1 Zur Methode
IDas archaische Kreta im Kontext unserer griechischen Geschichte
Das vorliegende Buch ist eine Studie zur Institutionalisierung im frühen Griechenland. Dieses Thema wird mit Blick auf das archaische Kreta behandelt, der wohl besten Fallstudie für eine solche Analyse. Denn anhand des reichen kretischen Materials – der Befunde literarischer wie archäologischer Zeugnisse, vor allem aber der Vielzahl von Inschriften aus dem 7. bis 5. Jh. – ist es, wie für keine andere Gegend des griechischen Raumes, möglich, Licht auf einige der zentralen Fragen dieser Epoche zu werfen: so etwa, welche soziopolitischen Integrationskreise in den frühen Polisgemeinschaften sinnhaft waren, und unter welchen Umständen die Teilhabe der Bürger am Gemeinwesen vorangetrieben wurde; wie politische Prominenzrollen und Beschlussverfahren reguliert und verstetigt wurden; und schließlich, welche Strategien erprobt wurden, mit sozialen Konflikten in der Gemeinschaft umzugehen.1
Wie kann man über das archaische Kreta schreiben?
Vor beinahe zwanzig Jahren hielt Hans-Joachim Gehrke fest, dass Kreta im Wesentlichen in Hinblick auf seine minoisch-mykenische Zeit untersucht werde und die Beschäftigung mit der archaischen und klassischen Zeit der Insel eher am Rand des althistorischen Interesses liege.2 Diese Aussage gilt heute immer noch – für die Geschichtswissenschaft in einem noch stärkeren Maße als für die Archäologie. Der Kreis der Forscher, die mit diesen Jahrhunderten der kretischen Geschichte befasst sind, ist klein. Und so sind es auf der einen Seite nach wie vor nur wenige Spezialisten, die sich in Einzelstudien mit jeweils nur ausgesuchten Quellengattungen der kretischen Kultur beschäftigen, etwa den sozialen Praktiken oder den Gesetzesinschriften, den Weihgaben aus den pankretischen Heiligtümern oder den Befunden der Siedlungsarchäologie. Auf der anderen Seite erfüllen manche der kretischen Befunde, ausgesuchte Inschriften etwa, wie das Gesetz über den Kosmos von Dreros, in größer angelegten Darstellungen zur griechischen Archaik häufig eine lediglich illustrative und komparative Funktion. Ihr besonderer kultureller Kontext spielt dabei nur selten eine Rolle.
Diese Studie widmet sich der soziopolitischen Organisation des archaischen Kreta aus einem historischen Blickwinkel. Sie möchte einen Überblick über den gegenwärtigen Stand und wesentliche Perspektiven der Erforschung der Politien dieser Insel bieten; vor allem aber jene bedeutenden Prozesse struktureller Veränderung beschreiben und erklären, die sich während dieser Zeit in den Bürgerstaaten Kretas vollzogen. Auf diese Weise soll ein faszinierender Weg der griechischen Geschichte nachgezeichnet und präsentiert werden, der bislang – und zwar trotz einer Fülle einzigartigen Materials – nicht ausreichend erforscht ist und der dem nicht darauf spezialisierten Althistoriker oder Archäologen kaum bekannt ist.
Denn tatsächlich bietet der Befund des archaischen Kreta reiches Material zur Illustration und Beantwortung von Fragen, die im Mittelpunkt der altertumswissenschaftlichen Forschung zum frühen Griechenland stehen; so etwa die Diskussionen zur Polisbildung, zur Auseinandersetzung von Aristoi und Demos und zur politischen Kultur verschiedener Politien und deren gegenseitiger Beeinflussung. Die Gesellschaften der Insel haben das Potenzial, eine der besten – wenn nicht gar die beste – der uns zur Verfügung stehenden Fallstudien zum frühen Griechenland zu sein. Denn die Beschäftigung mit den kretischen Politien gleicht einem Blick in die Experimentierstube der griechischen Polis. Hier erhalten wir auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen einen Eindruck von der Entstehung und Entwicklung von Institutionen; von der Fülle soziopolitischer Integrationskreise, die innerhalb, aber auch neben der Polis für das Individuum sinnhaft waren; von der Auseinandersetzung der Eliten untereinander und der Konflikte ihrer Mitglieder mit den ihnen sozial und wirtschaftlich unterlegenen Mitgliedern der Gemeinschaft; von den Verfahren des Beschlusses für die Gemeinschaft relevanter Entscheidungen. Kurzum: Auf Kreta bietet sich uns – und ich möchte behaupten: detailreicher und klarer als in jedem anderen Raum des griechischen Kulturkreises – das Bild der Möglichkeiten und Spannungen des Lebens in wachsenden Gemeinschaften, das Bild der frühen Polis.
Dass Kreta in den gängigen Narrativen der griechischen Archaik und Klassik – den antiken wie den modernen – kaum eine Rolle spielt, hat mehrere Gründe. Keiner von diesen scheint für sich ausreichend, doch ihr Zusammenspiel scheint mir das bemerkenswerte Schweigen der Geschichtswissenschaft zu erklären. Ein Grund liegt in dem besonderen Befund der materiellen Kultur kretischer Politien während der Archaik. Denn obwohl Kreta zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert dem griechischen Kulturraum zahlreiche Impulse gab, beobachten wir ab der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts an den meisten Fundorten der Insel einen deutlichen Wandel der materiellen Kultur; eine derart tiefreichende Austerisierung, dass weder auf der Insel selbst noch an anderen Orten des Mittelmeerraumes signifikante archäologische Überreste des archaischen und klassischen Kreta sichtbar zu werden scheinen. Erst in jüngster Zeit beginnt die Archäologie archaische Befunde zu identifizieren und in eine verlässliche absolute Chronologie einzuordnen.3
Ein weiterer Grund für die bisherige Vernachlässigung Kretas in der Geschichtswissenschaft scheint mir darin zu liegen, dass die Rekonstruktion einer Ereignisgeschichte der Insel kaum möglich ist. Denn mit ihrer geringen archäologischen Sichtbarkeit korrespondiert die Abwesenheit der Kreter aus den für uns maßgeblichen historiographischen Narrativen der Zeit. So nahmen die zahlreichen kretischen Poleis offenbar weder an den Perserkriegen noch am Peloponnesischen Krieg teil, und fanden daher annähernd keinen Eingang in die Geschichtswerke eines Herodot und Thukydides. Den Blick auf innerkretische Verhältnisse lassen diese Autoren ohnehin vermissen.4 Doch auch andere Quellen lassen uns keine Ereignisgeschichte der Insel rekonstruieren. So schildern uns die mit Kreta befassten literarischen Zeugnisse kaum einmal Ereignisse auf der Insel oder das Engagement einzelner Poleis über die Insel hinaus; sie sind vor allem mit den Institutionen der Politien befasst. Und auch die zahlreichen archaischen Inschriften reflektieren bis auf ganz wenige Ausnahmen keine politischen Ereignisse. Wenn sie es einmal tun, können wir diese Informationen doch nicht in ein größeres Narrativ einbetten.
Mit diesen Inschriften scheint mir der dritte Grund für die bisherige Vernachlässigung des archaischen Kreta verbunden. Die Poleis der Insel bieten schlichtweg zu viel Material, als dass solche Studien, welche die Anfänge und Ausprägung soziopolitischer Integration in mehr als nur einer Gegend Griechenlands vergleichend untersuchten, auch noch die Politien der Insel in den Blick genommen hätten.5 Ohnehin bilden die zahlreichen Inschriften mit Gesetzescharakter, die uns nicht allein aus kretischen Poleis, sondern aus einer Vielzahl von Gegenden des griechischen Kulturraums überliefert sind, ein Quellencorpus, welches in unseren Bemühungen, das archaische Griechenland zu beschreiben und erklären, eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. Oftmals scheinen die in erheblich späterer Zeit verfassten literarischen Zeugnisse von größerer Relevanz als die zeitgenössischen Inschriften. Wieso dies der Fall ist, lässt sich kaum erklären.6
Das ,archaische‘ Kreta und der zeitliche Rahmen dieser Arbeit
Dieses Buch ist um eine Rekonstruktion der Institutionalisierung kretischer Politien zwischen der Mitte des 7. und der des 4. vorchristlichen Jahrhunderts bemüht. Dabei greifen einzelne Kapitel, etwa jenes zur Institution des Andreions, tiefer in die Vergangenheit der geometrischen und orientalisierenden – auf Kreta: der ,dädalischen‘ – Zeit zurück; häufig wird mit in den homerischen und hesiodeischen Epen reflektierten Strukturen argumentiert. Der wesentliche Anfangspunkt dieser Darstellung wird aber determiniert von einem gleichzeitig einsetzenden Wandel zweier kultureller Phänomene, deren zeitliche Parallelität sicherlich kein Zufall ist, sondern einen tiefgreifenden Wandel in der soziopolitischen Organisation kretischer Gemeinwesen reflektiert. Dies ist zum einen die skizzierte Veränderung in der materiellen Kultur der Inselpolitien, zum anderen der Beginn der Verinschriftlichung und Monumentalisierung zahlreicher Regelungen mit Gesetzescharakter, welche für die gesamte Gemeinschaft bindend sein sollten. Die frühesten Beispiele dieser Regelungen sind die aus Dreros stammenden Inschriften, die um 630 datiert werden; eines ihrer spätesten Beispiele ist das Große Gesetz von Gortyn, welches um 450 ältere Gesetze kompilierte, systematisierte und um neue Richtlinien ergänzte.
Doch auch wenn die kulturelle Praxis der Verinschriftlichung monumentaler und im öffentlichen Raum ausgestellter Regelungen mit Gesetzescharakter in der Mitte des 5. Jahrhunderts anscheinend recht unvermittelt abbricht, bedeutet dies doch nicht den Endpunkt unserer Darstellung. Denn immer wieder werden wir – mit der hierfür gebotenen methodischen Umsicht – literarische Zeugnisse heranziehen, die vornehmlich aus dem 4. Jahrhundert, manche aus dem 3. oder gar erst aus dem 2. stammen. Deren Autoren – Ephoros etwa, verschiedene kretische Lokalhistoriker und Aristoteles – verfolgten nicht die Absicht, in der Vergangenheit liegende Ereignisse oder Strukturen der kretischen Geschichte wiederzugeben; vielmehr schilderten sie Verhältnisse, die ihnen in ihrer eigenen Zeit vor Augen standen.
Angesichts dieses zeitlichen Rahmens mag der Titel dieser Studie Das archaische Kreta verwundern. Hinter dieser Wahl steht allerdings der Gedanke, dass sich die auf Kreta zu beobachtenden Strukturen und die – allerdings nur im Ansatz zu rekonstruierende – Ereignisgeschichte der Insel nicht ohne Weiteres in das etablierte Schema der Epochen unserer griechischen Geschichte einfügen lassen. Die Trennung zwischen der ,archaischen‘ und der ,klassischen‘ Zeit ist für die Insel wenig aussagekräftig. Wie bereits betont, beteiligten sich die kretischen Poleis nicht an den Perserkriegen, also jenen Feldzügen, welche in der konventionellen Wahrnehmung den Beginn der klassischen Zeit markieren. Die Entwicklung kretischer Gemeinwesen wurde auch nicht durch ihre Einbindung in eines der Bündnissysteme gelenkt. Weder für den Delisch-Attischen Seebund, noch für den Peloponnesischen Bund sind kretische Mitglieder nachgewiesen.
Kreta entwickelte sich anders als jene Politien, welche im Focus unserer Meistererzählung der griechischen Geschichte stehen und deren Ereignisse, Strukturen und kulturelle Entwicklung unsere epochale Einteilung bestimmen. Die Entwicklungen des 5. Jh. sehen wir in keiner der hier behandelten Quellen reflektiert.7 Und tatsächlich zeigt die Zusammenschau unseres Materials, dass die genannten literarischen Zeugnisse soziopolitische Konfigurationen schildern, welche mit denen, die anhand der uns erhaltenen Inschriften zu rekonstruieren sind, kompatibel sind. Zwischen dem 5. und dem 4., wenn nicht gar dem 2. Jahrhundert, scheinen sich – zumindest was die hier im Mittelpunkt stehenden Institutionen kretischer Gemeinwesen angeht – keine epochemachenden Änderungen vollzogen zu haben. Und so behandelt diese Studie gewissermaßen ,die lange archaische Zeit‘ Kretas.8
Es ließe sich argumentieren, unsere Studie hätte eigentlich doch auch die hellenistischen Jahrhunderte in den Blick nehmen müssen. Denn erst diese Zeit mit ihrem reichen Quellenbefund der zwischen kretischen Poleis geschlossenen Verträge ließe doch jene Institutionen, die für die Zeit vom 7. bis 5. Jahrhundert nur so mühsam zu rekonstruieren seien, deutlich hervortreten.9 Und erst dieses Material ließe uns doch einigermaßen gut eine Ereignisgeschichte der Insel rekonstruieren, die sich unter dem Eindruck und getrieben von eben jenen Strukturen vollzog. Erst für diese Zeit werde deutlich, wie tief Institutionen wie die Paideia und die Andreia, die hierarchische Steuerung des Demos durch seine Eliten und das Ethos des Wettbewerbs sich in den Gemeinwesen der Insel ausgewirkt hätten. Doch auch wenn sich die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen in kretischen Poleis zwischen dem 5. Jahrhundert und der Einrichtung der Insel als römische Provinz nur wenig veränderten, klammert diese Studie das hellenistische Kreta aus einer Reihe von Gründen aus. Zwar sind jene soziopolitischen Dynamiken, welche diese Verträge reflektieren – etwa die Auseinandersetzungen zwischen den Inselpoleis und deren Bemühen um territoriale Expansion – zwar in Strukturen angelegt, die wir auch schon in den Quellen früherer Jahrhunderte beobachten können; und doch wurden diese Vorgänge durch die nach dem Tode Alexanders veränderte Machtkonstellation im Mittelmeerraum in anderer Weise katalysiert als in der archaischen Zeit.
Denn nach einigen Jahrhunderten seiner Lage am Rand der griechischen Welt sah sich Kreta während der Diadochenzeit in einer aus Sicht der hellenistischen Königreiche strategisch günstigen Position und wurde zu einem Stellvertreterstreitfeld für diese sowie für Rhodos und Rom. Dieses Eingreifen auswärtiger Mächte veränderte die Verhältnisse innerhalb der Poleis wie auch zwischen ihnen ganz beträchtlich. So beobachten wir in hellenistischer Zeit etwa eine Tendenz zur Formierung von Bündnissen zwischen den Politien und zur Bildung größerer politischer Einheiten wie auch eine Machtkonzentration der zu jener Zeit größten Poleis Kretas, Gortyn und Knossos, und deren Auseinandersetzung um die Hegemonie auf der Insel. Eine Untersuchung dieser Zeit kann und braucht im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Für die hellenistischen Jahrhunderte und ihre Besonderheiten sei der Leser auf die Studie von Angelos Chaniotis zu den Kretischen Staatsverträgen verwiesen. Er legt diese Zeugnisse in Übersetzung vor und erschließt sie mit ausführlicher Kommentierung und Synthese. Einerseits erleichterte seine Arbeit sicherlich die Ausweitung der hier untersuchten Fragen auf diese späteren Jahrhunderte; anderseits führte dies aber auch zu einer solchen relativen Fülle von Material, dass die dieser Arbeit eigene genaue Betrachtung einzelner Zeugnisse nicht mehr im gebotenen Umfang hätte durchgeführt werden können.10
Überdies geht es dieser Arbeit eher um die Entstehung und die frühen Phasen der Entwicklung dieser Institutionen. Mögen wir auch gelegentlich zur Illustration oder zur Formulierung und Plausibilisierung einer Arbeitshypothese auf das hellenistische Inschriftenmaterial zurückgreifen, wird dieses im großen Ganzen doch keine Rolle spielen. Denn diese späteren Zeugnisse lassen einen Grad der institutionellen Komplexität erkennen, welchen die gesetzlichen Regelungen vom 7. bis zum 5. Jahrhundert noch nicht widerspiegeln. Diese ist – wie gesagt – nicht derart, dass wir davon ausgehen müssten, dass sich in den etwas mehr als 150 Jahren zwischen dem Großen Gesetz und den frühesten Verträgen eine erhebliche Veränderung oder Beschleunigung der soziopolitischen Institutionen erkennen ließe und wir uns zu Beginn des 3. Jahrhunderts in einer gänzlich anderen Welt als in jener der archaischen Gesetze von Dreros und Eleutherna, Lyttos und Axos, Phaistos und Gortyn wiederfänden – mitnichten. Und doch scheint das tastende Fortschreiten der Institutionalisierung, das prekäre Mit- und Gegeneinander von persönlicher und institutioneller Macht im Gemeinwesen, welche den Inschriften der archaischen Zeit eigen sind, in den hellenistischen Urkunden eine geringere Rolle zu spielen.
Uwe Walter weist darauf hin: „Einen Epochenbegriff zu setzen bedeutet immer, eine Gruppe von Phänomenen, die in diesem konstruktiven Akt zu Merkmalen werden, zu privilegieren, andere, dissonante Phänomene hingegen zu kontingenten Begleiterscheinungen abzuwerten.“11 Allein eine solche Privilegierung machte die hier vorliegende Stud...