Teil E
Persönlichkeitstypologie aus tiefenpsychologischer Perspektive
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Die vier Persönlichkeitsstrukturen
- Schizoide Persönlichkeit
- Depressive Persönlichkeit
- Zwanghafte Persönlichkeit
- Hysterische Persönlichkeit
Die vier Grundängste
Angst vor Selbsthingabe
wird als Ich-Verlust und Abhängigkeit empfunden
Angst vor Selbstwerdung
wird als Einsamkeit und Isolation empfunden
Angst vor Wandlung
wird als Vergänglichkeit und Unsicherheit empfunden
Angst vor Ordnung und Notwendigkeit
wird als Endgültigkeit und Unfreiheit empfunden
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1 Einführung und psychoanalytische Grundlagen
Entscheidende Theorien der Psychoanalyse zur Darstellung der Angst und den daraus abgeleiteten Persönlichkeitsstrukturen des menschlichen Seins entwickelte Fritz Riemann (1902 - 1979). Er war Mitbegründer der jetzigen Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie.
Die Theorie von Fritz Riemann bietet erste grundlegende wissenschaftliche Hilfestellungen, sowie eine ausreichende Typenvielfalt mit vier Grundcharakteren und für die Führungskraft eine nachvollziehbare, komplexe Grundidee an.
Da die Persönlichkeitstypologie von Riemann auf den Grundformen der Angst beruht, erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Wesen der Angst, um darauf aufbauend die vier Persönlichkeitstypen mit Hilfe eines Modells abzuleiten. Es werden vier Grundängste unterschieden, deren jeweilige besondere Ausprägung zu einem bestimmten Persönlichkeitstyp führt.
1.1 Das Wesen der Angst
Die Angst ist ein fester Bestandteil in unserem Leben. Sie spiegelt unsere Abhängigkeiten und das Wissen um unsere Sterblichkeit wieder. Die Menschheit versucht daher seit frühester Zeit, die Angst bzw. ihre verschiedensten Variationen mit Hilfe von Magie, Religion und Wissenschaft, aber auch mit der Erforschung der Naturgesetze und mittels philosophischer Erkenntnisse zu bewältigen und zu überwinden. Trotz aller Mittel und Methoden lässt sich die Angst jedoch nicht aus unserem Leben vertreiben. Sie leisten nur Hilfestellung im Umgang mit der Angst bzw. bei dem Versuch sie zu besiegen und für die eigene Entwicklung nützlich zu machen.
Die Angst ist etwas Abstraktes und jeder Mensch erlebt seine persönliche Form der Angst. Angst besitzt einen Doppelaspekt: sie kann aktiv machen aber auch lähmen, z.B. lähmende Angst vor Prüfungen oder das aktive Weglaufen vor Gefahren. Der Versuch, die Angst anzunehmen, bedeutet einen Schritt in Richtung ihrer Überwindung. Die Verdrängung der Angst bzw. die Weigerung die Angstschranke zu überwinden, führt zur Stagnierung der Weiterentwicklung des Menschen. Es wird deutlich, dass jede Weiterentwicklung von der Auseinandersetzung und Bewältigung von Ängsten abhängig ist.
Riemann spricht in diesem Zusammenhang von „alters- und entwicklungsgemäßen Ängsten“, die jeder Mensch durchmacht und überwinden muss: die ersten Gehversuche oder der Schulanfang, die Pubertät oder die ersten sexuellen Begegnungen, der Berufs- und Karrierestart sowie die Gründung einer Familie.
Die Bewältigung dieser Situationen und die damit verbundenen Ängste fördern den menschlichen Reifeprozess. Neben diesen allgemeinen Ängsten, die leicht nachvollziehbar sind, existieren aber noch tiefergehende individuelle Angstformen, die nicht für jeden verständlich sind. „So kann bei dem einen Einsamkeit schwere Ängste auslösen, bei dem anderen Menschenansammlungen, ein Dritter bekommt Angstanfälle, wenn er über eine Brücke oder einen freien Platz geht ...“
Riemann hat festgestellt, dass sich alle überhaupt möglichen Ängste auf ganz bestimmte Angstformen zurückführen lassen, die er als die „vier Grundformen der Angst“ bezeichnet. Die Grundformen und die daraus resultierenden Charaktere werden an dem folgenden Modell verdeutlicht.
1.2 Das Ausgangsmodell
Der Mensch lebt auf der Erde, die vier Gesetzmäßigkeiten folgt: Die Erde umkreist in einem bestimmten Rhythmus die Sonne. Diese Bewegung wird als Revolution, „Umwälzung“, bezeichnet. Gleichzeitig dreht sich die Erde um ihre eigene Achse, führt also eine Rotation, „Eigendrehung“, aus. Das Funktionieren dieser beiden Bewegungen setzt zwei weitere gegensätzliche Impulse voraus: die Schwerkraft und die Fliehkraft. Die Schwerkraft hält unsere Welt zusammen, richtet sie zentripetal nach innen, zur Mitte strebend, aus. Die Fliehkraft strebt zentrifugal, die Mitte fliehend, nach außen.
Nur wenn alle vier Gesetzmäßigkeiten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, kann die Ordnung des Ganzen garantiert werden. Überwiegt ein Impuls oder fällt ein Impuls weg, wandelt sich die Ordnung ins Chaos um.
Es gibt also zwei gegensätzliche Kräftepaare, ohne die keine Ordnung entstehen kann:
- Revolution und Eigenrotation
- Schwerkraft und Fliehkraft
Riemann geht davon aus, dass der Mensch als winziges Teilchen dieses Systems analogen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist und die Impulse als unbewusste Treibkräfte und zugleich als latente Forderung in sich trägt.
So entspricht der Rotation (Eigendrehung) die Forderung nach Individualität und der Revolution (Bewegung um die Sonne) die Forderung, sich einzuordnen und die Unterordnung in ein größeres Ganzes. Hier werden die gegensätzlichen Ansprüche der beiden Forderungen deutlich.
Auch die Forderungen aus den anderen beiden Kräften stehen im Gegensatz zueinander. Der Zentripetalen (Schwerkraft) entspricht auf der seelischen Ebene der Impuls nach Dauer und Beständigkeit. Dagegen fordert die Fliehkraft (Zentrifugalkraft) stetige Veränderung und Wandlung.
1.3 Die vier Grundformen der Angst
Riemann leitet seine Grundformen der Angst nach folgendem Grundsatz ab: Strebt der Mensch innerhalb eines Kräftepaares besonders nach einer Forderung, geschieht dies aus Angst vor der gegensätzlichen Forderung.
1.3.1 Die Angst vor Selbsthingabe
Bei der Eigendrehung (Rotation) handelt es sich um die Forderung nach Individualität, nach der Entwicklung zu einem unverwechselbaren Menschen. Kommt der Mensch dieser Forderung nach, hat er zugleich Angst, die Geborgenheit und das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft zu verlieren, indem er sich zu sehr von ihr unterscheidet. Merksatz:
Aus der Forderung nach Individualität entsteht die erste Grundform der Angst, die Angst vor der Selbsthingabe, die als Ich-Verlust und Abhängigkeit empfunden wird.
1.3.2 Die Angst vor Selbstwerdung
Hier handelt es sich um die Forderung, die Persönlichkeit einem übergeordneten Ganzen unterzuordnen, sich den Mitmenschen zu öffnen. Damit verbunden ist die Angst des Menschen, sich selbst weiterzuentwickeln. Merksatz:
Aus der Forderung, unsere Persönlichkeit einem übergeordneten Ganzen unterzuordnen, entsteht die zweite Grundform der Angst, die Angst vor der Selbstwerdung, weil sie als Einsamkeit und Isolation empfunden wird.
Es wird deutlich, zwischen welchen Gegensätzen sich der Mensch entwickeln muss und welches Konfliktpotential er in sich trägt. Zum einen die Forderung „Selbst zu werden“ und zum anderen die Forderung nach Selbsthingabe.
1.3.3 Die Angst vor Wandlung
Die Schwerkraft fordert von den Menschen, die Dauer anzustreben, d.h. in die Zukunft zu planen und zielstrebig zu sein. Sie treibt uns zum Handeln, um unsere Ziele zu verwirklichen.
Gleichzeitig sind mit dieser Forderung alle Ängste gegeben, die mit dem Wissen um die Vergänglichkeit, um unsere Abhängigkeit und um die irrationale Unberechenbarkeit unseres Daseins zusammenhängen. Damit wird deutlich, dass der Forderung nach Dauer und Beständigkeit die Angst vor Wandlung, vor dem Neuen, entspricht. Merksatz:
Aus der Forderung nach Dauer entsteht die dritte Grundform der Angst, die Angst vor der Wandlung, weil sie als Vergänglichkeit und Unsicherheit empfunden wird.
1.3.4 Die Angst vor der Ordnung und Notwendigkeit
Bei dieser Angstform handelt es sich um die Forderung nach der Bereitschaft, uns zu verändern. Diese Forderung nach Weiterentwicklung beinhaltet die Angst vor Ordnungen, Gesetzen und Gewohnheiten. Angst davor, in seinen Möglichkeiten eingeengt und begrenzt zu werden. Merksatz:
Aus der Forderung nach der Bereitschaft sich zu wandeln, entsteht die vierte Grundform der Angst, die Angst vor der Ordnung und Notwendigkeit, weil sie als Endgültigkeit und Unfreiheit empfunden wird.
1.3.5 Zusammenfassung der vier Grundformen der Angst
Folgende vier Angstformen wurden aufgeführt:
- Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt.
- Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolation erlebt.
- Die Angst vor Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt.
- Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt.
In den ersten beiden Grundformen wurden zwei gegensätzliche Ängste beschrieben. Einerseits soll die Angst vor der Selbsthingabe und andererseits die Angst vor der Selbstwerdung überwunden werden.
Das Leben stellt zwei Forderungen an den Menschen, die in Konkurrenz zueinander stehen. Je mehr der Mensch der Forderung nach Selbstwerdung nachkommt und die ...