FAusblick auf die literarischen Horizonte von Ri 1.17–21 am Übergang von Jos zu Ri
Während der Anschluss von Ri 1.17–21 an die Sam-Kön-Komposition reibungslos funktioniert, verbinden sich im Bereich des „kompositionellen Knotens“855 zwischen Josua- und Richterbuch sachliche und literarische Probleme zu einer unübersichtlichen Gemengelage. Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen zur Kompositionsgeschichte des Richterbuches ließe sich das Sinnbild des redaktionellen Knotens modifizieren: Der Knoten beschränkt sich nicht auf das Ende des Josuabuches und den Beginn des Richterbuches; vielmehr erscheint das gesamte Richterbuch als Produkt einer doppelten redaktionellen Verknotung: In einem ersten Schritt wären Hexateuch und Königtumsgeschichte durch je eine Brückenkomposition, Ri 2,6–16,31* resp. Ri 1.17–21*, zu einem enneateuchischen Zusammenhang verknüpft worden; in einem zweiten Schritt wären die beiden Ausgaben des Enneateuch zusammengearbeitet worden, wobei auch das Richterbuch seine abschließende, in vielerlei Hinsicht komplexe Form erhalten hätte. In anschließenden Untersuchungen könnte geprüft werden, ob sich weitere Schwierigkeiten am Übergang von Jos zu Ri auf die Kompilation der beiden Ausgaben zurückführen ließen. Für Ri 1.17–21 wären folglich insbesondere die Texte zwischen dem mutmaßlichen Ende des Hexateuch in Jos 11,15.23a* und Ri 1 in den Blick zu nehmen. Indem der folgende Ausblick mit Jos 13ff.* und Jos 24,28ff. zwei redaktionsgeschichtlich problematische Passagen umreißt,856 vermag er vielleicht eine erste Groborientierung zu bieten.
1Jos 13 ff.*
Neben der priesterlichen Färbung, die sowohl Jos 13ff.*857 als auch große Teile von Ri 1.17–21 aufweisen, sprechen vor allem einige literarische Bezugnahmen in Ri 1.17–21, die Jos 13 ff.* (vgl. die Bezüge in Ri 1)858 oder schon deren bearbeitete Version (vgl. den Bezug von Ri 18 auf Jos 19,40 –48 [inklusive V.47])859 voraussetzen, für eine große Nähe zwischen den beiden Komplexen. Betrachtete man Jos 13 ff.* als Fortschreibung im Horizont von Ri 1.17–21*,860 löste sich zudem ein weiteres kompositionsgeschichtliches Problem: Jos 13 ff. müssten nicht in Kenntnis von Ri 2,6 ff. verfasst worden sein; die Unterbrechung des Zusammenhangs von Jos 11,23* und Ri 2,6ff.861 durch den ausführlichen Bericht der Landverteilung nach dem Los in Jos 13 ff.* wäre folglich nicht durch Fortschreibungsprozesse, sondern im Zuge der Kompilation der beiden Enneateuch-Ausgaben entstanden.
Der Umfang des ursprünglichen Berichts über die Landverteilung nach dem Los kann nur auf der Basis einer eingehenden literarischen Analyse bestimmt werden. Ausdrücklich sei daher auf den tentativen Charakter der folgenden Abgrenzungen verwiesen. Der Beginn des ursprünglichen Berichts könnte in Jos 14,1 zu finden sein.
Bereits NOTH entdeckte in 14,1 die „alte (…) Überschrift des Ganzen“, d.h. des dtr. bearbeiteten Komplexes Jos 13–22.862 Die Überschrift des „stämmegeographischen Abschnitts“863 finde ihr Pendant in der Abschlussnotiz 19,49a. Das so gebildete Rahmenwerk habe schon einen Großteil des dazwischen stehenden „mixtum compositum“864 umfasst und grenze eine selbständige vordeuteronomistische literarische Einheit ab, die dann nacheinander dtr. und priesterlich bearbeitet worden sei. Die literarische Zäsur in Jos 19,49 verdankt sich wohl in erster Linie dem Interesse, Josua als Subjekt der Landverteilung sowie sämtliche priesterlichen Einflüsse aus dem Geschehen zu eliminieren. Fragt man nicht nach einem alten, literarisch selbständigen Zusammenhang,865 sondern geht davon aus, dass Jos 14,1 ff.* von vornherein für den Kontext nach Jos 11,23a* geschaffen wurden, kann Jos 19,51 als das natürliche Ende der Grundschicht betrachtet werden.866 Die Frage nach dem Verhältnis von dtr. und priesterlichen Elementen in diesem Komplex bleibt davon unberührt. Sollte es sich, wie NOTH annimmt, bei den offensichtlich priesterlichen Teilen tatsächlich bloß um punktuelle Bearbeitungen handeln, spräche auch dies nicht gegen die im Folgenden vorgebrachten Erwägungen. Sehr wahrscheinlich ist diese Annahme indes nicht.
Als idealer Endpunkt dieser Darstellung der Landnahme kommt Jos 19,51 in Betracht.867 Der Vers konstatiert die Vollendungder Landverteilung. Das Werk Josuas (und Eleasars) ist damit beendet; die Entlassungs- sowie die Sterbenotiz des älteren Hexateuch868 (Jos 24,28f.) schlössen sinnvoll daran an.
Mit Jos 14,1–19,51*869 würde zwischen Jos 11,23a* und Jos 24,28 ein ausführlicher Bericht über die Verteilung des Landes eingefügt. Die Darstellung von Ri 1 böte im Anschluss daran eine lectio varians der Landeroberung und -verteilung im Josuabuch: Das Land wurde von den Stämmen allenfalls lückenhaft in Besitz genommen.
Als terminus ante quem für die redaktionsgeschichtliche Verortung von Jos 14,1–19,51* im Verhältnis zu Ri 1.17–21* hätte die Eintragung der danitischen Landnahme (Ri 17,7–18,31*) zu gelten.870 Da sie mit Jos 19,47 sogar bereits einen Nachtrag zur Auslosung des danitischen Gebietes in Jos 19,40 –46.48 kennt,871 dürfte mit einigem zeitlichen Abstand zu rechnen sein. Insgesamt legt sich so ein früher redaktionsgeschichtlicher Ort nahe. Bereits zwischen Ri 19 und Jos 14,1–19,51* besteht ein unübersehbarer Bezug durch die Erwähnung der Jebusiter in Jos 15,63. Allerdings sprechen die fehlende priesterliche Prägung und die fehlende Stämmethematik in Ri 19 eher gegen eine Kenntnis von Jos 14,1–19,51*.872 Weitaus engere Verbindungen weist der Komplex mit Ri 20 auf. Zu nennen sind hier vor allem das priesterliche Vokabular sowie die Organisation Israels als Stämmeverband. Auch die sperrige Formulierung „über es nach dem Los“ in Ri 20,9873 steht in direktem Bezug zu Jos 14,1–19,51* und könnte von dort inspiriert sein. Eine Abfassung von Ri 20 in Kenntnis der Landverteilung liegt somit nahe.
Eine literargeschichtliche Ansetzung von Jos 14,1–19,51* zwischen Ri 19 und Ri 20 – oder,was (im Falle einer bereits bestehenden literarischen Anbindung von Ri 19 f.* an den Hexateuch) theoretisch auch möglich wäre, auf der Ebene von Ri 20 – könnte zudem erklären,wie der Verfasser von Ri 20 zu seinem Vorzugsvokabular und seiner Israel-Konzeption kam und somit auch die diesbezügliche Diskrepanz zwischen Ri 19 und Ri 20 verständlich machen.
2Jos 24,28–33
„Noch das blödeste Auge kann nach Rudolf Smend sen. am doppelten Tod Josuas erkennen, dass im Übergang zwischen Josua- und Richterbuch literarische Bruchlinien verlaufen, doch bis heute ist es selbst den klügsten Augen nicht gelungen, das Wachstum dieses Übergangsbereiches so zu rekonstruieren, dass es zu einem breiteren Konsens geführt hätte.“874 Dieser Befund ist nicht verwunderlich: Angesichts des doppelten Todes Josuas am Übergang vom Josua- zum Richterbuch kommen auf Fortschreibungen basierende Modelle schnell an ihre Grenzen, da mit dem schwer erklärbaren Umstand der Abfassung der einen Notiz in Kenntnis der anderen umgegangen werden muss.875 Ginge man von der Existenz zweier unabhängig voneinander entstandenen Scharnierkompositionen im Bereich Jos und Ri aus, ließen sich die beiden Entlassungs- und Todesnotizen hingegen problemlos darauf aufteilen.876 Möglicherweise ließen sich im Rahmen dieses Modells darüber hinaus sogar einige Spannungen innerhalb der beiden Passagen sowie ihre spezifischen Abweichungen voneinander erklären.877
Da der Tod Josuas notwendig vor der führerlosen Landnahme in Ri 1mitgeteilt worden sein muss, sind von den beiden zur Auswahl stehenden Passagen sicher Jos 24,28–33* zu Ri 1.17–21* zu rechnen.878 An Jos 24,28 f. als Abschluss eines alten hexateuchischen Zusammenhangs879 wären die restlichen Verse sukzessive angehängt worden.880 Für die Konstitution des Hexateuch in seinem Umfang Gen– Jos ist zunächst V.32 von großer Bedeutung. Das Begräbnis der Gebeine Josefs übernimmt die Beschreibung des Begräbnisortes wörtlich aus Gen 33,19 und bezieht sich auf die Bitte Josefs um Mitnahme seiner Gebeine in Gen 50,25 und Ex 13,19, die wohl beide nachträglich in den Zusammenhang eingetragen wurden.881 Nun ist eine Einfügung von Gen 50,25 und Ex 13,19 nur sinnvoll, wenn der Wunsch Josefs schließlich auch erfüllt wird. Jos 24,32 wird daher auf eine literarische Ebene mit Gen 50,25 und Ex 13,19 gehören. Die Einschübe verfolgen wohl die Absicht, das Buch Genesis, das nach der Verbindung mit der Exodus-Landnahme-Erzählung in vielerlei Hinsicht spannungsvoll zum Folgenden stand, besser in den Zusammenhang zu integrieren.882 Der redaktionsgeschichtliche Ort dieses Zusatzes innerhalb der Komposition lässt sich nur tentativ bestimmen. Die größten Ähnlichkeiten in Ri 1.17–21, die zufälliger Art sein können, aber nicht müssen, liegen in Ri 19. Hier ließen sich die Bezugnahmen auf Material der Gen (Gen 18 f.) sowie die abschließende Korrelation der gegenwärtigen Situation mit dem Datum des Exodus als Versuch werten, das Geschehene durch den Vergleich mit dem Hexateuch (Gen–Jos!) zu qualifizieren. Eventuell kennt also bereits Ri 19 die literarische Verbindung von Gen und Ex.883 Wenn Jos 24,32 der Abgrenzung des Hexateuch als eigenständigem literarischem Gebilde dient und Ri 19 auf diese Größe Bezug nimmt, kann für Jos 24,32 – unabhängig von der Frage, ob Ri 19 allein die Sam-Kön-Komposition im Blick hat oder diese bereits mit dem Hexateuch verbindet – eine Entstehung noch vor Ri 19 erwogen werden.
V.30 ist redaktionsgeschichtlich schwer zu beurteilen. Da im Anschluss an die Todesnotiz in der Regel das Begräbnis der Person mitgeteilt wird,884 könnte V.30 gut die ursprüngliche Fortsetzung von 24,28 f. gebildet haben. Allerdings setzt das Begräbnis Josuas in seinem Erbbesitz eigentlich voraus, dass ihm zuvor ein Erbbesitz zugeteilt wurde. Davon berichten aber erst Jos 19,49 ff., die – folgt man den bisherigen Überlegungen – zu einer Erweiterung der alten Landnahmeerzählung zu rechnen sind. Da Josua nicht die einzige Ausnahme von der oben genannten Regel darstellt,885 ist der Vers eher als gegenüber Jos 24,28 f. nachgetragen zu betrachten. Es spricht nichts dagegen, Jos 24,30 auf derselben literargeschichtlichen Ebene wie Jos 19,49 ff. zu verorten. Insgesamt wäre somit von einer zeitlichen Nähe zu Ri 20 auszugehen.886
Sollten die Überlegungen zu Jos 14,1–19,51* zutreffen und die Verteilung des Landes ursprünglich in Jos 19,51 geendet haben, wäre Jos 24,33 nochmals später ergänzt worden.887 Eleasar ist zwar bereits in Jos 14,1–19,51* neben Josua der maßgebliche Akteur im Zusammenhang der Landverteilung, seine Sippe bekommt allerdings erst in Jos 21,13 ff. Land zugeteilt. Darunter befindet sich auch die benjaminitische Stadt Geba. Die Differenz zwischen Geba in Jos 21,17 und Gibea in Jos 24,33 muss dabei nicht überbewertet werden – schließlich wird auch in Ri 20 an mehreren Stellen nicht zwischen den beiden...