft, zweitens weil potentielle Widersprüche und Alternativen zur Handlung nicht immer erörternd-diskursiv abgehandelt, sondern oftmals szenisch ,nebeneinander‘ vor Augen gestellt und dann nacheinander, in ,präsentativer Symbolifikation‘, abgearbeitet werden.
- – Und schließlich fällt es ohne die entsprechenden Vorkenntnisse ausgesprochen schwer, zu verstehen, wie die alten Texte Bedeutung indirekt, aber sehr massiv aus dem immer neu variierenden ,Wiedererzählen‘ altbekannter Stoffe, Handlungsschemata und Basismotive produzieren.
Und dennoch ist es möglich, diese Texte zu verstehen, nicht nur ihrem Wortlaut nach (wenn man die Grundlagen des Mittelhochdeutschen beherrscht), sondern auch in ihren Entwürfen von Welt, Raum, Zeit, Geschehen
und Figuren und in ihrer literarischen Gemachtheit. Ihre Fremdheit, ihre ,Alterität‘, wie dies in der Mediävistik heißt, ist zwar mitunter groß, aber nicht überwältigend. Wir würden sonst nämlich gar nichts oder zumindest nicht sehr viel verstehen. Allerdings entzieht sich vieles, was man zunächst problemlos zu verstehen vermeint, bei genauerem Hinsehen dann doch wieder. Man sollte also nicht der Versuchung nachgeben, die alten Texte bedenkenlos den eigenen modernen Vorstellungen einzugemeinden. Das Bild, das man sich von der Welt und vom Menschen macht, ist nicht in jeder Epoche gleich. Es verändert sich ebenso im Lauf der Jahre und Jahrhunderte wie die Bauprinzipien, nach denen Erzählungen gestaltet werden. ,Alterität‘ ist nichts, was von vornherein gegeben ist, sondern ist eine Beobachterkategorie. Sie entsteht erst, wenn man sich die alten Texte fremd macht. Wer aber nur das zu finden erwartet, was er ohnehin schon kennt, wird beim Lesen und Interpretieren nicht viel dazulernen.
Wenn man mittelalterliche Geschichten interpretieren will, erscheint es ausgesprochen sinnvoll, sich zunächst ein funktionierendes Instrumentarium für die Beschreibung und Analyse ihrer ,Sujetfügung‘ bzw. ihres ,Emplotments‘ bereitzulegen. ,Sujetfügung‘ meint in diesem Sinne die Erzeugung narrativen Zusammenhalts mittels literarischer Verfahren (Kohärenzbildung): erstens durch Wiederholung, Variation, Steigerung und Kontrastierung von Wortmaterial sowie von Handlungen (Motiven, Situationstypen und strukturellen Konstellationen); zweitens durch kausale und finale Motivierung. Die kurze Skizze oben sollte deutlich machen, daß die Verfahren der Sujetfügung in älterer Literatur nicht unbedingt die für uns heute gewohnten sind. Weder die große Theorie noch die gängigen Einführungsbände befassen sich mit solchen Spezifika vormoderner Literatur.
Das bedeutet aber nicht, daß sich noch niemand damit beschäftigt hätte; und es bedeutet auch nicht, daß hierzu nicht einiges an sehr brauchbarer Forschungsliteratur existierte. Allerdings sind die entsprechenden Ansätze nicht im Rahmen erzähltheoretischer Grundlagenforschung entstanden, sondern in der literaturwissenschaftlichen Praxis –beim Interpretieren mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Erzähltexte, und dies schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Das hat die unangenehme Folge, daß diese Ansätze über Dutzende, wenn nicht Hunderte von Aufsätzen und Büchern verstreut sind, und es kostet einiges an Zeit, sich einen Überblick zu verschaffen. Rein pragmatisch wird das nicht allein für die Studierenden immer schwieriger, in Zeiten der Beschleunigung, Komprimierung und Modularisierung des Germanistikstudiums, sondern
auch für berufsmäßig Forschende und Lehrende, weil man angesichts der sich explosiv vermehrenden Forschungsliteratur nicht mehr in allen Bereichen den Überblick behalten kann.
Dieses Buch ist gedacht als eine Einführung in die Spezifika mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählens, mit der Beschränkung auf deutschsprachige Literatur. Es versucht, die bestehenden Forschungsansätze nicht bloß zu referieren, sondern sie in einer systematischen Perspektive zu betrachten, Vielfältiges also ,unter einen Hut zu bringen‘. Das wird es relativ oft unumgänglich machen, nicht allein bereits Bekanntes zu referieren oder zu reformulieren, sondern auch Lücken in der Systematik zu füllen, zum einen in bezug auf die alten Texte, zum anderen in bezug auf die narrativen Verfahren. Von daher richtet sich dieses Buch in erster Linie an Studierende der Germanistik im allgemeinen und der Germanistischen Mediävistik im besonderen, als ein studienbegleitendes Arbeitsbuch, das unter systematischem Aspekt in die deutschsprachige Erzählliteratur des Mittelalters einführt. Es richtet sich als Mischung aus Überblicksdarstellung, Kompendium und Forschungsbeitrag aber auch an die Kolleginnen und Kollegen, in der Hoffnung darauf, daß sie darin nicht allein zuverlässige Information über bereits Bekanntes, sondern auch den einen oder anderen anregenden und weiterführenden Gedanken finden mögen.
KAPITEL 2 befaßt sich mit notwendigen Grundlagen des Erzählens und mit notwendigen Voraussetzungen dafür, erzählende Texte historisch zu verstehen: Es befaßt sich mit demjenigen, was eine literarische Figur ist, und mit demjenigen, was uns mittelalterliche Texte nicht explizit über ihre Figuren verraten, was wir jedoch an Wissen über sie voraussetzen dürfen. Der Grundgedanke in diesem Kapitel ist der, daß es zum einen nicht statthaft ist, das, was die Texte nicht erzählen, durch modernes psychologisches Alltagswissen aufzufüllen, daß es jedoch zum anderen unbedingt notwendig, wenn auch ausgesprochen mühsam ist, das entsprechende Voraussetzungssystem mittelalterlicher Texte zu erschließen. KAPITEL 2 bemüht sich also um die Rekonstruktion des – vor allem: anthropologischen – Wissens, das für die Interpretation dieser alten Texte relevant ist. Dabei wird grundsätzlich versucht, auf die Besonderheiten aufmerksam zu machen, die dann entstehen, wenn die erzählende Literatur des Mittelalters das gelehrte Wissen ihrer Zeit aufgreift und verarbeitet.
KAPITEL 3 befaßt sich mit den vier Hauptgattungen der erzählenden Literatur im deutschsprachigen Mittelalter: Vorgestellt werden der höfische Roman, das Heldenepos, das Märe (d. h. die novellistische Verserzählung) und die höfische Legende. Der Grundgedanke ist hier, daß – auch wenn Gattungen immer nur idealtypische Rekonstruktionen sein können –Erzählformen und Menschenbilder im Mittelalter immer auch gattungsabhängig sind. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein Grundprinzip mittelalterlicher Narration, das auch in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen wird: das Gegen- und Nebeneinanderstellen konkurrierender Sinnbildungsmuster. Hier soll versucht werden, zentrale Gattungsmerkmale aus dieser Konkurrenz heraus zu erklären.
KAPITEL 4 befaßt sich mit der Frage nach der Sujetfügung mittelalterlicher Erzähltexte. Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, was überhaupt ,Erzählen‘ ist und was die grundlegenden Konstitutiva des Narrativen sind. Systematischer Bezugspunkt ist hier die Narrativitätstheorie JURIJ M. LOTMANS (1989). Auf dieser Grundlage werden dann ausführlich die wichtigsten Erzählschemata vorgestellt, nach denen große Teile der mittelalterlichen Literatur ihre Sujets formen: Brautwerbungsschema, ,gestörte Mahrtenehe‘, Doppelweg (Artusroman) und das Schema des Liebes- und Abenteuerromans. Vorgestellt werden dabei auch die Möglichkeiten, aus der Erfüllung des Schemas oder der Abweichung von ihm im je konkreten Text interpretatorische Rückschlüsse auf den jeweiligen Bedeutungsaufbau anzustellen. Denn Erzähltheorie wird in diesem Buch nicht als bloße Hilfswissenschaft der Textinterpretation verstanden, sondern als einer ihrer Königswege.
KAPITEL 5 handelt von den Regeln, nach denen die dargestellten Welten der mittelalterlichen Erzählliteratur geformt werden: mit ihren sehr eigenen Raum- und Zeitkonzeptionen, die massiv von modernen abweichen. Dabei soll immer auch der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise eine solche ,Weltgestaltung‘ bedeutungstragend ist.
KAPITEL 6 ist den Verfahren erzählerischer Verknüpfung gewidmet –demjenigen also, was aus einem Text einen kohärenten Text macht, vor allem im Blick darauf, daß mittelalterliches Erzählen häufig massiv gegen die Grundsätze erzählerischer Ökonomie verstößt, indem entweder zu viel oder zu wenig erzählt wird. Eine besondere Rolle spielen dabei Motivationstechniken, Verfahren metonymischen Erzählens und indirekter Sinnlenkung, wie sie vor allem dann begegnen, wenn die Geschichten auf merkwürdig ausführliche Art und Weise auch dasjenige thematisieren, was sie eigentlich explizit abweisen.
KAPITEL 7 befaßt sich mit der Instanz des Erzählers. Ausgehend von den bekannten Kategorien ,Modus‘ und ,Stimme‘ sollen hier die Spezifika mittelalterlicher Figurationen der Erzählinstanz beleuchtet werden, vor allem im Blick darauf, daß diese Texte als schriftliche für ein Publikum konzipiert werden, das Geschichten noch weitgehend mündlich rezipiert, wie sie von leibhaftig auftretenden Erzählern dargeboten werden (,sekundäre
Mündlichkeit‘, ,Vokalität‘). Zentral sind dabei zwei Fragen: erstens diejenige nach dem Verhältnis zwischen Gattung und Konzeption des Erzählers, zweitens diejenige nach den oft befremdlichen Regeln der Wissensvergabe in vormodernen Texten.
Ein LITERATUR VERZEICHNIS sowie AUTOREN- und TEXTREGISTER beschließen den Band.
Bücher wie dieses entstehen nicht im luftleeren Raum. So datieren, um nur ein Beispiel zu nennen, die ersten Überlegungen zur historischen Andersheit mittelalterlichen Erzählens ins späte 19. Jahrhundert. Im 16. Jahrgang (1892) der ,Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur‘ (PBB) verwunderten sich einige der damaligen germanistischen Koryphäen über logische Absonderlichkeiten in der kleinen Heldendichtung ,Alpharts Tod‘, die zur sogenannten ,Historischen Dietrichepik‘ gehört. Zwar bestimmte das seinerzeit gängige Universal-Deutungsmuster, dasjenige des ,Stoffzwangs‘, den Tenor der Abhandlungen (der Autor habe unterschiedliche Quellen zusammengeführt und die Widersprüche nicht vollständig zu integrieren gewußt). Allerdings erscheint daneben bereits die Idee, daß man den Handlungsgang und das Verhalten der Figuren im vormodernen Erzählen sinnvollerweise nicht unbedingt an den Vorgaben der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts messen sollte, weil in jenem älteren Erzählen Logik und Kohärenz suspendiert werden können, wenn die Brüche auf andere Weise sinnstiftend wirken, gleichsam hinter dem Rücken des Autors. Man war noch nicht soweit, hinter manchen der ,Fehler‘ Verfahren des Bedeutungsaufbaus zu sehen, aber man erkannte darin Stilprinzipien vormodernen Erzählens. Meine Überlegungen bauen mithin auf älteren Studien auf, die in den einzelnen Kapiteln ausführlich vorgestellt werden.
Ein Buch wie das vorliegende zu schreiben bedeutet, daß man sich auf sehr unterschiedlich dickem Eis bewegt. Es gibt einiges, in dem ich mich relativ gut auszukennen meine – vor allem Erzählschemata, Raumsemantik, Kohärenztechniken –, anderes hingegen mußte ich mir erst für dieses Buch aneignen, und dies gewiß nicht in einer Tiefe, die Fachleute aus dem entsprechenden Gebiet befriedigen kann. Vieles dürfte weitgehend dem Forschungskonsens entsprechen; an manchen Stellen habe ich mir, ausgehend von meinem systematischen Ansatz, das bestehende Wissen zu erweitern erlaubt (etwa bei den paradigmatischen Konstitutiva des arthurischen
Romans) oder Lücken in der bestehenden Forschung zu füllen versucht. So bieten etwa die Ausführungen zum ,metonymischen Erzählen‘ nur einen ersten Einblick in ein Forschungsprojekt, das ich gemeinsam mit HARALD HAFERLAND konzipiert habe (vgl. HAFERLAND/SCHULZ 2010). Angesichts des Nutzens, den eine Überblicksdarstellung wie die hier vorgelegte dann doch insgesamt haben sollte, möge man die Schwächen des Buchs zum Anlaß nehmen, wieder verstärkt systematisch über historische Narratologie nachzudenken.
Das Buch ist aus zwei Vorlesungen entstanden, die ich im Sommersemester 2008 und im Wintersemester 2008/2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München gehalten habe. Den Studierenden, die mir über die beiden Semester die Treue gehalten und mich mit ihren Nachfragen immer wieder zum Schreiben ermuntert haben, möchte ich an dieser Stelle ebenso danken wie den Kolleginnen Anna Kathrin Bleuler und Leila Werthschulte, die einzelne Kapitel vorab gelesen und mit mir diskutiert haben. Weiterer Dank gebührt Bettina Peter, die als studentische Hilfskraft meine erste ,Testleserin‘ des Anthropologie-Kapitels war, und Bernd Keidel, der beim Erstellen der Druckvorlage sehr engagiert war. Und natürlich Alexandra Dunkel, die wesentlichen Anteil daran hat, daß ich das Buch nach der Rohfassung überhaupt weiterschreiben konnte.
Noch ein Wort zur Darstellung: Ich habe weitgehend auf Fußnoten verzichtet und die Nachweise der Forschungsliteratur in den laufenden Text integriert. Was die gewählten Beispiele aus den alten Texten betrifft, habe ich mich um möglichst signifikante und nicht immer schon völlig abgegriffene bemüht. Das erschwert natürlich die Lektüre für diejenigen, die noch nicht besonders viel mittelhochdeutsche Epik kennen. Die Alternative, alles, was es in diesem Buch zu sagen gibt, an nur einem einzigen Primärtext oder an jeweils einem Text der vier Hauptgattungen zu verdeutlichen, habe ich jedoch wieder verworfen, weil dann zu vieles, was systematisch in den Rahmen einer solchen Darstellung gehört, nicht hätte gesagt werden können. Ich habe mich also bemüht, jeweils so viel zu den Beispieltexten zu sagen, daß die Ausführungen auch für Nichtfachleute verständlich sein sollten.
Abschließend gedankt sei noch Heiko Hartmann; ebenso dem Verlag de Gruyter, namentlich Birgitta Zeller-Ebert, für die freundliche Bereitschaft, dieses Buch zu verlegen, obwohl es die üblichen Umfangsgrenzen eines Lehrbuchs, zumal in Zeiten der Modularisierung, doch recht deutlich sprengt.
2. Interpretation und Anthropologie: Konzeptionenvon Figuren und ihren Interaktionen
2.1 Echte Menschen und literarische Figuren;Charaktere und Typen
2.1.1 Textinterpretation und die Frage nach dem Warum
Literarische Figuren erwecken ganz selbstverständlich den Anschein, echte Menschen zu sein. Was uns die Texte nicht über sie erzählen, vor allem über ihr Innenleben, ergänzen wir spontan aus unserem eigenen Erfahrungsschatz, aus unseren eigenen Gefühlen und Gedanken, wenn wir uns vorstellen, in der gleichen Situation zu sein. Das funktioniert selbst dort, wo die Figuren eigentlich recht blaß bleiben, weil wir, wie etwa im Fall von Märchen, nur dasjenige erfahren, was die Figuren tun. So lernen wir lesen, und wir können es zunächst gar nicht anders. Eltern verständigen sich mit ihren Kindern über Geschichten, indem sie mit ihnen darüber reden, warum jemand etwas tut. Lehrer versuchen ihre Schüler für leicht angestaubte Texte zu begeistern, indem sie sie dazu auffordern, sich mit den Figuren zu identifizieren, sich in sie hineinzufühlen. Die Frage, die im Deutschunterricht und später dann im Germanistikstudium am häufigsten gestellt wird, ist diejenige, warum etwas in einem Text geschieht. Schüler und selbst noch Studierende im Hauptstudium beantworten sie fast ausschließlich von den Figuren her, indem sie versuchen, die Emotionen, Intentionen und Gedanken der Protagonisten zu rekonstruieren und darin dann Gründe für die erzählten Handlungen zu suchen. Beschlagenere geben sich Mühe, solche Ergänzungen zu objektivieren, indem sie Argumentationshilfe aus der Psychoanalyse SIGMUND FREUDS oder aus der Archetypenlehre C. G. JUNGS in Anspruch nehmen. Das Problematische daran ist, daß die Vorstellungen, die man sich in früheren Epochen und zumal im Mittelalter vom Menschen und seinem ,Innenleben‘ gemacht hat, nicht unbedingt die unseren sind.
Insgesamt stellt sich die Frage, was die Beschäftigung mit älterer Literatur überhaupt will: Soll...