1 Einleitung
Ich bin dazu geboren, dass ich mit den Rotten und Teufeln kriegen und zu Felde liegen muss, darum sind meine Bücher sehr stürmisch und kriegerisch. Ich muss die Klötze und Stämme ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss. Aber Magister Philipp fährt säuberlich und still daher, bauet und pflanzet, säet und begießt mit Lust, nach dem Gott ihm hat gegeben seine Gaben reichlich.
(Luther über Melanchthon, WA 30, 2; 68–69)
Ich ertrug zuvor eine fast schon erniedrigende Knechtschaft, weil sich Luther oft mehr nach seinem Temperament richtete, in welchem eine nicht geringe Streitsucht lag, als nach seinem Ansehen und dem Gemeinwohl. […] Ich selbst besitze kein solch zänkisches Wesen.
(Melanchthon nach Luthers Tod, MBW 5139)
Das obige Zitat von Melanchthon stammt aus einem Brief an den sächsischen Hofrat und Humanisten Christoph von Carlowitz aus dem Jahr 1548. So offen konnte Melanchthon sein Verhältnis zu Luther wohl erst nach dessen Tod beschreiben. Von lutherischen Theologen und Kirchenhistorikern wird meist der freundschaftliche und partnerschaftliche Charakter des Verhältnisses der beiden Reformatoren betont. Die bereits früh auftretenden Differenzen werden zwar erwähnt, in ihrer signifikanten Häufung jedoch nicht entsprechend gewürdigt. Um nur zwei Beispiele herauszugreifen: Bereits auf dem Augsburger Reichstag von 1530 bemühte sich Melanchthon um einen diplomatischen Vergleich mit dem konfessionellen Gegner, wurde von Luther wegen seiner Konzilianz jedoch als „Leisetreter“ gescholten. Auch im Streit zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit versuchte Melanchthon zu vermitteln. Luthers „Derbheiten“ veranlassten ihn „zu vorsichtigen Distanzierungen“.
Bei Melanchthon verband sich ein ausgleichendes, vermittelndes Wesen mit einer größeren Offenheit gegenüber anderen Auffassungen, auch auf theologischem Gebiet, wie sich insbesondere in der Abendmahlsfrage zeigen sollte. Luther dagegen brüskierte seine Gegner mit Schroffheit und Polemik. Anders als Melanchthon zeigte er keine Bereitschaft zur kompromisshaften Modifikation der einmal formulierten Lehrmeinungen.
Die unterschiedlichen Wesenszüge Luthers und Melanchthons kristallisierten sich in ihrem Verhältnis zum Humanismus. Während Luther zu Beginn gegen Aristoteles polemisierte und lediglich als Theologe Bedeutung besaß, erstreckte sich die Wirksamkeit von Melanchthon als humanistischer Universalgelehrter auf fast alle Wissensgebiete. In seiner von Luther kritisierten Irenik erwies sich Melanchthon als genuiner Erbe der italienischen Humanisten. Wie diese propagierte er das Ideal einer sittlichen Vervollkommnung des Menschen durch die Lektüre der antiken Autoren.
Dieser Gegensatz von Offenheit und Geschlossenheit bei Melanchthon und Luther prägte die weitere Entwicklung des Luthertums. Für die vorliegende Betrachtung des Magdeburger Gymnasiums ist die Polarität der beiden Reformatoren deswegen von Belang, weil sie die spätere Spaltung des Luthertums in Philippisten und Gnesiolutheraner präfigurierte. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bildeten sich zwei gegnerische Parteien heraus, von denen sich die eine aus Schülern Melanchthons, die andere dagegen aus Anhängern Luthers zusammensetzte.
Als eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit kann im Anschluss an vorgängige Forschungsbeiträge festgehalten werden, dass sich diese innerlutherische Spaltung im institutionellen Gefüge der Städte wiederspiegelte. Zwei gegensätzliche Pole sind zu beobachten: Die Lehrer und Rektoren der Lateinschulen waren als Humanisten oft Schüler Melanchthons und vertraten dessen theologische Positionen. Ihnen entgegengesetzt waren gnesiolutherische Prediger, die auf den Kanzeln und in Flugschriften ostentativ ihre Treue zum Wortlaut der Lehre Luthers herausstellten und jegliche Abweichung von derselben als Verrat brandmarkten.
Diese Verteilung lässt sich in vielen größeren Städten des lutherischen Raumes nachweisen, so auch in Magdeburg. Mit Caspar Cruciger, Georg Major, Abdias Prätorius, Siegfried Sack und Georg Rollenhagen hatten beinahe sämtliche Rektoren in Wittenberg studiert, zum Teil noch bei Melanchthon selbst. Auch in ihren späteren Ämtern vertraten sie die theologischen Positionen ihres Lehrers.
In der philippistischen Theologie machte sich in stärkerem Maße der Einfluss des Renaissancehumanismus geltend. Durch ihre Erfahrungen in der täglichen pädagogischen Praxis verfügten die Philippisten über ein optimistischeres Menschenbild. Gegen die radikale Erbsündenlehre etwa eines Matthias Flacius vertraten sie die Fähigkeit des Menschen zur sittlichen Vervollkommnung, die Existenz eines freien Willens und die Mitwirkung der Guten Werke bei der Erlangung des Seelenheils.
Gezeigt werden soll, auf welche Weise diese Bejahung menschlicher Formbarkeit in der gymnasialen Literatur ihren Niederschlag fand. Bereits in den ersten Lehrbüchern für das neu gegründete Gymnasium begegnet eine starke Akzentsetzung auf die antike und humanistische Moralphilosophie. Georg Major stellte seine publizistische Aktivität mit Ausgaben der antiken Dichtung und des Erasmus ganz in den Dienst der ethischen Unterweisung. In diesen Ausgaben wurden die Zitate – dem Schema der Loci communes folgend – nach moralischen Überbegriffen wie z. B. „Tugend“ oder „Laster“ angeordnet.
Weiterhin soll zur Darstellung kommen, wie die Konflikte zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern die Qualität des Unterrichts beeinträchtigten. So erhielt 1553 der Melanchthonschüler und exzellente Gräzist Abdias Prätorius den Magdeburger Rektorposten und führte eine deutliche Hebung des Lehrniveaus herbei. Aufgrund seiner freundschaftlichen Kontakte zu Katholiken wurde Prätorius jedoch von dem Theologen und Mitautor der Magdeburger Zenturien, Matthäus Judex, öffentlich angefeindet und verließ nach nur wenigen Jahren die Stadt. Auch sein Nachfolger im Rektorenamt wurde in Kontroversen mit den gnesiolutherischen Predigern Magdeburgs verwickelt.
Die Magdeburger Gruppe von Theologen und Publizisten um Matthias Flacius Illyricus und Nikolaus von Amsdorf hat in der Forschung eine gewisse Konjunktur. Neben Monographien zu Flacius stehen Untersuchungen zur antikaiserlichen Publizistik, zum apokalyptischen Denken und zu den Magdeburger Zenturien. Aufgrund dieser Beiträge können die Statur der Flacianer und die Stadtgeschichte Magdeburgs als hinreichend erforscht gelten. Es ist an der Zeit, auf der Grundlage dieser Beiträge nun auch die Gegenseite, die Philippisten in der „Herrgotts Kanzlei“, einer Betrachtung zu würdigen. Zur Geschichte des Altstädtischen Gymnasiums existieren bisher lediglich ein Beitrag aus dem 19. Jahrhundert und die Vorarbeiten von Michael Schilling in Aufsatzform.
Im Ergebnis wird die vorliegende Untersuchung die Ansicht korrigieren, dass von „den Humanisten, die ihr ganzes Leben als städtische Gymnasiallehrer verbrachten“, kaum einer „zur ersten Garde der Gelehrten“ zu zählen sei. Im Gegenteil erfreuten sich gerade Pädagogen wie Johannes Sturm, Georg Fabricius, Valentin Trotzendorf, Michael Neander oder Georg Rollenhagen in Magdeburg einer überregionalen Wahrnehmung.
Dass die Gymnasialdrucke aus Magdeburg zu einem Großteil in der Herzog August Bibliothek überliefert sind, spricht für diese überregionale Bedeutung der Pädagogen an Lateinschulen größerer Städte. Der Ruf eines Pädagogen spiegelte sich in der literarischen und wissenschaftlichen Qualität der von ihm herausgegebenen oder verfassten Texte, die zugleich Auswärtigen die Gediegenheit der Lehre des betreffenden Gymnasiums vor Augen führen sollten. Letztlich entdiese Art von Außendarstellung auch über Bedeutung und Frequenz der Gymnasien.
Die im Reformationsjahrhundert gegründeten Gymnasien verfügten in ihrer Zeit über eine größere Bedeutung als die heutigen, weil sie größere Bereiche der wissenschaftlichen Lehre abdeckten. Die Gymnasia illustria der größeren Städte nahmen zum Teil den Charakter einer Semiuniversität an. Laut Schulordnung aus dem Jahr 1619 wurden auch in Magdeburg Vorlesungen in Theologie und Jurisprudenz gehalten. Die eigens für das Gymnasium hergestellten und in dieser Untersuchung herangezogenen Drucke künden so von der reichhaltigen Pflege der Wissenschaften in der Elbestadt.
Mit den gymnasialen Drucken wird ein prominenter und umfangreicher Teil des Gesamtkorpus der neulateinischen Quellen der Frühen Neuzeit in den Fokus der Untersuchung gestellt. Ausschlaggebend hierfür war die Erkenntnis, dass diese Quellen nicht allein digitalisiert und über das Internet verfügbar gemacht, sondern auch gelesen, übersetzt und im breiteren Rahmen der europäischen Gelehrtenkultur verortert werden müssen. Die Zahl der bisher existenten monographischen Studien zu einzelnen frühneuzeitlichen Gymnasien ist überschaubar. Gleichzeitig scheint das Interesse an der Thematik zu wachsen, wie eine Ausstellung an der Forschungsbibliothek Gotha und eine Tagung zum Jubiläum des Akademischen Gymnasiums in Hamburg demonstrieren. Weil sie durchgängig auf den Quellen basiert, versteht sich die vorliegende Untersuchung als Grundlagenforschung und Pilotstudie, der bestenfalls weitere Monographien zu anderen überregional bedeutsamen Gymnasien des protestantischen Raumes folgen könnten.
Allein durch die Lektüre des lange vernachlässigten Neulateins, der „Kommunikationssprache der europäischen Intelligenz“ in der Frühen Neuzeit, kann die Gelehrtenkultur dieser Epoche in ihrem ganzen Anspielungsreichtum angemessen verstanden werden. Darüber hinaus gilt es, die disziplinären Grenzen der Germanistik durch die Anwendung eines weit gefassten Literaturbegriffs zu erweitern. Für eine adäquate Kontextualisierung der literarischen Quellen des Gymnasiums ist die Hinzuziehung theologischer, historischer, altertumswissenschaftlicher, rhetorischer und philosophischer Kenntnisse unabdingbar. Diese interdisziplinäre Herangehensweise erfordert es, neben den theologischen Kontroversen ebenso bildungsgeschichtliche Strömungen wie Ramismus und Ratichianismus oder die Rezeption der Antike in den Blick zu nehmen. Um die künstliche Trennung in literarische und nichtliterarische Texte eines Autors zu überwinden, werden lateinische Orationes, Vorreden, Briefe oder Gelegenheitsgedichte gleichberechtigt mit volkssprachlichen Flugschriften zur Anschauung gebracht.
Da die Schulgründung in Magdeburg ohne einen Seitenblick auf die allgemeine Entwicklung nicht verstanden werden kann, geht dem eigentlichen Hauptteil der Untersuchung zum besseren Verständnis eine historische Grundlegung voraus. Zunächst erfolgt eine Rekapitulation der Entstehung und Entwicklung des protestantischen Gelehrtenschulwesens. Dabei wird die erste lutherische Schulordnung – Melanchthons Vnterricht der Visitatoren – ebenso zu thematisieren sein wie einzelne zentrale Gymnasien, z. B. in Nürnberg oder Straßburg. Um eine Basis für die Betrachtung der Magdeburger Auseinandersetzungen zwischen Rektoren und Predigern zu schaffen, verengt sich anschließend der Fokus auf die konkreten Kontroversen zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern, insoweit diese Auswirkungen auf die protestantischen Gymnasien hatten.
Der Hauptteil behandelt in chronologischer Reihenfolge die einzelnen Rektoren. Dabei werden allein die bedeutenderen Rektoren berücksichtigt, von denen eigene Texte für die Zwecke des Gymnasiums überliefert sind. Charakteristisch für den hier verfolgten interdisziplinären Zugriff ist weiterhin, dass der weitere Werdegang von Rektoren wie z. B. Georg Major und Abdias Prätorius beleuchtet wird. Denn diese biographische Erweiterung erlaubt Rückschlüsse auf ihre eigentliche Amtszeit am Magdeburger Gymnasium.
Der zweite Bereich des Hauptteils verfolgt sodann einen anderen methodischen Zugang. Hier ist die Untersuchung nicht auf die Rektoren, Lehrer oder Schüler fokussiert, sondern auf eine einzelne Gattung der gymnasialen Literatur: das Schuldrama. Zum einen deshalb, weil das Schuldrama anderen gattungsmäßigen Gesetzen unterworfen ist, die auch im Einzelnen thematisiert werden, zum anderen weil sich hier eine genuine Entwicklung von der Gr...