1. Fragestellungen
Was die Frühe Neuzeit an bis heute sichtbaren Spuren hinterlassen hat, verdankt sich nicht zuletzt dem hohen Wert, den Zeitgenossen dem Äußeren beimaßen, den Erscheinungsweisen und Oberflächen, dem wertvollen Material und seiner effektvollen Präsentation, überhaupt dem visuell Eindrucksvollen. Für den Umgang mit sichtbarer Pracht, für das rechte Maß in ihrem Gebrauch und für die Beurteilung von Gelegenheit, Ort und Zeit stand ihnen das Konzept der Magnifizenz zur Verfügung. Gegenstand meiner Überlegungen sind Versuche, dieses Begriffs habhaft zu werden und den Nutzen der Großartigkeit zu bestimmen. Im Rahmen des ethischen Grundkurses wird Magnifizenz dem Exerzitium der Definition nach den aristotelischen Regeln der Kunst unterworfen – doch die Kategorie des Großartigen spielt ihre Rolle auch in Abhandlungen zur Politik, in Traktaten zur Fürstenerziehung, in Fest- und Architekturbeschreibungen und in Architekturtraktaten.
Ein Blick auf den historischen Kontext gibt allerdings der Vermutung Nahrung, dass das Magnifizenz-Konzept sich nicht der puren Freude an Glanz und Pracht verdankt; eher waren Krisenerfahrungen sein primäres Bezugsfeld. Es scheint, dass Zusammenhänge zwischen dem Interesse am Großartigen und der Auflösung traditioneller Verhältnisse, frühmodernen Komplexitätserscheinungen und der Suche nach angemessenen Handlungsstrategien bestehen. Als ein Indiz für die Herausforderungen, mit denen sich die Zeitgenossen auseinandersetzen mussten, bewerte ich den Umstand, dass Magnifizenz ein Nachbarschaftsverhältnis zum Luxus pflegt. Zwar – so, wie Magnifizenz ein Leitbild abgibt, steht ‚Luxus‘ als Verfallssymptom da. Dennoch kommen beide Konzepte einander so nahe, dass es nicht möglich zu sein scheint, Tugend und Laster scharf zu trennen.
Als Beispiele wähle ich, zu Lasten der Systematik, vor allem, aber nicht nur die Abhandlungen über die ‚geselligen Tugenden‘, unter ihnen die magnificentia, die Giovanni Pontano (1429-1503) im Neapel des ausgehenden 15. Jahrhunderts verfasste, und den Traktat Admiranda, sive de magnitudine romana von Justus Lipsius (1547-1606), dessen Erstfassung 1598 erschien – wenn man so möchte: zu Beginn des Barockjahrhunderts. Auf Kosten der historischen Differenzierung verzichte ich für die Frühe Neuzeit darauf, Entwicklungsperspektiven zu rekonstruieren.
2. Aristotelische Wurzeln
Zeitgenossen scheinen angenommen zu haben, dass Magnifizenz dazu beitragen könne, Ordnung im Meer divergierender Positionen und Interessen zu schaffen. Eine ideengeschichtliche Wurzel dieser Überzeugung liegt in dem Umstand, dass die Großartigkeit Anspruch auf die Würde einer Tugend erhob. Ein Blick in Aristoteles’ Nikomachische Ethik, auf die sich spätere Autoren immer wieder berufen, ist hilfreich, wenn es gilt, Grundlagen des Begriffs zu erläutern und einen Vergleichspunkt für frühneuzeitliche Verhältnisse zu gewinnen.
Unter dem Stichwort der
magnificentia – der
(megaloprépeia) – umreißt die
Nikomachische Ethik eine moralische Norm, die bis zum Ausgang der Frühen Neuzeit die Mentalität des europäischen Adels mitbestimmte.
Die
magnificentia betrifft die Verwendung von Reichtümern; sie ist dafür zuständig, die Haltung des großzügigen Stiftens, Schenkens, Förderns und Darstellens zu steuern. Der
magnificus soll, wie man in frühneuzeitlichen Quellen liest, „lieber überlegen, wie und was er am schönsten und geziemendsten tun kann, als für wie viel Geld und wie mit dem geringsten Aufwand.“
Auch die
liberalitas hat den „Gebrauch des Vermögens“ zum Gegenstand,
doch betrifft sie die Ethik des Einnehmens und Ausgebens überhaupt. Hingegen entspricht die
magnificentia dem
(prépon) großer und vermögender Personen und wird in der Frühen Neuzeit auch im Detail unter dem Aspekt des Decorum großer Herren beurteilt.
„Denn was in einer Privatperson Liberalitas oder auch Parsimonia ist“, schreibt ein Hofmeister des 17. Jahrhunderts über das fürstliche Decorum, „muß in einem Herrn Largitio und Magnificentia seyn“.
Fürstenerzieher legen ihren Zöglingen nahe, Großartigkeit zu zeigen.
Johannes Caselius, der die
magnificentia als exklusive Fürstentugend rühmt, als „die erste und schlechthin königliche unter den Tugenden“, widmet seine Abhandlung
Magnificentia et magnanimitas von 1587 dem König Friedrich II. von Dänemark und Norwegen.
Magnifizenz im höchsten Maß gehört zu den heroischen Tugenden, die in panegyrischen Zusammenhängen Fürsten zugeschrieben werden.
Gelegentlich stößt man stattdessen auf eine graduelle Differenzierung der liberalitas: „je edler jemand ist, desto mehr ist er bestrebt zu geben.“
Seit der Aufklärung scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass von moralischer Untadeligkeit nur die Rede sein dürfe, insofern eine von eigennützigen Zwecken freie Motivation festgestellt werden könne. Aristoteles’ Ausführungen über die Magnifizenz stehen hingegen im Kontext einer Ethik, derzufolge Tugenden in erster Linie in sozialen Bezügen existieren. In diesem Sinn wurde die Nikomachische Ethik in der Frühen Neuzeit aufgenommen. Hören wir Johann Heinrich Boecler: „Denn diejenigen irren, […] die glauben, Aristoteles hätte den Privatmann und nicht eine Person von öffentlicher Bedeutung belehren wollen.“ Der magnificus erscheint geradezu als Musterfall einer öffentlichen Person – oder umgekehrt die Magnifizenz als sein obligatorisches Decorum. „Wer großartig sein will,“ so Caselius, „muss nicht allein Überfluss an Reichtümern besitzen, sondern entweder von vornehmer Abstammung sein oder berühmt durch Tugend und herausragende Taten, soweit solche vorhanden sind, sodass ihm die vornehmsten Ehren im Staat zukommen.“
Als gesellschaftliche Tatbestände sind Tugenden an ihre sinnfällige Erscheinung gebunden. Bei Aristoteles gilt in besonderem Maß von der magnificentia, dass sie vorhanden ist, wenn wahrnehmbare, vor allem sichtbare Zeichen auf sie verweisen. Bereits die Nikomachische Ethik ordnet Zeugnissen, in denen sich Magnifizenz dokumentiert, ästhetische Werte zu, ohne allerdings solche genauer zu bestimmen. Erst recht ist in frühneuzeitlichen Zusammenhängen der Maßstab für Magnifizenz das Äußere; Großartigkeit stellt sich in Gestalt von Erscheinungen und Oberflächen dar. Magnificentia geht so vollständig in äußeren Bildern auf, dass der Begriff des Großartigen ebenso auf den Urheber wie auf seine Werke zutrifft.
Aristoteles bezieht nicht zu der Frage Stellung, ob eine Stiftung, die für sich genommen die Anforderungen der Magnifizenz erfüllt, von Absichten gesteuert sein könnte, die der Tugendnorm zuwiderlaufen. Mit der Möglichkeit, dass sich hinter der Fassade des Großartigen andere Interessen verbergen möchten, setzt sich der Philosoph nicht auseinander. Die Nikomachische Ethik beschreibt Werte, die im Gemeinwesen anerkannt sind; für den Verfasser erübrigt es sich deshalb, die Relation zwischen Innerem und Äußerem zum Thema zu machen. Für Cicero, dessen De officiis sich auf ein komplexeres Erfahrungsfeld bezieht – auf die Krisenzeit der römischen Republik im ersten Jahrhundert vor Christus – , ist das Zusammenspiel des Sichtbaren mit der Tugend nicht mehr im selben Maß selbstverständlich.
Da in der Nikomachischen Ethik das Verhältnis zwischen der Magnifizenz und ihrem Ausdruck unproblematisch bleibt, braucht Aristoteles die Erscheinungsweisen der Tugend nicht eigens zu erörtern. Die Medien, in denen Magnifizenz an das Licht treten kann, sind nicht Gegenstand seiner Ausführungen. Wenige Beispiele, die sich auf Stichworte beschränken, genügen dem Philosophen, um zu verdeutlichen, dass magnificentia sich in großen Werken äußert – unter ihnen „Weihgeschenke, Zurüstungen, Opfer“, die Veranstaltung einer „glänzende[n] Theateraufführung“ oder die Ausrüstung eines Kriegsschiffs, aber auch Privatausgaben, „an denen die ganze Stadt interessiert ist“. Aristoteles darf offenbar voraussetzen, dass über die Beurteilung ‚großartiger‘ Errungenschaften allgemeines Einvernehmen besteht.