1 Einleitung: Menschliche Kommunikation ist soziale Interaktion
Ob wir den Begriff der Kommunikation eng oder weit fassen, sozial ist sie auf jeden Fall. (Luckmann 1984a: 77)
Dieses Zitat von Thomas Luckmann mag banal erscheinen. Bedenkt man aber, dass die Kommunikationswissenschaft seit ihrer zeitungswissenschaftlichen Gründung 1916 darum ringt, sich in permanent wandelnden Medienumgebungen einen immer wieder angemessenen Kommunikationsbegriff zu geben, ist diese Aussage schon nicht mehr so selbstverständlich. Dann eröffnet sich vielmehr die Frage, ob „das Soziale an der Kommunikation“ auch unter sich wandelnden Medienumgebungen unverändert oder doch mindestens ähnlich bleibt?1 Wandeln sich Kommunikation und Medien miteinander und wenn ja, wie? Erfüllen je neue oder andere Medien vergleichbar bleibende kommunikative Leistungen oder Bedürfnisse, kommen andere hinzu? Wie wird Gesellschaft durch Kommunikation möglich?
Zwar geht die Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft seit Wolfgang Riepl (1913) davon aus, dass kein Medium das andere ersetzt, sondern Medien sich komplementär entwickeln (vgl. Peiser 2008). Das muss allerdings nicht heißen, dass soziale Kommunikation (auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene) sich nicht ändert oder ändern kann. Mit Friedrich Krotz darf man annehmen, dass der Medienwandel kommunikatives Handeln verändert, ebenso wie kommunikatives Handeln auf den Medienwandel zurückwirkt (vgl. Krotz 2012: 45).
Die komplexe Grundfrage nach den gegenseitigen Bedingtheiten und Wechselseitigkeiten von Medien- und Kommunikationswandel wird (auch) in diesem Buch nicht hinreichend beantwortet werden können (weiterführend zu den diesbezüglichen Problemen Kinnebrock/Birkner/Schwarzenegger 2015). Vielmehr geht es im Folgenden um die Frage, wie ‚die‘ Klassiker der Sozialwissenschaften Kommunikation im Medienwandel beschrieben haben und inwiefern dies für das Verständnis des aktuellen Medienwandels relevant sein kann. Mit anderen Worten: Können wir mit den kommunikationssoziologischen Darlegungen und Auseinandersetzungen der Klassiker heute noch arbeiten? Was erklären sie uns und inwiefern sind sie für uns hilfreich? Lässt sich vermittelt über die Klassikerliteratur der Prozess der Mediatisierung, einschließlich des Kommunikationswandels in den letzten 100 Jahren besser verstehen? Lässt sich auch die Ideengeschichte unserer Wissenschaft – gerade im Zusammenhang mit dem Medienwandel – besser nachvollziehen, wenn man die longue durée des Nachdenkens über gesellschaftliche Kommunikation und Medien einbezieht?
Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts machen sich Wissenschaftler sowohl innerhalb der Soziologie aber auch der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft, den Vorläuferwissenschaften der Kommunikationswissenschaft, Gedanken über die Beschaffenheit öffentlicher Kommunikation (dazu ideengeschichtlich Rühl 1999; Hardt 2001; vom Bruch/Roegele 1986; Averbeck 1999; Meyen/Löblich 2006; Weischenberg 2012a, b). ‚Die‘ Kommunikationssoziologie oder -theorie gibt es gleichwohl nicht (vgl. Faßler 1997: 47–51). Fragen nach der Soziologie der Kommunikation zielen insgesamt auf die Grundfrage, was Gesellschaften zusammenhält und als dieser ‚Kitt‘ wird „Kommunikation“ ausgemacht (vgl. Aranguren 1967; Pross 1976; Saxer 2012). Der kommunikative Konstruktivismus in der Nachfolge von Thomas Luckmann (2006), so in der Lesart von Hubert Knoblauch (2013), geht noch etwas weiter und betont, dass sich soziale Prozesse nur über den Nachvollzug ihrer kommunikativen Verfasstheit verstehen lassen (vgl. Kap. 6 dieses Buches).
Blickt man in die Theoriegeschichte der Kommunikationswissenschaft, die nicht nur durch Überschneidungen zur Soziologie, sondern auch zu anderen Disziplinen gekennzeichnet ist, fallen international zwei Richtungen besonders ins Auge: jene Forschungsrichtung, die eher öffentliche (massen-)medial vermittelte Kommunikation, vor allem politische Kommunikation in den Mittelpunkt stellt, was insbesondere für die Tradition der deutschen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft lange prägend war und ist (vgl. Löblich 2010). Weiterhin diejenige Richtung, die – weit genereller – soziale, also Humankommunikation im weiten Sinne, insbesondere Sprache und Symbolizität, in den Mittelpunkt stellt, wie es u. a. die französische Tradition in enger Anlehnung an die Linguistik und die Semiotik, auch die Anthropologie und die Kulturwissenschaften tut (vgl. Averbeck-Lietz 2010). In den Werken auch der deutschsprachigen Klassiker (andere werden in diesem Buch nicht betrachtet)2 finden sich nachweisbar noch beide Richtungen. Deren Werke sind daher in gewisser Weise ‚offener‘ als es die oft engen disziplinären Fachgrenzen uns heute nahelegen (vgl. etwa zu kulturwissenschaftlichen Einflüssen in der frühen deutschen Zeitungswissenschaft, die später ‚verloren‘gingen, Gentzel/Koenen 2012).
Die Problematisierung eines Zusammenhangs zwischen Medien- und Gesellschaftswandel (weiterführend Kinnebrock/Schwarzenegger/Birkner 2015) findet sich bereits in den Gesellschaftstheorien von Max Weber und Ferdinand Tönnies, etwas später ganz dezidiert in der Kommunikationssoziologie von Ernst Manheim zu Beginn der 1930er-Jahre. Zwar hatten sie alle es noch nicht mit dem Ko-Prozess der Mediatisierung, dem „Metaprozess“ Globalisierung (vgl. Krotz 2005b) zu tun – versteht man darunter eine verschärfte Globalisierung seit der Deregulierung der Weltmärkte in den 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Globalisierung im Sinne transnationaler Verschränkung und kulturellen Austausches gab es allerdings immer, das beschrieb nicht zuletzt Max Weber (vgl. Kap. 2 dieses Buches). Auch reflektierten bereits die Klassiker die noch heute (global) fortlaufenden Metaprozesse wie Urbanisierung, Alphabetisierung, Technisierung, Individualisierung und Ökonomisierung (vgl. auch Hardt/Splichal 2000; Hardt 2001). Die beiden zuletzt genannten Prozesse werden von Friedrich Krotz als die aktuelle Mediatisierung begleitende und mit ihr verschränkte, langfristige Prozesse begriffen. Krotz verweist überdies darauf, dass zu den „historischen Mediatisierungsprozessen“ als eine der längsten Entwicklungen, die bis heute nicht beendet sei, die „Entwicklung der Printkultur“ gehöre (Krotz 2015: 133).
Den Begriff „Mediatisierung“ verwendete wohl als erster Wissenschaftler im deutschen Sprachraum um die Jahre 1932/33 der junge Soziologe Ernst Manheim (vgl. Manheim 1979 [1933]: 24). Er beschrieb Mediatisierung als einen doppelten Prozess:
1.den des Gesellschaftswandels durch und mit Presse (die Gesellschaft der Bürger bemächtigt sich der Medien Zeitschrift und Zeitung, ökonomisiert sie und transformiert damit langfristig die bestehenden Gesellschaften kulturell und politisch).
2.den Wandel der politischen Öffentlichkeit, insofern ihre grundlegende Legitimation fortan primär Kommunikation war, bzw. durch Kommunikation erzeugte und legitimierte Macht – und nicht mehr feudal strukturierte (vgl. ausführlich Kap. 4 dieses Buches).
Eine zentrale Kategorie des vorliegenden Buches ist „Öffentlichkeit“ – und zwar sowohl als historische wie als systematische Kategorie. Dies hat den Hintergrund, dass Öffentlichkeit die zentrale Denkfigur der Klassiker war (vgl. Pöttker 2001a-c; Imhof 2011: 45). Dieses Buch will zeigen, dass es sich dabei schon bei jenen nicht um eine statische Kategorie handelte, sondern vielfältige Aspekte gesellschaftlicher Kommunikation und ihres Wandels bereits im frühen 20. Jahrhundert in diese Kategorie miteinbezogen wurden.
Das vorliegende Buch begreift sich zugleich als systematischen Beitrag zu einer Theorie der sozialen, im Sinne der gesellschaftlichen Kommunikation und als Beitrag zu ihrer Theoriegeschichte. Es versteht sich daher nicht als Ersatz zur Einführungsund Lehrbuchliteratur der Kommunikationswissenschaft (vgl. etwa Badura/Gloy 1972; Faßler 1997; Jäckel 1999; Jarren/Bonfadelli 2001; Krallmann/Ziemann 2001; Kunczik/Zipfel 2001; Burkart 2002; Pürer 2003; McQuail 2005; Schenk 2007; Beck 2007; Stöber 2008; Rau 2013), sondern als Ergänzung und Vertiefung dazu.
In diesem Buch wird keine Kommunikations- und oder Mediengeschichte, respektive Pressegeschichte im engeren Sinne geschrieben (stattdessen u.a. Wilke 2000a; Bösch 2011; Dussel 2011; Stöber 2013). Die Kommunikationsgeschichte ist gleichwohl ein zentraler Bezugspunkt zum Verständnis der Gewordenheit (aktueller) Medien- und Kommunikationsgesellschaften (insbesondere in Kap. 4 und 5 zu Manheim und Habermas sowie in Kap. 7 zur Mediatisierungsforschung).
Die Darstellung erfolgt im Verlauf des Buches autorenorientiert,3 beginnend mit Max Weber, dann Ferdinand Tönnies, auf ihn folgend dessen Schüler Ernst Manheim, hin zu Jürgen Habermas und schließlich Thomas Luckmann. Sie sind die ausgewählten Referenzautoren dieses Buches, da:
1.sie ein zentrales gemeinsames Thema haben: die Öffentlichkeit moderner Großgesellschaften und die Rolle, die (Massen-)Medien oder gesellschaftliche (auch interpersonale Kommunikation) darin spielen.
2.die von ihnen entwickelten Basistheorien vornehmlich handlungs- und wissenssoziologischer Provenienz sind und teilweise aufeinander aufbauen (auf solche Bezüge zwischen den Theorien und Theoretikern wird in den jeweiligen Kapiteln eingegangen).
Von da aus lässt sich epistemologisch der Schulterschluss zur handlungstheoretisch begründeten Mediatisierungsforschung suchen, die nach kommunikativer Aneignung im Alltag der Menschen und deren Interdependenz zu sozialem und medialem Wandel fragt (vgl. übergreifend Lundby 2014 sowie Kap. 7 dieses Buches).
Wir können aber auch bis zu Habermas zurückgehen, der ebenfalls einen handlungstheoretischen Forschungsansatz reklamiert:
Aus Phänomenologie, Hermeneutik und symbolischem Interaktionismus hat sich schließlich ein handlungstheoretischer Forschungsansatz entwickelt. Die verschiedenen Richtungen einer verstehenden Soziologie kommen, soweit sie überhaupt generalisierend sind, in ihrem Interesse an einer Aufklärung der Strukturen von Weltbildern und Lebensformen überein. Das Kernstück bildet eine Theorie des Alltagslebens […]. (Habermas 1988 [1981]: 552)
Hochrelevant ist der Bezug auf Mead bzw. den auf der Basis seines Werkes von Herbert Blumler formulierten „Symbolischen Interaktionismus“. Dies gilt für Habermas’ (1988 [1981]) „Theorie des kommunikativen Handelns“, es gilt für Berger und Luckmanns „Social Construction of Reality“ (vgl. Berger/Luckmann 2004 [1966]), für Alfred Schütz’ „Problem der Relevanz“ (1971), für Hubert Knoblauchs kommunikativen Konstruktivismus (2005b: 174, 2013: 298), der seinerseits auf Schütz und Luckmann aufbaut, und auch für Friedrich Krotz’ (2007, 2012) Ansatz der Mediatisierungsfor schung. Patrick O’Mahony fasst die herausragende Bedeutung des Symbolischen Interaktionismus für den Sozialkonstruktivismus wie folgt zusammen:
[…] meaning is conceived as a fundamentally social accomplishment. One can only judge what is meaningful and communicatively significant by learning the cultural codes and the linguistic and interactive rules of a real communication community. Such a communication community in this sense temporally precedes individual actions, whose horizons can only be formed in the light of its existence. (O’Mahony 2013: 169)
Das vorliegende Buch argumentiert entsprechend, ausgehend von einem anthropologischen Kommuni...