III (Be)Deutungen de lege lata: Korpora, Datenbanken und Sprachgebrauchsmuster als Quellen rechtslinguistischer Bedeutungsanalyse
Jan C. Schuhr
Datenbanken gerichtlicher Entscheidungen als Zugang zu juristischer Semantik?
Bemerkungen zur Kommentierung von Gesetzen im gewaltenteiligen, demokratischen Staat
1 Einleitung: Die Suche nach dem maßgeblichen Gebrauch der Rechtssprache
Nach Wittgenstein ist die Bedeutung eines Ausdrucks sein regulärer Gebrauch in der Sprache (Wittgenstein 1953: § 43). Gesetzestexte werden in höchst unterschiedlicher Weise von höchst unterschiedlichen Akteuren gebraucht. So könnte man einen Gebrauch des Gesetzes durch Gerichte, seinen Gebrauch in anwaltlicher Argumentation, seinen Gebrauch durch (zumindest gelegentlich) rechtliche Direktiven suchende Bürger, durch die Einzelfallregelungen treffende Verwaltung etc. unterscheiden und weiter differenzieren. Das würde auf die Unterscheidung verschiedener juristischer Semantiken hinauslaufen und mag linguistisch aufschlussreich sein. Dem juristischen Zweck des Gesetzes liefe das aber zuwider. Das Gesetz hat u. a. auch die Aufgabe, unterschiedliche Gebrauchsweisen von Recht zu einer konsistenten Praxis zusammenzuführen, denn diese Konsistenz ist Voraussetzung eines rationalen und rational einzurichtenden Staates – einer Kernforderung der Aufklärung.
Das Gesetz „soll“ deshalb von unterschiedlichen Akteuren – insbesondere von Gericht und Bürger – zumindest insoweit nicht in unterschiedlicher Weise verstanden werden, wie sie sich in ihrem Verhalten aufeinander und auf das Gesetz beziehen. Damit aber stellen sich Sonderprobleme an der Schnittstelle von Linguistik und Rechtswissenschaft: Semantik ist ein deskriptives Konzept, man mag es pointiert gar als „naturalistisch“ bezeichnen (Searle 1983: 160 [Chapt. 6.1]). An den Umgang mit Gesetzestexten und in diesem Sinne auch an ihre Bedeutung stellt das Recht (bzw. unsere Konzeption des Staates und der Rechtsbetrieb in ihm) aber normative Anforderungen. Diese binden zwar nicht Linguisten, die „extern“ die Rechtssprache bzw. ihren Gebrauch untersuchen, sie binden aber Juristen, die das Gesetz interpretieren und dabei nach der Bedeutung des Gesetzestextes suchen. Zu diesen Anforderungen gehört, dass die Bedeutung des Gesetzes zwar nach Anwendungssituationen differenziert darzulegen ist, dabei aber nicht von unterschiedlichen, einander widersprechenden Bedeutungen desselben Gesetzes ausgegangen werden darf, denn solche können nicht gleichzeitig Geltung beanspruchen. In diesem Sinne müssen Juristen davon ausgehen, dass es nur „eine“ juristische Semantik geben kann.
Damit entsteht das „juristisch-linguistische“ Problem, wie sich diese juristische Semantik konstituiert. Dass dabei deskriptive und normative Vorgaben miteinander zu verbinden sind, ist kein durchgreifendes Hindernis, nicht einmal eine Besonderheit dieser Problemstellung. Das pragmatische Konzept der Semantik sieht den Gebrauch der Sprache als konstitutiv für ihre Bedeutung an. Diese deskriptive Fassung des Konzepts setzt aber eine Antwort auf die normative Frage voraus, welches Verhalten dabei zu betrachten ist, d. h. welche einzelnen Verhaltensweisen welcher Akteure den für die Bestimmung der Bedeutung maßgeblichen Gebrauch der Sprache konstituieren. Dass der Gebrauch von Wörtern in der Sprache zu betrachten ist, gibt hierauf keine Antwort, denn die Bedeutung manifestiert sich nicht unmittelbar in der Aussprache oder dem Niederschreiben des einzelnen Wortes, sondern sowohl in seiner Umgebung im Text als auch in anderen, mehr oder minder auf solche Sprechakte sowie nonverbalen Sprachgebrauch bezogenen Handlungen; es geht um „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“ (Wittgenstein 1953: § 7). Die für die Semantik maßgebliche Praxis der Sprache besteht auch in nicht-sprachlichen Handlungen, wenn nicht gar der „Lebensform“ der Beteiligten (Wittgenstein 1953: §§ 19, 23). Diese Weite des Gegenstandes aber zieht unweigerlich ein Grenzziehungsproblem nach sich, und hier kommen die normativen Vorgaben zum Tragen.
Diese Frage nach dem für die juristische Semantik maßgeblichen Gebrauch der Rechtssprache ist eine Frage der Methodik, mittels derer juristische Semantik – je nach Perspektive – zu ermitteln und zu explizieren oder auch herzustellen ist. Damit ist sie eine praktische Frage und muss – auch weil das Konzept der Semantik selbst pragmatisch ist – auf konkrete juristische Zielsetzung und einigermaßen umgrenzte Gebrauchsszenarien bezogen werden: Es wird im Folgenden um das Kommentieren von Gesetzen gehen, d. h. das Schreiben eines juristischen Buches, in dem die Bedeutung eines Gesetzestextes expliziert werden soll. Für den Kommentator stellt sich dabei die Frage, welchen Gebrauch der im Gesetz verwendeten Sprache er als für dessen Bedeutung maßgeblich anzusehen hat (welche Rolle also welche weiteren Quellen für die Interpretation des Gesetzes spielen). Im Folgenden wird v. a. der Frage nachgegangen werden, welcher Stellenwert dabei dem Gebrauch der Rechtssprache durch die Gerichte (insbesondere gerichtlichen Entscheidungen, die die Norm „anwenden“) beizumessen ist. Er wird in juristischen Datenbanken bereits recht umfänglich erfasst, und diese Datenbanken ermöglichen schon eine gewisse computer-unterstützte Analyse sprachlicher Kontexte.
Diese vorläufige Fassung erklärt die Problemstellung aus ihrem theoretischen Hintergrund. Ihr liegen aber etliche implizite Voraussetzungen zugrunde, u. a. bzgl. des Inhalts und der Funktion von Kommentaren sowie bzgl. des juristischen Quellenmaterials und der technischen Werkzeuge zu seiner Analyse. Um die bestehende Praxis hinterfragen und einen Ausblick auf Gefahren und Chancen künftiger Entwicklungen geben zu können, sind in einem ersten Schritt (unten 2) einige Hintergrundinformationen einschließlich gegenwärtiger methodischer Ungenauigkeiten zusammenzustellen und dann die Fragestellung noch etwas zu präzisieren. Dabei ist auch darzustellen, wie sich der sprachtheoretische Hintergrund und die juristisch-pragmatische Aufgabenstellung im Beispiel der Kommentierungen unter Verwendung juristischer Datenbanken zu einer korpuspragmatischen Fragestellung zusammenfügen. Sodann wird (unten 3) das Modell eines Rechts- und Staatsaufbaus entwickelt, in dem die sprachliche Praxis der Gerichte tatsächlich der für die juristische Semantik maßgebliche Sprachgebrauch wäre. Diesem lassen sich anschaulich die normativen Vorgaben gegenüberstellen, die aus dem Anspruch von Volksouveränität und Gewaltenteilung folgen (unten 4). Solche Vorgaben weisen dem Bürger eine herausgehobene Stellung zu, auch wenn seine Aktivitäten schwer zu erfassen sind (unten 5). Inwieweit gerichtlichen Entscheidungen im Hinblick auf juristische Semantik eine maßgebliche Rolle zukommt, lässt sich erst auf dieser Grundlage erörtern (unten 6) und schließlich die Ausgangsfrage beantworten (unten 7).
2 Kommentar und Datenbank
2.1 Hintergrund: Kommentar und Semantik – Datenbank und Korpus
Juristische Kommentare erläutern Vorschriften und behandeln dabei insbesondere deren Problemfelder. Sie ordnen die Vorschriften und die einzelnen Problemfelder möglichst systematisch ein, stellen Streitstände einschließlich der wesentlichen Argumente dar. Der Autor bezieht dabei selbst Position und weist mehroder minder viele weiterführende Fundstellen nach. Gehalten ist die Darstellung oft im Duktus der Erläuterung einzelner Wörter des Gesetzestextes, ihrer „gemeinten Bedeutung“. Auch wenn Juristen recht selten das Wort „Semantik“ verwenden, erfasst es einen wesentlichen Teil des Selbstverständnisses eines Kommentators, wenn man sagt, er expliziere die Semantik des Gesetzes. Dieselbe Haltung und einen ganz entsprechenden Duktus findet man in zahlreichen weiteren fachlichen Äußerungen von Juristen. Sie ist aber wohl für keine andere Textart so typisch wie für Kommentierungen.
Aufgabe des Autors von Kommentierungen ist es, die jeweils einschlägigen gerichtlichen Entscheidungen und Darlegungen in der juristischen Literatur in seiner Darstellung zu verarbeiten. Wichtiges und noch zunehmend wichtiger werdendes Hilfsmittel zur Recherche sind dabei juristische Datenbanken wie Juris, Beck-Online und Jurion. Ihr Datenbestand setzt sich aus juristischen Texten zusammen, insbesondere gesetzlichen Vorschriften (ebenso Verordnungen, Richtlinien etc.), gerichtlichen Entscheidungen, Aufsätzen in Volltext oder exzerpiert, Kommentierungen und Abhandlungen in Handbüchern. Sie liegen jeweils in Form einzelner Dokumente im Datenbestand, haben sehr unterschiedlichen Umfang, und ihre Aufteilung in Einzeldokumente erfolgt höchst uneinheitlich. – So sind nicht selten einzelne Absätze einer Kommentierung als Einzeldokument abgelegt, manche Einzeldokumente umfassen aber auch Kommentierungen ganzer Gesetzesabschnitte, die in Buchform mehrere hundert Seiten einnehmen. Juristische Datenbanken sind heute im Wesentlichen sog. Text-Retrieval-Systeme; sie dienen fast ausschließlich der Suche nach Einzeldokumenten. Der Nutzer gibt in der Datenbankanfrage Suchkriterien an. Als Suchkriterien können Zeichenfolgen aus dem Volltext der Einzeldokumente angegeben werden, aber auch jeweils zu den Einzeldokumenten abgelegte Meta-Daten, z. B. bei gerichtlichen Entscheidungen der Name des Gerichts, die Bezeichnung des Spruchkörpers innerhalb des Gerichts, Datum, Aktenzeichen, die Liste der angewendeten Vorschriften, die Fundstellen (soweit die Entscheidung publiziert wurde) etc. Die Datenbank beantwortet die Suchanfrage mit einer Liste der diese Kriterien erfüllenden Einzeldokumente. Die dort aufgeführten Dokumente kann der Benutzer sich dann vollständig ausgeben lassen, soweit der von ihm bezahlte Benutzerzugang den Zugriff auf das jeweilige Dokument vorsieht (i. d. R. werden preislich gestaffelte, unterschiedlich umfängliche „Pakete“ angeboten). Wenn das Dokument im Datenbestand nur in einem Exzerpt mit Fundstellennachweis besteht, lässt sich freilich nur dieses und nicht das Original ausgeben.
Juristische Datenbanken arbeiten also mit einem Korpus juristischer Texte. Diese Operation besteht heute primär darin, jeweils anhand von Suchkriterien ein Teilkorpus zu bilden. Die Suchkriterien bestimmen dieses Teilkorpus zwar prinzipiell eindeutig und reproduzierbar, praktisch unterliegt dies aber mehreren gravierenden Einschränkungen: Der Dokumentenbestand wird permanent erweitert (um neue und „rückerfasste“ Dokumente), ebenso werden Dokumente ausgesondert (z. B. wenn die Lizenz des Datenbankbetreibers für Volltexte aus einer bestimmten Zeitschrift ausläuft). Bisweilen werden bisherige Einzeldokumente in größere Einzeldokumente kombiniert oder in kleine aufgespalten, wodurch sie bei unveränderter Suchanfrage aus dem Ergebnis herausfallen können oder sich neuerdings qualifizieren lassen (insb. wenn die Suche verlangt, dass der Volltext bestimmte Wörter enthält, diese aber nicht unmittelbar aufeinanderfolgen müssen). Oft unterliegt der Dokumentenbestand...