III. Facetten der Diaspora – Französische Roma und ihre Narrativik
Zur systematischen Darstellung von gesellschaftlichen und historischen Aspekten der Roma werden im Folgenden drei von Rogers Brubaker als persistent festgehaltene Hauptelemente der Diaspora herangezogen: Zerstreuung (Dispersion), Grenzen (Boundary Maintenance) und Herkunft (Homeland Orientation). Bei aller von ihm kritisierten Begriffsunschärfe stellt der Soziologe heraus, dass diese Merkmale in der Forschung als konstitutiv für die Existenz einer Diaspora gelten und dementsprechend auch für die Entwicklung von Theorien und Diskursen entscheidend sind. Diese drei Aspekte bilden nicht nur einen soziohistorischen Referenzrahmen, vielmehr spielen sie in der narrativen Selbstwahrnehmung und -darstellung der Roma eine entscheidende identitätskonstituierende Rolle. Mit den Oberkategorien können daher einerseits kulturelle Spezifika, die sich als Motive in der Literatur wiederfinden, strukturiert dargestellt werden und andererseits kann diskutiert werden, ob Roma als Diaspora eingeordnet werden können und ob die Repräsentation der Motive als zeichenhaft für einen Diaspora-Diskurses gesehen werden kann.
Den einzelnen Analysekapitel voraus geht jeweils eine Zusammenfassung zum Dasein der Roma, die auf ethnologischen, soziologischen, historischen und linguistischen Erkenntnisse beruhen. Diese dienen dazu die literarischen Texte in einen Kontext zu setzen, wobei die Wechselwirkung von politischer Forderung und verschiedenen Spielarten literarischer Verarbeitung verdeutlicht werden. Die Basis der literarischen Untersuchung bilden die einunddreißig Prosa-Publikationen der in Frankreich in Erscheinung getretenen Roma-Autoren. Da Textpassagen exemplarisch analysiert werden, ist eine Kurzzusammenfassung des Werks jedes einzelnen Schriftstellers zur Orientierung angebracht. Sie werden zu diesem Zweck alphabetisch nach Autoren geordnet.
Joseph Doerr dit Coucou (1902–1986)
In seiner auto-fiktionalen und einzigen Publikation Où vas-tu manouche? (1982) führte der Autor, der als Violinist bekannt war, eine Reihe von Fragmenten zu einem Text zusammen, der durch seine assoziative Struktur nah an der Mündlichkeit bleibt. Die Hauptfigur Coucou dokumentiert darin als Chronist Leben und Wanderschaften seiner Familie.
Lick Dubois
Die Trilogie Scène de la vie manouche mit den drei Publikationen Sur les routes de Provence (1998); Il était une fois les bohémiens (2003) und Enfances tsiganes (2007) erzählt die Geschichte einer wandernden Familie von sinti piémontais, die ab den 1950er Jahren sukzessive zu einem sesshaften Leben übergeht. Mit der Thematisierung des alltäglichen Lebens und der Dialogorientierung des Textes entsteht der Eindruck einer Oral History. In seiner aktuellen Publikation, Romanestan (2010) wendet der Autor sich dem zeitgenössischen Leben eines Sinti-Ehepaars zu.
Vania de Gila-Kochanowski (1920–2007)
Der aus Lettland nach Frankreich emigrierte Autor situiert seinen Roman Romano Atmo (1992), der in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts spielt, im Baltikum. Seine Figuren sind als kritische Geister und als Wanderer zwischen der Roma-Welt und der Mehrheitsgesellschaft konzipiert. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zum politischen Umschwung während der lettischen Revolution. Mit seinen zwei Anthologien, Le roi des serpents (1996) und La prière des loups, (2005) zeigt sich die Ambition des Autors einerseits zur Standardisierung und Verbreitung des Romanès (beide Bände sind zweisprachig Romanès-Französisch) und andererseits zur Konservierung des Erzählguts der Roma.
Miguel Haler (*1951)
Der autobiographische Text Le guitariste nomade (2005) erzählt das Leben des Autors im Spannungsfeld des Daseins als gitan und der Ambition als Gitarrist in der Mehrheit zu reüssieren. Der Roman La route des gitans (2008) hingegen handelt von der dramatischen Geschichte einer interkulturellen Liebesbeziehung zwischen der polnischen Romnì Sara und dem deutschen Offizier Franz in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Ihre geächtete Beziehung endet mit Saras Ermordung in Auschwitz und Franz’ Hinrichtung als Deserteur.
Sandra Jayat (*1939)
Die Autorin zeigt sich in ihrer bildenden Kunst, Lyrik und Prosa als engagierte Vertreterin der kulturellen Eigenständigkeit der Roma und der Integration in die Mehrheitsgesellschaft zugleich. Ihre Protagonisten spiegeln diese Einstellung. Stellina (La longue route d’une Zingarina und Zingarina ou l’herbe sauvage) flieht vor der Zwangsverheiratung nach Paris und schafft sich dort ein unabhängiges Leben, Romanino (El Romanès) flüchtet vor dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Faschismus in ein Leben als Musiker und Libéra del Campo (Les racines du temps) ist die freiheitsliebende Hauptfigur einer Reihe von märchenhaften Erzählungen, die dem Mädchen Maggio erzählt werden.
Roberto Lorier
In seiner Saga tsiganes. Pâni et le peuple sans frontières (2010) stellt der Autor seine Vision der Roma-Emigration aus Indien vor. Die Invasion der muslimischen Eroberer unter Mahmud de Ghaznîs 1000 n. Chr. dient als historische Folie, um eine Vereinigung verschiedener nomadisch lebender Roma-Stämme im Kampf gegen die Aggressoren zu zeigen. Aller Heldenmut bleibt jedoch erfolglos und die überlebenden Roma werden versklavt und verschleppt.
Matéo Maximoff (1917–1999)
Der erste Roma-Autor hinterließ das umfangreichste Werk aller französischer Roma-Autoren. Seine neun Romane spielen zum Teil in Rumänien (Les Ursitory; Le prix de la liberté), Russland (Savina; Vinguerka; Ce monde qui n’est pas le mien), zwischen Ost und West (Condamné à survivre; La poupée de Mameliga) oder sind gänzlich in Frankreich verortet (La septième fille; Dites-le avec des pleurs; Routes sans roulottes). Allen Publikationen gemeinsam ist die Konzeption der Protagonisten als (tragische) Helden, der märchenhafte Ton und die vielen lebensnahen Darstellungen, welche die Nähe zur oralen Erzählkultur aufleben lassen.
Esmeralda Romanez
Die Liebesgeschichte von Sonia und Ringo in Les Saintes-Maries-de-la-mer bildet den Kern des Romans Pour un bouquet de saladelle (1998). Die junge Frau befindet sich auf einer Identitätssuche, als sie den traditionsbewussten gitan Ringo kennenlernt. Sie kann sich in die wandernde Familie integrieren, nachdem ihre Abstammung von einem angesehenen Rom bekannt wird.
Luiz Ruiz
Das junge Mädchen Catalana in La guerre noble (2006) ist Teil einer wandernden gitan-Familie, die ständiger Schikane durch die gendarmes ausgesetzt ist. Unter der Anleitung ihres Großvaters entwickelt Catalana ein Programm zur Völkerverständigung. Die Roma sollen ihren Kindern zu besserer Bildung verhelfen, damit diese sich mit den Mitteln der Mehrheitsgesellschaft gegen die Unterdrückung wehren können. Der dialogische Charakter als Zwiegespräch von Catalana und ihrem Großvater unterstützt den appellativen Effekt des Buchs.
Joseph Stimbach (*1956)
Die beiden Erzählbände Itsego (2001) und Réflexion d’un manouche (2004) beinhalten fiktionale und dokumentarische Geschichten aus dem Leben der Roma und rufen zur Beibehaltung kultureller Unabhängigkeit auf. Der autobiographisch geprägte Text Détenu particulièrement à surveiller (2010) behandelt die Lebensstationen der Hauptfigur – kriminelle Aktivitäten, Verhaftung und Gefängnis und Rückkehr in die Gesellschaft – mit dem Ziel, die soziale Gleichstellung (wandernder) Roma zu fordern.
Sterna Weltz
In ihrem astrologisch geprägten Text Mes secrets tziganes (1989) liefert Sterna Weltz Anregungen für ein Leben im Einklang mit der Natur. Diese Ratschläge werden von einem fiktionalen Teil eingeführt, der die Vermittlung von Weisheiten durch die Großmutter thematisiert.
dp n="119" folio="105" ?
1 Zerstreuung – Migrationen und Verfolgung
Die Zerstreuung einer Ethnie von einem Ursprungsort aus an mindestens zwei oder mehrere periphere Orte, die unter Umständen mit einer traumatischen Erfahrung verbunden ist, wird als eine der grundlegenden Voraussetzungen für das Verständnis einer Gemeinschaft als Diaspora gesehen. Allerdings hat dieses Merkmal in den Diskussionen verschiedener Ethnien und ihrer geographischen Situation in den letzten Jahren einen erheblichen Bedeutungswandel durchgemacht, sodass heute auch Minderheiten als Diaspora begriffen werden, wenn sie mehrheitlich in einer Region konzentriert sind.
In Bezug auf Roma erscheint die Frage der Zerstreuung zunächst weniger problematisch, da sie in der öffentlichen Wahrnehmung als weit verteilt gelten und selbst in Gebieten mit einer vergleichsweise großen Konzentration, wie im heutigen Rumänien und Bulgarien, immer als kleine Gemeinschaften am Rand der Mehrheitsbevölkerungen leben. Zwei Aspekte sind bei der Diskussion der Zerstreuung allerdings als bedeutend und potentiell kritisch einzustufen: erstens die Frage nach dem Ausgangspunkt der Zerstreuung und zweitens die sukzessiven Migrationen, die in fast allen europäischen Ländern zu heterogenen Roma-Minderheiten geführt haben. Beide Aspekte werden in den literarischen Werken vermittelt. So wird dort einerseits die Ambition deutlich, mythische Ursprungsorte zu schaffen und andererseits die Integration in verschiedene Aufnahmegesellschaften zu unterstreichen und damit die Identifikation mit einer Vielzahl von Ländern vor Augen zu führen. Der rekonstruktive Aspekt bleibt entsprechend nicht auf die ursprüngliche, indische Herkunft beschränkt, sondern wird auch auf die historische Präsenz der Roma in Frankreich übertragen. Um diese verschiedenen Darstellungen in einen historischen Kontext zu setzten, werden im Folgenden die Hauptwanderungen der Roma und soweit rekonstruierbar ihre Ursachen skizziert. Ausgangspunkt hierfür ist im ersten Unterkapitel die linguistische Erforschung des Romanès, die den Rückschluss auf Indien überhaupt erst ermöglichte und die mythisierende Transposition dieses über die Mehrheitsgesellschaft in die Roma-Gemeinschaften gelangten Wissens in die Literatur. Im Anschluss daran werden im zweiten Unterkapitel verschiedene Migrationsbewegungen umrissen, die Einblick in die aktuelle Zerstreuung der Roma geben. Einige historisch signifikante Daten und Fakten werden zu diesem Zweck herausgegriffen, wobei das besondere Augenmerk auf der Situation der Roma Frankreichs liegt. Diese werden in Relation zu den fiktionalen Versionen der Autoren zur Ankunft in Europa und Integration in die französische Gesellschaft gesetzt. Das dritte Kapitel setzt sich mit der politischen Organisation und deren Verhandlung in den literarischen Texten auseinander. Neben konfliktuellen Diskussionen um politische Integration und (nationale) Eigenständigkeit wird hier auch die Sicht der Roma auf das transnationale Roma-Netzwerk aufgegriffen. Letzteres steht in enger Verbindung zum Leben auf der Wanderschaft, welches Thema des vierten Kapitels ist. Der daran anschließende Teil beschäftigt sich mit traditionellen Erwerbsmöglichkeiten und dem Rückgriff auf dieselben in der literarischen Darstellung. Eine besonders wichtige Stellung kommt dabei künstlerischen Tätigkeiten zu. Dem homogenen Bild der Mehrheitsgesellschaft stellen die französischen Roma-Autoren die Sicht auf ihre Ethnie als zwar zusammengehörige Gemeinschaft, aber zusammengesetzt aus sehr unterschiedlichen Gruppierungen, entgegen. Diese Unterscheidung wird im sechsten Unterkapitel in den theoretischen Rahmen des Metagruppen-Konzepts von Lev Tcherenkov und Stéphane Laederich gestellt. Das letzte Teilkapitel hat die Verfolgung und Diskriminierung der Roma zum Gegenstand, die ein Hauptfaktor für die Zerstreuung der Roma ist.
1.1 Indien als Ausgangspunkt der Zerstreuung
Der Bezug zu einem Ursprungsort, von dem ausgehend Migrationen er...