Textuelle Formationen von Erinnerung und Gedächtnis
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Textuelle Formationen von Erinnerung und Gedächtnis

Linguistische Studien zum Erzählen in Uwe Johnsons »Jahrestagen«

  1. 312 Seiten
  2. German
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Textuelle Formationen von Erinnerung und Gedächtnis

Linguistische Studien zum Erzählen in Uwe Johnsons »Jahrestagen«

Über dieses Buch

Eine systematische Analyse der Struktur von Uwe Johnsons monumentalem Roman Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl ist bislang ein Desiderat geblieben; die vorliegende Untersuchung soll diese Lücke schließen. Sie richtet ihr Augenmerk dazu primär auf jene Mnemopoetik, die dem Roman sein charakteristisches Gepräge gibt und die ihrerseits durch eine systematische Engführung der einzelnen Erinnerungen und ihrer Gehalte gekennzeichnet ist. Zur Beschreibung dieser strukturellen Eigenart werden sprach- und literaturwissenschaftliche Ansätze zu einem integrativen exegetischen Instrumentarium zusammengeführt, das die Inhalts- und die Formseite des Textes konsequent aufeinander bezieht. Es erlaubt so, Figuren der mimetischen Darstellung unbewusst ablaufender und potentiell unendlicher Erinnerungsvorgänge zum einen und solche der Konstitution einer reflektierten, intentionalen Erinnerung zum anderen nachzuzeichnen und jeweils an paradigmatische textuelle Muster rückzubinden. Dieses analytische Rüstzeug wird in einer Reihe von Einzelstudien erprobt und sukzessive erweitert; dabei fällt auch auf die Disposition des Romans im Ganzen wie auf seine poetologischen, erinnerungs- und sprachtheoretischen Voraussetzungen ein Licht.

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Information

1 Einleitung

1.1 Die „Jahrestage“ – Erinnern, Berichten und Erzählen

Uwe Johnsons monumentaler Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“, dessen vier Bände in den Jahren zwischen 1970 und 1983 erschienen sind, bietet eine kaum mehr zu überblickende Fülle an Inhalten. Aus dem Kreis der übergeordneten Leitthemen und -motive, in welchen sich die Impulse ausartikulieren, die für das Erzählen in den „Jahrestagen“ bestimmend sind, ragt der Komplex von Erinnerung und Gedächtnis als besonders bedeutsam heraus. Das ist daran zu erkennen, dass die Erzählung, sofern sie die Vergangenheit betrifft, als Erinnerungsprozess oder aber als Ergebnis eines solchen inszeniert wird: Die aus der fiktiven mecklenburgischen Kleinstadt Jerichow gebürtige Gesine Cresspahl, die als Angestellte an einem New Yorker Kreditinstitut tätig ist, lässt während eines vollen Jahres – die einzelnen Tageseinträge, in die der Roman sich untergliedert, umspannen den Zeitraum zwischen dem 21. August 1967 und dem 20. August 1968 – die Geschichte ihrer Familie in der späten Weimarer Republik sowie ihre eigenen Erlebnisse unter dem Nationalsozialismus und in den frühen Nachkriegsjahren Revue passieren. Tatsächlich, so wird sich alsbald erweisen, gestalten die Verhältnisse sich weitaus komplizierter, als diese summarische Inhaltsangabe vermuten lässt. Zunächst aber kann man festhalten, dass die einzelnen Tage des Jahres allesamt Gedenktage sind – in der Doppeldeutigkeit des Romantitels spricht sich das bündig aus.1
Nun wird freilich die Erinnerung in den „Jahrestagen“ nicht bloß dargestellt oder erzählt. Die teils vom Bewusstsein gesteuerte, teils vermeintlich ziellos mäandernde Besinnung auf längst Versunkenes, Abgetanes, das untergründig doch noch in der Gegenwart nachzuhallen scheint, figuriert im Verlauf der Schilderung immer wieder auch als Gegenstand der Reflexion. Sie gibt zu der Frage Anlass, wie das Vergangene als Gehalt der Erinnerung angemessen zu erzählen sei. Das Geschehene, so zeigt sich allenthalben, lässt sich nur als erzähltes oder berichtetes erfassen und abschließend bewerten. Das gilt für die historische und die private Vergangenheit ebenso wie für die Gegenwart; die so vielgestaltige, komplexe, gleichsam amorphe Wirklichkeit der Zeit um 1967/68 ist derart undurchschaubar, dass der Einzelne, der mitsamt seiner Identität längst in ihr Räderwerk hineingeraten ist, sich nur noch mit Hilfe der Medien, namentlich der Zeitung, in der Welt zu orientieren vermag. Was auch immer sich zutragen mag, es gelangt ihm einzig als vorgefertigte, vielfach gefilterte Information zur Kenntnis. Wo indes die Informationen ausbleiben, scheint sich für ihn die Wirklichkeit sogar des einzelnen Tages in diffuse Eindrücke aufzulösen; Tag und Datum bilden darum nicht länger bloß Einheiten der Zeit, sondern auch solche des Sinns. So sind denn auch nicht allein berufliche Gründe dafür ausschlaggebend, dass Gesine in einem nachgerade ritualisierten Exerzitium tagtäglich die ihrer Meinung nach „beste Zeitung der Welt“ (JT, 67),2 nämlich die New York Times, studiert; sie tut es aus einem existentiellen Bedürfnis heraus.3 Das erhellt bereits daraus, dass sie nicht ansteht, das Blatt als „Bewußtsein des Tages“ (JT, 63) zu apostrophieren. Darüber hinaus liest man über sie Folgendes:
Wenn sie an einem Tag am Strand die Zeitung verpaßt hat, hält sie abends ein Auge auf den Fußboden der Ubahn [sic] und auf alle Abfallkörbe unterwegs, auf der Suche nach einer weggeworfenen, angerissenen, bekleckerten New York Times vom Tage, als sei nur mit ihr der Tag zu beweisen. Sie ist mit der New York Times zu Gange und zu Hause wie mit einer Person, und das Gefühl beim Studium des großen grauen Konvoluts ist die Anwesenheit von Jemand, ein Gespräch mit Jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit, dem verhohlenen Zweifel, der verborgenen Grimasse, dem verzeihenden Lächeln und solchen Gesten, die sie heutzutage einer Tante erweisen würde, einer allgemeinen, nicht verwandten, ausgedachten: ihrem Begriff von einer Tante (JT, 14f.).
Die hier vorgenommene Anthropomorphisierung legt die Vermutung nahe, dass Gesine die rein rezeptive Haltung einer gewöhnlichen Zeitungsleserin längst zugunsten einer hybriden Form der Interaktion aufgegeben hat oder zumindest meint, in einen regelrechten Dialog mit dem Medium eingetreten zu sein: „Die Imaginierung einer Person“, so konstatiert Kaiser, der sich mit der Rolle der Medien in Johnsons Erzählwerk beschäftigt hat, „schafft […] die Fiktion einer potentiellen Reziprozität der Kommunikationsabläufe“ (Kaiser, 142). Sie münzt „die faktische Asymmetrie des Organisationsgrades von Sender und Empfänger“, wie sie für die modernen Massenmedien kennzeichnend ist, gewissermaßen unter der Hand in ein Verhältnis „fiktional-fiktive[r] Symmetrie“ um, in welchem die Diskursuniversen der Zeitung und ihrer Leserin sowie deren sprachliche Manifestationen „sich – paradox genug und doch aufgrund der engen Beziehung logisch – einander angleichen“ (Kaiser, 142). Zudem streicht die Personifikation die Subjektivität der Berichterstattung in der Zeitung, die für sich selbst Überparteilichkeit und Ausgewogenheit, mit einem Wort: Objektivität reklamiert und die doch bereits durch die Selektion der Nachrichten unterschwellig nicht bloß die eigene Wahrnehmung des aktuellen Geschehens, sondern auch deren Voreinstellung durch Werturteile zur Anzeige bringt, heraus.4 Die perspektivische Verengung, die der individualisierenden Betrachtung des Massenmediums eigen ist, lenkt den Blick auf dessen tendenziöse Züge, die einer subtilen Indoktrinierung des Rezipienten den Weg bereiten und in denen sich wiederum welt anschauliche Prämissen etwa der Herausgeber oder der maßgeblichen Redakteure artikulieren;5 sie hat ihre Grenze dort, wo sie den Anschein erweckt, dass in der politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung des Mediums eine klar bestimmte ideologische Position, wie sie ein Einzelner vertritt, zum Durchschlag kommt. Als Erzeugnis eines Autorenkollektivs ist ein Medium nämlich ein anonymes und nicht zuletzt aus diesem Grunde auch ein für sich seiendes Ganzes, das sich – zumal im Zeitalter der Automatisierung der Produktionsprozesse, die das Zeitungswesen so wenig unangetastet lässt wie die anderen Sparten und Betriebe –individuellen Meinungen gegenüber, wie sie diesen oder jenen Artikel infiltrieren, verselbständigt. Unter diesem Blickwinkel hat namentlich die Metaphorik, deren Johnson sich bedient, etwas Anachronistisches. Gerade dieser Umstand jedoch dürfte neben der literaturgeschichtlichen Tradition, in die sie sich einfügt, bei der Wahl des Bildes der Tante – und zwar „einer allgemeinen, nicht verwandten, ausgedachten“ (JT, 15) – eine bedeutende, wenn nicht entscheidende Rolle gespielt haben. In der Ikonographie, die der Roman ausbildet, verkörpert „die alte, ehrliche Tante“ (JT, 68) bürgerliche Kategorien und Wertmaßstäbe, wie sie im ländlich geprägten Mecklenburg der frühen Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts, das die Szenerie für die Vergangenheitserzählung in den „Jahrestagen“ abgibt, vorherrschend gewesen sein dürften;6 das gestattet die Schlussfolgerung, dass die Zeitung für Gesine eine Projektionsfläche darstellt, auf welcher sich ironisch gebrochen die Normen der Gesellschaft spiegeln, in der sie sozialisiert worden ist. In solchen Normen, die Gesine mehr oder minder unbewusst verinnerlicht hat, klingt etwas ihr Vertrautes an, das ein Gegengewicht zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit und Entfremdung schafft, das sie in New York Tag für Tag begleitet. Ihre Vorliebe für das Blatt hängt so nicht zum mindesten mit dessen konservativer Prägung, mit einem Mut zur Unzeitgemäßheit zusammen, wie ihn affirmativ bereits das altmodisch-elegante Layout bekundet.7 Unter dem Datum des 11. September 1967 heißt es:
Und wir hatten 1961 die Wahl zwischen ihr und der Herald Tribune! zwischen konservativ dunklem Aufzug von Tagwerk und Pflichterfüllung, andererseits dem mehr appetitlichen Druckbild, den flotteren Fotos, einer auch ältlichen Figur, die dennoch auftrat mit Seide um die bleichen Haare, Schleifchen am Hals, Modefarben um die Lenden und Stiefeletten aus der Via Condotti; uns blieb keine Wahl. […] Für 5 Cent nicht nur abwechselnd bedrucktes Papier, sondern die begründete Erwartung, daß Nachrichten bei dieser Hausfrau nicht unter den Teppich gekehrt werden, daß schmutzige Wäsche ihr ein Anlaß zum Waschen ist, daß jeder Schrank geöffnet werden kann, und in keinem hängt ein Skelett am Kleiderbügel! Diese Person des Vertrauens, sie hat uns ausgerüstet mit Gründen für ein Leben in New York! hier zum ersten Mal konnten wir unsere Anwesenheit zusätzlich mit Vernunft auslegen und sagen, daß eine hiesige Zeitung die Nachrichten aus Deutschland mit denen aus der Welt in ein richtiges Verhältnis setzt: in ein kleines, so daß sie uns half und dazu erzog, Wirklichkeit entgegenzunehmen mit Erwartungen und Urteilen, auf die Eltern uns ohnehin gestimmt hatten! (JT, 68).
Die Affinität zwischen der New York Times und ihrer Leserin legt den Grundstein zu der narrativen Synkopierung von Zeitungstext und Erzählung, die den „Jahrestagen“ ihr charakteristisches Signum aufdrückt. In den meisten der 367 Tageseinträge, aus denen Roman sich zusammensetzt, wird der Erzählprozess durch die Zeitungslektüre initiiert. Indessen macht die Konstruktion des Textes sich dabei auch eine grundsätzliche strukturelle Ähnlichkeit von Zeitung und Gedächtnis zunutze: Jene ist wie dieses ein Archiv, das unzählige Nachrichten, Informationen und Daten in sich versammelt, ohne ihnen gleich auf Anhieb ein Ordnungsprinzip aufzuzwingen, welches ihnen äußerlich und in kulturell vorgefertigten Klassifikationsschemata fundiert ist.8 Freilich ist die Zeitung in vielerlei Hinsicht auch vom Gedächtnis unterschieden: So erfolgt etwa die Auswahl der Nachrichten, die sie präsentiert, in aller Regel nach bestimmten, im Idealfall durchweg transparenten und allgemein nachvollziehbaren Kriterien, während die Speicherung ebenso wie die Aktualisierung einzelner Gedächtnismomente – eben dieser Vorgang wird hier als Erinnerung gefasst – seltener, als man gemeinhin glauben mag, dem Willen des Einzelnen untersteht. In den „Jahrestagen“ nun sendet häufig gerade eine der New York Times entnommene Zeitungsnotiz einen Impuls aus, der Gesine zur Anamnese,9 zur Rekapitulation ihrer eigenen und der historischen Vergangenheit drängt. Das überpersönliche, kollektive Gedächtnis kommt mit dem Gesines in Berührung, so dass sich zwischen deren persönlichen, oftmals diffusen Erinnerungsbildern und den Nachrichten Beziehungen herausbilden, die ihrerseits die Erinnerungsprozesse als deren Hybride präfigurieren. Das hat zur Konsequenz, dass die Erzählung, die das Erinnern nachvollzieht und überformt, die Zeitung als unverrückbaren Referenzpunkt in sich hineinzieht, sei’s indem sie deren narrative Muster reproduziert, sei’s indem sie diese kritisch hinterfragt oder gar verwirft. In der montageartigen Verschränkung von Zeitungs- und Erzähltext findet das Aufeinandertreffen von Gegenwart und Vergangenheit, an welchem der Erinnerungsvorgang sich entzündet, wie auch ihrer beider Vermittlung, die in der Ausfertigung eines diskursiven Erinnerungstextes statthat, einen kongenialen Ausdruck. Die Implantierung von Realien in das poetische Gebilde hat somit nicht nur den Zweck, dessen Imaginationen an die historische Wirklichkeit zurückzubinden und damit die Dichotomie von Fiktionalität und Faktualität in ihrer Ausschließlichkeit in Frage zu stellen. Sie soll zudem auch eine Art kollektiven Bewusstseinsraums begründen, der den Wahrnehmungshorizont des in seinem Erkenntnisvermögen beschränkten Subjekts – zumal des in sich selbst befangenen – ins Unabsehbare ausdehnt, freilich ohne dies Subjekt zu destituieren. Gesine beharrt gegenüber den diskursiven Praktiken des kollektiven Gedächtnisses mit seiner routinierten Erinnerungskultur auf ihrer eigenen Lesart der Vergangenheit und sieht sich doch auch auf sie verwiesen, wann immer sie ihre eigenen Erfahrungen zu evaluieren versucht, ohne ihre Maßstäbe aus den herkömmlichen Deutungsmustern zu nehmen. Die Individualität des Erinnerungssubjekts und seines Eingedenkens zeichnet sich somit stets vor dem Plafond der vergesellschaften Memoria und ihrer Rituale ab: Als in sich zurückgezogene, hermetische, als reine Egoität im Sinne des Idealismus ist jene Individualität selber Fiktion. Und doch nimmt der Roman sich seiner Protagonistin an, um ihr und ihrer persönlichen Erinnerung gegenüber der Allgemeinheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Dazu lässt er den Autor selbst als ihren Komplizen auf die Bühne treten, und zwar geschieht das im Zuge der Schilderung eines öffentlichen Vortrages, den der „Schriftsteller Johnson“, so die opinio communis der Forschung, tatsächlich vor amerikani schen Juden in New York gehalten und dem Gesine unserem Roman zufolge als Zuhörerin beigewohnt hat. „Auf Einladung vom American Jewish Congress“, resümiert Neumann 1994, sprach Johnson über den
besorgniserregenden Zuspruch der pseudorechtsstaatlichen Nazinachfolgepartei NPD in der Bundesrepublik. Johnson erfuhr bei diesem Vortrag keinerlei Resonanz. Fand sich, am Rednerpult stehend, mit Mißbilligung konfrontiert (Neumann 1994, 649).
Die Ursachen für den desaströsen Ablauf der Veranstaltung – die übrigens anders, als Neumann behauptet, nicht bloß in der Fiktion, sondern auch in Wirklichkeit am 16. Januar 1967, also vor der von den „Jahrestagen“ abgedeckten Zeitspanne, stattgefunden hat – lagen nach Krellner darin, dass Johnson „von den überlebenden Juden […] nicht als kritischer Analytiker der politischen Situation in Westdeutschland“, sondern „als Angehöriger des Volks der Täter“ angesehen wurde (Krellner, 215f.). Johnson führt bei der Nacherzählung seines Auftritts die Ablehnung, die er vonseiten seines Auditoriums erfuhr, denn auch gleichermaßen selbstkritisch wie folgerichtig auf seine eigene Kurzsichtigkeit zurück und benennt damit ein „individuelles Versagen“ (Krellner, 215), in welchem sich zugleich ein kollektives widerspiegelt:10
Der Kanzler Westdeutschlands, ehemals Angehöriger und Beamter der Nazis, hat als neuen Sprecher seiner Regierung einen ehemaligen Angehörigen und Beamten der Nazis benannt.
Sie lernen es nicht. Sie betrachten die Hand, mit der sie ihre überlebenden Opfer ohrfeigen, und begreifen es nicht: sagte der Schriftsteller Uwe Johnson. Darauf bekam er eine Ohrfeige.
Denn auch der Schriftsteller Johnson hatte etwas nicht begriffen (JT, 228).
Krellner wiederum macht darauf aufmerksam, dass der Roman der Darstellung von Johnsons Rede den Bericht über die Ereignisse vorausschickt, die in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass Gesine im Dritten Reich aufwuchs, obwohl ihr Vater Heinrich Cresspahl die englische Staatsbürgerschaft besaß: Unter dem Datum des 2. November wird geschildert, wie der Großvater Papenbrock dafür sorgt, dass sie nach ihrer Geburt im mecklenburgischen Jerichow verbleibt, indem er ihr einen Bauernhof schenkt und Cresspahl zum Verwalter bestellt. Krellner, 216, zieht aus dieser nach seinem Dafürhalten beabsichtigten und darum „signifikante[n] Korrespondenz“ (Krellner, 215) zwischen besagtem Eintrag vom 2. und dem vom 3. November, in welchem der „Schriftsteller Johnson“ als Figur in sein Werk eintritt, den Schluss, dass „die Erzählung eine nationale Verantwortlichkeit exponiert, deren historischer Ausgangspunkt anhand der Protagonistin Gesine und deren aktuelle Konsequenzen anhand des ,Schriftstellers Uwe Johnson‘ aufgezeigt werden“ (Krellner, 215). Infolge dessen, so fährt er fort, würden „der Beginn der ,deutschen‘ Biographie der Protagonistin und Johnsons privates Scheitern als Deutscher, der zu den Verbrechen des Nationalsozialismus eine analytische Position beziehen will“ in ein „kausallogisches Verhältnis“ zueinander gerückt (Krellner, 217): Zur Rechtfertigung dieser Folgerung wäre darauf zu verweisen, dass der Text, wie Benedict demonstriert hat, Gesine und ihren Schöpfer als gleichberechtigte Akteure aufeinandertreffen lässt und die ontologische Kluft zwischen ihnen systematisch verschleiert, indem er die erzähllogischen Weiterungen, die sich aus Johnsons Eingang in den Roman ergeben, gerade dort abschneidet, wo sie die Imagination dieses Ereignisses zu sabotieren drohen.11 Den Autor und seine Figur verbindet eine „ungebrochen wirksame Haftbarkeit für die deutschen Verbrechen“ (Krellner, 217),12 in deren Zeichen die Fiktion die logischen Gesetze, die beider Zusammenkunft unmöglich machen, außer Kraft setzt; darin, dass die Verantwortung,13 die Johnson und Gesine kraft ihrer Herkunft miteinander gemein haben, die an sich unüberwindliche Schranke zwischen Wirklichem und Erdachtem suspendiert, wird das Ungeheuerliche der überindividuellen Schuld versinnbildlicht, die jener zugrunde liegt. Die moralische Not treibt die poetische Reflexion, die sich im Roman materialisiert, auf das ihr von ihrer eigenen Logik Zugemessene hinaus und wirkt so darauf hin, dass ihr eigenster Impuls, der auf die Lockerung der logischen Bestimmungen geht,14 den ontologischen Kern von Dichtung im Allgemeinen, sprich ihren Illusionscharakter, schleift, durch welchen sie sich als autonome Sphäre gegen die Realität abgrenzt. So mag der sogenannte Erzählpakt,15 d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Sprache und Wissen
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Danksagung
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Theoretische Grundlagen
  8. 3 Exkurs: Methodologische Überlegungen
  9. 4 Überleitung: Linguistische Operationalisierungdes Begriffs der Korrespondenz
  10. 5 Der Romananfang 5.1 Das Wort als Vehikel und Kristallisationspunkt der Exposition von mémoire involontaire und mémoire volontaire
  11. 6 Der 27. Dezember 1967 Mnemopoetik und Montage
  12. 7 Die „Regentonnengeschichte“ Ein indiskursiver Erinnerungsentwurf und seine diskursive Reformulierung
  13. 8 Dissoziation der Erinnerung
  14. 9 Schluss
  15. 10 Bibliographie
  16. Register