1. Gegenwartsliteratur:
Roman und Poetik
Christian Kracht, Imperium
Die Welt/Literarische Welt (11.2.2012)
Fiktionalisierte Biografien über exzentrische europäische Forschungsreisende, Glücksritter und Propheten, die unter den Bedingungen des kolonialen 19. Jahrhunderts fremde Erdteile heimsuchten, sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur keine Seltenheit. Daniel Kehlmann erinnert in der „Vermessung der Welt“ an Alexander von Humboldt in Südamerika; Alex Capus in „Munzinger Pascha“ an den Schweizer Afrika-Abenteurer Werner Munzinger; Hans Christoph Buch in „Kain und Abel in Afrika“ an Richard Kandt, den deutschen Residenten von Ruanda, und Ilija Trojanow im „Weltensammler“ an den britischen Tausendsassa Richard Francis Burton, der sich in fast allen Teilen des Commonwealth tummelte. Den in die Südsee führenden Spuren des Nürnberger Gottsuchers August Engelhardt ist nach Marc Buhl („Das Paradies des August Engelhardt“) jetzt auch Christian Kracht in seinem neuen Roman „Imperium“ gefolgt.
Im Gegensatz zu Humboldt, Munzinger, Kandt oder Burton war Engelhardt an Realität nur als Startbahn zum Abheben in metaphysische Gefilde interessiert. Die Lebensreform-Bewegung um 1900 ermunterte manche Sonderlinge, neue Evangelien von Nacktwandern, Vegetarismus und Sonnenanbetung zur Überwindung der verachteten westlichen Zivilisation zu verkünden. Innerhalb dieser Strömung gab es einige Propheten, die nicht nur das irdische Glück maximieren wollten, sondern sich auch als religiöse Heilsbringer gerierten. Zu ihnen gehörte August Engelhardt. Von allen Gesundheitsaposteln, die damals in Europa (Gustav Nagel), Nordamerika (John Kellog) und Australien (Edward Halsey) vegetarische Diäten aus frommer Absicht anpriesen, war er mit Abstand der weltfremdeste. Das zeigt die Forschung über ihn, und so wird er auch von Christian Kracht geschildert.
Mit seinen bisherigen Büchern hat Kracht als Reiseschriftsteller und Analytiker kultureller Konfrontationen großen Erfolg gehabt, und der wird auch bei „Imperium“, einem Meisterwerk, nicht ausbleiben. Die Figuren des Buches sind bis auf wenige Ausnahmen historische Persönlichkeiten, doch geht Kracht mit ihren Lebensläufen frei um, erfindet Begegnungen und verändert Ereignisse. Im Roman stirbt Engelhardt nicht 1919, wie die historiografische Forschung berichtet, sondern erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Solche Abweichungen haben ihren Grund nicht zuletzt in den wiederholten Hinweisen des Erzählers auf Ähnlichkeiten zwischen August Engelhardt und Adolf Hitler, die er beide in einem Erlösungswahn befangen sieht.
Berichtet wird die Handlung von einem „Wir-Erzähler“, der die Hauptfigur des Romans gern „unseren Freund“ nennt. Es ist eine narrative Stimme, die immer präsent ist, die souverän über ein Wissen verfügt, das Vergangenes, die Gegenwart um 1900 und kommende Jahrzehnte gleichermaßen umgreift. Als Leser vollziehen „wir“ das Erzählte nach, werden gleichsam Teil der berichteten Welt, in der Engelhardt sich bewegt. Dessen erste Publikation trug den Titel „Eine sorgenfreie Zukunft“. Die heile Welt wollte er durch „nackten Kokovorismus“ herbeiführen, den er für den „Willen Gottes“ hielt. Das Paradies, „sein Zion“, war die Kolonie Deutsch-Neuguinea, genauer Kabakon, eine winzige Insel im Bismarck-Archipel, auf dem sich eine Kokospalmen-Plantage befand, die Engelhardt erwarb. Kabakon liegt in der Nähe der Insel Neupommern (später New Britain). Herbertshöhe (heute Kokopo) auf Neupommern war die Hauptstadt der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Der Mensch, so Engelhardt, braucht nichts anderes als Sonne, Nacktheit und Kokosnüsse, um eine höhere, ja die höchste, die gottnahe Kulturstufe zu erreichen: Die Kokosnuss ist sein Gral, die Palme seine Kathedrale, die Südseeinsel sein Jerusalem, sein Rom, sein Mekka. Alle Probleme der Welt werden aus falscher Essgewohnheit und mangelnder Sonnenbestrahlung erklärt. Engelhardts fixe Idee (er ernährt sich nur von Kokosnüssen) ruiniert seine Gesundheit und führt zu Wahnzuständen, schließlich – in Krachts Roman – zu einem paranoiden Antisemitismus. Hier wird die Parallele zu Hitler erneut konturiert, der ebenfalls die Übel der Welt aus einem Punkt, dem der Rassenvermischung, heraus erklärt und das „Heil“ im Antisemitismus sieht. Hitler gehörte am Anfang seiner „Bewegung“ zu jenen Inflations-Heiligen, die in der Weimarer Republik mit „radikalen“ Mitteln, die jenen der Lebensreform-Propheten in vielem ähnelten, die große „Erlösung“ versprachen. Im Wortsinne weit vom Schuss hat der Krachtsche Roman-Engelhardt die Katastrophen von Gaskrieg und Vergasung, von militärischem Hinmetzeln und industrieller Tötung auf seiner Südsee-Insel überlebt. Dort wird er, alt und vergessen, ein kurioses Relikt aus einer anderen Welt, 1945 von amerikanischen Soldaten aufgegriffen, die seine exotische Story gleich als Film imaginieren. „Unser Freund“ erfährt Mitte 1945 vom Sieg des amerikanischen „Imperiums“ und vom Ende des „Reichs“ der Deutschen und ihrer Weltmachtambition. Engelhardt wandelt sich als Methusalem noch vom fanatischen Vegetarier zum entspannten Verzehrer von Fleischkonserven aus den USA, vom verklemmten Kokosmilchschlürfer zum fröhlichen Coca Cola-Trinker: Er ist immer noch Teil des deutschen „Wir“ und erlebt den historischen Umbruch praktisch als Reeducation.
Die Stärke des Romans liegt nicht in der didaktisch-bemüht wirkenden Parallele zwischen dem relativ harmlosen Narren Engelhardt und dem kriminellen Irren Hitler. Engelhardt wollte einen „Sonnenorden“ gründen, doch war er mit allem Organisatorischen überfordert, hatte nie mehr als dreißig Jünger, die ihm zudem Angst einjagten. Das sollte – wie auch Kracht berichtet – einer seiner ersten Gefolgsleute auf Kabakon, der Berliner Musiker Max Lützow, bald erfahren und ihn zur Flucht aus dem kokovoristischen Garten Eden veranlassen. Hitler dagegen baute eine politische Partei auf, die über ein Vierteljahrhundert hin die Basis seiner Macht abgab und seit dem Regierungsantritt Millionen von Mitgliedern zählte. Was an „Imperium“ überzeugt, ist vor allem Krachts Schilderung sozialer Konstellationen und zwischenmenschlich-psychologischer Entwicklungen im Kontext des wilhelminischen Platz-an-der-Sonne-Kolonialismus. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war das Deutsche Reich die drittgrößte Kolonialmacht der Welt, und der Nordosten Neuguineas das jüngste der sogenannten „Schutzgebiete“ unter der Reichsflagge. Kracht zeichnet plastisch die in diesem System agierenden Menschen und profiliert zu Tage liegende wie unterschwellige Konflikte. Streit gab es genug: zwischen Deutschen und Einheimischen, Pflanzern und Verwaltern, Händlern und Gouverneuren, Heiden und Missionaren, Ehefrauen und Konkubinen. Die kulturellen Differenzen waren oft unüberbrückbar (in Neuguinea war Kannibalismus bei der Urbevölkerung eine Selbstverständlichkeit), und die außenpolitischen Krisen (man teilte sich Neuguinea mit den Holländern und den Briten) wiederholten sich mit berechenbarer Regelmäßigkeit.
Die Natur der Südsee wird ohne Klischees mit einprägsamem Realismus geschildert: die Farben von Sonne und Wolken zu den unterschiedlichen Tageszeiten, die See in Ruhe und Sturm, die Moskitos, Fische und die Vögel; die Gerüche der Menschen, der Tiere, der Palmen; das Atmosphärische bei den Schiffsfahrten und beim Anlegen in den Hafenstädten. Die Schattenseiten des Paradieses: Malaria und andere Tropenkrankheiten fordern ihre Opfer auch unter Engelhardts Anhängern. Die Literaturliebhaber kommen beim Lesen zu ihrem Recht, wenn auf Hesse, Kafka, H.P. Lovecraft, Dickens, Thoreau, Tennyson, E.T.A. Hoffmann, Büchner, Keller, Jack London, Melville und Swedenborg intertextuell angespielt wird.
Einzelne Szenen sind mit ihrem Humor unvergesslich, etwa wenn die schöne „Queen Emma“ dem blassen Kokosnuss-Propheten die Insel Kabakon andreht und ihn nach allen Regeln des Kommerzes übers Ohr haut. Emma Forsayth-Coe, Tochter eines amerikanischen Walfängers und einer Prinzessin aus Samoa, gehörte fast ganz Neupommern und war, was weibliche Emanzipation betrifft, ihrer Umgebung um Generationen voraus. Nicht minder einprägsam sind die ambivalenten Charakterzeichnungen von Wilhelm Solf, dem Leiter des Reichskolonialamtes in Berlin, und seinem Freund Albert Hahl, dem Gouverneur von Deutsch-Neuguinea. Über Hahl berichtet der Wir-Erzähler, dass er später zum Solf-Kreis gehören wird, eine – von der Witwe Wilhelm Solfs zusammengehaltene – Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, dessen Mitglieder fast alle vom Blutrichter Roland Freisler zum Tode verurteilt wurden.
Christian Kracht, Imperium. Roman. Köln: Kiepenheuter & Witsch, 2012.
Peter Stephan Jungk, Das elektrische Herz
Literatur und Kritik (Juli 2011)
„Wer erzählt nun unsere Geschichte? Du oder ich?“ heißt es zu Anfang von Jungks neuem Buch, und schon diese Frage legt eine originelle und raffinierte Erzähltechnik offen. Denn dass ein Erzähl-Ich sich dupliziert, sich teilt in eine reguläre Romanfigur und in dessen Herz, ist alles andere als eine Alltagserscheinung im überraschungsreichen Gebiet moderner Narratologie. Die Frage danach, wer nun „unsere Geschichte“ erzählt, wird vom Herzen des Protagonisten an ihn selbst gestellt. Manchmal sprechen die beiden sich mit „wir“ an, aber meistens bezeichnen sie den Partner als „Du“. So folgt man beim Lesen von Anfang bis Ende einem Dialog, bei dem Person und Herz sich nicht selten über die Korrektheit der Erinnerung streiten, die sie gerade festhalten. Das ist die zweite Besonderheit des Romans: Er ist mit seinen vielen Zwiegesprächen „dramatisch“ angelegt. Die Dialoge zwischen dem Romanhelden und seinem Herzen erhöhen die Spannung, verlangen aber dem Leser eine erhöhte Aufmerksamkeit ab, da es nicht immer einfach ist, die beiden Stimmen auseinander zu halten. Der Protagonist heißt Max David Villanders und lebt als freischaffender Autor, als Deutsch schreibender Dramatiker in Paris, hat aber – vor allem wegen der umzugsfreudigen Eltern – auch Kindheits- und Jugendjahre in Los Angeles, Wien, Berlin und Salzburg verbracht. Wer Peter Stephan Jungks Biographie kennt, merkt bald, dass Villanders zwar keineswegs das alter ego des Autors ist, dass aber viel Erlebtes und Gesehenes in den Roman hineinspielt. Schon der Name des Helden verrät ein wenig die Nähe zwischen Autor und Erzähler, denn Villanders in Südtirol ist seit langem Jungks bevorzugter Ferienort. Aber in dem Familiennamen stecken noch weitere Hinweise auf Charakter und psychische Struktur des Protagonisten. Im Englischen heißt „to philander“ bekanntlich schäkern/flirten und den Frauen nachlaufen (hergeleitet vom altgriechischen „philandros“: der Liebende). Damit verbunden ist wohl eine Assoziation mit dem Barockautor Johann Michael Moscherosch, der seine Satiren unter dem Pseudonym Philander von Sittewalt publizierte. Seine „Gesichte“ versprachen im Titel, dass „aller Weltwesen, aller Mänschen Händel, mit ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalts, Heucheley, Thorheit bekleidet, offentlich auff die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellet und gesehen werden“. So lange Titel widersprechen heutigen Marketing-Strategien im Buchhandel, doch klingt der Text auf der Innenseite des Umschlags von „Das elektrische Herz“ ähnlich. Da ist von „erotischen Verwirrungen“, von „Abwegen“ und „Liebesabenteuern“ die Rede, was an Philander von Sittewalts Kapitel über die „Venus-Narren“ und das „Weiber-Lob“ erinnert. Villanders klingt auch nach „viel anders“, und im Klappentext wird auf den „etwas anderen Don Giovanni“ verwiesen, um den es sich bei dem Romanhelden handelt.
Die dritte Besonderheit: Der Roman schildert das Herz zum einen konventionell als Sitz des Gefühls und der irrationalen menschlichen Regungen, zum anderen aber auch rationalistisch-modern als physisches Organ, als Blutpumpe des menschlichen Körpers. Erstens erfüllt das Herz seine uralte metaphorischdichterische Aufgabe, die Emotionen von Freundschaft und Liebe, von Sehnsucht und Passion zu verstehen und zur Geltung zu bringen. Zweitens aber sieht es sich selbst so objektivistisch wie mit den Augen der Mediziner, Chirurgen, Biologen oder Chemiker, weswegen es über seine Krankheiten und Strapazen, seine Operationen und Gesundungsprozesse nüchtern Protokoll führt. Entsprechend gibt es zwei Handlungsstränge im Roman, die beide mit Herz und Schmerz zu tun haben: Wir erfahren viel von den erotischen Eskapaden eines Ehemannes, der sich paradoxerweise subjektiv als treu versteht; und zudem gibt es wohl kaum einen anderen Gegenwartsroman, der so ausführlich über Operationen am offenen Herzen berichtet, weswegen der Titel „Das elektrische Herz“ gewählt wurde. Während nämlich bei medizinischen Eingriffen in dieses Organ seine Tätigkeit stillgelegt wird, übernimmt eine elektrisch betriebene Maschine die fürs Weiterleben unerlässliche Zirkulationsfunktion.
Das Herz des Max David Villanders erinnert sich an die Leidensgeschichte des Protagonisten, der sein Leben lang mit Herzproblemen zu kämpfen hat und wiederholt lange Wochen in Kliniken verbringen muss. Nicht minder lebhaft als an diese wenig erfreulichen Erfahrungen denkt es an die zahlreichen Liebschaften Villanders zurück. Gerade in dieser Hinsicht steht das Herz nie still und ist engagiert bei der Sache. Auch den neuesten, d.h. den gegenwärtigen Fall von Fremdgehen erlebt es enthusiasmiert mit: In seiner Pariser Wohnung hat Villanders Amors Pfeil getroffen, als er der Briefträgerin begegnet, der schönen Farah, die ihre Kindheit in Marokko verbrachte. Die Maxime der lebensfrohen jungen Frau lautet: „Gewissensbisse sind besser als sich Vorwürfe zu machen, man habe etwas versäumt.“ Farah und Max David sind mit anderen Lebenspartnern verheiratet, und obwohl beide nicht daran denken, ihre Ehen zu gefährden, läuft alles von Anfang an direkt auf den beglückenden Seitensprung hinaus. In der Farah-Erzählung zeigt Eros, wie er den Zugang ins Paradies der Zweisamkeit vermittelt. An anderer Stelle dagegen – und das ist der erzählerische Höhepunkt des Buches – gewährt er Einblick ins seelische Purgatorium eines sich übernehmenden „Frauensammlers“, eines Abenteurers, der sich an viele Namen auf seiner „Weiberliste“ schon nicht mehr erinnern kann. Eine der verlassenen Geliebten hat zu Villanders 50. Geburtstag eine Party zu seinen Ehren im King David Hotel in Jerusalem veranstaltet, und dort tauchen zur Überraschung, ja zum Entsetzen des Romanhelden fünfzig seiner früheren Freundinnen auf. Max David ist in Begleitung seiner treuen Gattin, und man kann sich die dramatische Entwicklung samt Flucht der Ehefrau leicht ausmalen. Es sieht so aus, als werde Don Giovanni ins Inferno der Verachtung, des Hasses und der Rache seiner Frau verstoßen. Aber Jungk erzählt weder den „Don Juan“ des Tirso de Molina noch Dantes „Commedia“ nach. Im Lauf der Zeit söhnen sich Ehemann und Ehefrau aus. Wenn jedoch die Gattin, die international Kunstausstellungen organisiert, zu lange beruflich unterwegs ist, animiert das Herz seinen Helden dazu, sich mit Farah einzulassen, die ihn durchschaut und trotzdem liebt. Ein wunderbar facettenreiches Buch, das auch mit seinen Reminiszenzen an die Jugendzeit Villanders in den 1960er und 1970er Jahren die Stimmungen, Verrücktheiten und Gefährdungen jener Dekaden vergegenwärtigt. Der Roman handelt im medizinischen wie psychischen Sinn von einem „offenen“ Herzen, und ein leichter Hauch von „La vie Parisienne“ à la Jacques Offenbach durchweht das Buch, dem man viele Leser wünscht.
Peter Stephan Jungk, Das elektrische Herz. Roman. Wien: Zsolnay, 2011.
Peter Stephan Jungk, Der König von Amerika
DIE ZEIT (29.11.2001)
1993 erschien Marc Eliots kritische Biografie über Walt Disney. Schon der sinistre Titel „Hollywood’s Dark Prince“ deutet an, dass hier jemand vorgeführt wurde, dessen Leben nicht in Kategorien erzählbar war, wie man sie mit der Lichtfigur des guten schönen Prinzen aus „Schneewittchen“ verbindet, aus einem Märchen also, dessen Zeichentrickverfilmung den weltweiten Ruhm des Filmmagnaten eigentlich erst befestigt hatte. Offizieller Informant von Edgar Hoovers FBI sei er ein Vierteljahrhundert lang gewesen und habe mit seiner antikommunistischen Subversionsparanoia während der McCarthy-Ära Karrieren von Mitarbeitern und Bekannten in Hollywood ruiniert. Eliots Biografie versuchte, Disneys Ängste und Obsessionen aus der wenig märchenhaften Herkunft des späteren Fantasia-Königs zu erklären.
Peter Stephan Jungks Romanbiografie ist ohne Eliots Studie nicht denkbar, und doch ist in ihr etwas Neues gelungen: Jungk hat das Hollywood-Monster wieder in einen Menschen zurückverwandelt. Nicht dass Eliots hässlicher Frosch bei Jungk zum schönen Prinzen mutierte. Jungk bedient sich eines klugen erzählerischen Tricks, um die charismatisch-inspirierenden Züge Disneys aufleuchten zu lassen, ohne dabei seine abgründigen Charakterseiten ignorieren zu müssen. Er lässt – Privileg des Romanschriftstellers – William Dantine, einen fiktiven ehemaligen Mitarbeiter Disneys, das Leben des Imperators im Reich der Populärkultur erzählen. Das Manuskript dieser Biografie schreibt Dantine als Gefängnisinsasse in St. Louis; er sitzt in Haft, weil er die Urne mit der Asche seines verstorbenen Idols entwendet hat. Die Romanhandlung umfasst die letzten drei Monate im Leben Disneys, aber Jungks Erzähler baut so viele Rückblenden ein (Geschichten, die ihm von ehemaligen Bekannten und Freundinnen Disneys berichtet wurden), dass ein reiches Biografiemosaik entsteht. Dantine war, so will es Jungks Roman, von Disney gefeuert worden, nachdem er mit anderen Kollegen gegen den Boss intrigiert hatte. Der Erzähler ist – wie fast jeder der engen Mitarbeiter Disneys – einerseits fasziniert von der Persönlichkeit dieses modernen Magiers und begehrt andererseits auf gegen die dominierende Unternehmerfigur.
Dantine ist seit seiner Entlassung durch Disney wie besessen von der Vorstellung, alle Details aus dessen Leben erfahren zu müssen. Wann immer es öffentliche Auftritte des Erfinders beziehungsweise Promotors von Mickey Mouse und Donald Duck gibt, befindet Dantine sich im Tross der Fans und Journalisten. Der Roman beginnt im September 1956 mit dem Bericht über Disneys Besuch in seinem Heimatort Marceline. Das ist eine der zahllosen unscheinbaren small towns in Missouri, die sich, wie in die Prärie hineingewürfelt, zwischen St. Louis und Kansas City finden und deren Bedeutung sich vor allem darin erschöpfte, Verladestationen an einer Eisenbahnlinie zu sein. Wie Mark Twain und Harry Truman hatte auch Walt Disney seine Kindheit auf dem Land in Missouri verbracht, also im Herzen des Mittleren Westens, im geografischen Zentrum der USA.
Letztlich dreht sich in Jungks Roman alles um dieses mythische Dörfchen Marceline in Missouri, das für Disney der Nabel der Welt war. In der Erinnerung vergoldete sich ihm die Kindheit, die er dort zwischen dem fünften und zehnten Jahr verbracht hatte, zur eigentlichen Glücksphase seines Lebens. Der Vater, eine gescheiterte Existenz, hatte von Chicago nach Marceline zu einem Verwandten umziehen müssen. Dort schlug er sich als Farmer durch. Aus religiösen Gründen drosch er die älteren Söhne derart inbrünstig durch, dass sie dem nicht sonderlich trauten Heim entflohen, noch bevor ihre Teenagerjahre vorüber waren.
Disney hatte als jüngerer Sohn Glück: Die Prügelrati...