1. Einleitung
1.1. Vorstellung des Textkorpus
»What else indeed could (say) Virgil be other than what readers have made of him over the centuries?«,1 fragt Charles Martindale und vermittelt damit die dieser Arbeit programmatisch voranzustellende Grundeinsicht, dass es den einen Vergil nicht gibt. Vielmehr wäre es angemessen, von Vergil im Plural zu sprechen,2 um der großen Zahl an Autorbildern und Deutungen3 gerecht zu werden, die seit der Antike konstruiert, tradiert und immer wieder neu transformiert werden.
Etwa seit Ende des vergangenen Jahrhunderts interessiert sich die Klassische Philologie vermehrt für die vielfältigen Transformationen ihrer Gegenstände und Autoren. In den letzten Jahren ist das Forschungsgebiet der classical tradition sogar derart gewachsen, dass Craig Kallendorf in seiner jüngsten Veröffentlichung von einer »explosion of interest in the reception of ancient authors«4 spricht. Insbesondere für Vergil und speziell für sein Epos wurde dabei eine derartige Fülle an kulturellen Artefakten zusammengetragen und untersucht,5 dass Kallendorfs Resümee bezüglich der Aeneis-Travestien überraschen dürfte: »[M]uch more work needs to be done on all the early modern Virgilian travesties.«6
Diesem Imperativ folgt die vorliegende Arbeit, deren Gegenstand die italienischen und französischen Aeneis-Travestien des 17. Jahrhunderts sind, in denen klassische Antike und zeitgenössische Gegenwart in einem wechselvollen Kräfteverhältnis zueinanderstehen, das es zwischen den zuständigen Disziplinen, also Klassischer und Romanischer Philologie, zum beidseitigen Erkenntnisgewinn zu erforschen gilt. Bisher scheint es einen solchen Austausch7 eher selten gegeben zu haben, wofür auch Kallensdorfs Urteil symptomatisch ist, insofern er die romanistischen Beiträge, die zu den italienischen und französischen Travestien verfasst wurden,8 nicht nennt. Selbst Thomas Stauders breit, gewissermaßen gesamteuropäisch angelegte Dissertation Die literarische Travestie: terminologische Systematik und paradigmatische Analyse9 findet keine Berücksichtigung.
Anders als in Stauders Studie geht es in der vorliegenden Arbeit nicht um eine Systematik der europäischen Travestie als solcher, sondern um die Erarbeitung einer Poetik der Aeneis-Travestien. Hierzu bedarf es einer umfassenden Analyse der Texte, die in ihren Entstehungskontexten zu situieren und auf ihre Beziehung zu Vergils Epos, der antiken Literatur allgemein sowie zu den literarischen Systemen des 17. Jahrhunderts zu befragen sind. Dieser breit gewählte Ansatz rechtfertigt die im Vergleich zu jüngeren Forschungen bewusste Reduktion des Textkorpus auf eben solche Texte, die Vergils Aeneis zum Gegenstand haben.10
Ausgangspunkt des zu untersuchenden Korpus ist Giovanni Battista Lallis Eneide travestita (1632),11 die laut Auskunft ihres Autors eine ›Übersetzung‹ in dilettevole stile giocoso sei und die erste europäische Travestie überhaupt darstellt. Da sich Lalli auch einiger voci basse e volgari bedient, hat es sich eingebürgert, bei der Travestie von einer stilistischen »Herabsetzung«12 zu sprechen. Etwa fünfzehn Jahre nach Lallis Gründungstext erscheint in Frankreich das erste Buch von Paul Scarrons Virgile travesti, der zweiten Aeneis-Travestie des Korpus, die der Autor sukzessive herausgibt. So erscheinen von 1648 bis 1653 die ersten sieben Bücher des lateinischen Epos en vers burlesques.13 Seit Pietro Toldos grundlegender Studie14, die eine gewisse Abhängigkeit Scarrons von Lalli anhand von Textbefunden nachweisen konnte, geht die Forschung von einem ästhetischen Vorrang Scarrons gegenüber Lalli aus.15 Losgelöst von solchen Werturteilen liefert die vorliegende Arbeit eine komparatistisch angelegte Untersuchung dieser beiden Gründungstexte der europäischen Travestie, wobei weniger einzelne Textentsprechungen als vielmehr die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der poetischen Konzeption eines travestimento und eines travestissement en vers burlesques sowie deren Aufnahme in Italien und Frankreich im Fokus stehen.
Anders als in Italien kommt es in Frankreich zu einer breiten Rezeption der Antikentravestie. Dem Ansatz der Arbeit folgend umfasst das Korpus folglich auch diejenigen sieben Aeneis-Travestien, die in der Nachfolge Scarrons von bis heute unbekannten, aber auch von bedeutenden Autoren des 17. Jahrhunderts verfasst wurden. Unter dem Namen Dufresnoy erschien 1649 eine Burleskversion des zweiten Aeneis-Buches, ein gewisser Barciet veröffentlichte 1650 seine Fassung des achten. Laurent de Laffemas legte sowohl eine Burleksversion des sechsten (1649) als auch des zwölften Buches (1652) vor. Von Antoine Furetière stammt eine Burleskversion des vierten Buches (1649) und Georges de Brébeuf veröffentlichte eine Travestie des siebten (1650). Unveröffentlicht blieb das sechste Buch der Perrault-Brüder (entstanden 1649). Diese Travestien werden in Parallellektüren sowohl zu Vergils Aeneis als auch zu Scarrons Virgil travesti betrachtet und illustrieren somit den französischen Paragone der Travestoren um die Burleskfassung des antiken Epos.
In den aufgeführten Travestien werden Vergil und seine Aeneis Gegenstand einer Maskerade, sie werden einem Kleidertausch unterzogen, wobei Autor und Text nicht nur ein neues, sondern ein Aufsehen erregendes Gewand erhalten, das sie ›komisch verkleidet‹ (travestiert) erscheinen lässt. Dieser Prozess kehrt die seit der Antike bekannte Praxis des »rhetorischen Paradoxes«, das »traditionsgemäß zumeist als Lobpreisung eines trivialen, unwürdigen oder schlechterdings unvertretbaren Gegenstandes erscheint«,16 um. Nicht ›Lob des Niedrigen‹ in hohen Worten, sondern ›Herabsetzung des Lobenswerten‹ ist travestives Programm. Dabei ist vor allem die Ausstellung des künstlerisch anspruchsvollen Travestierens als Heteropraxis17 durch den ›modernen‹ Dichter beachtenswert, da dieser im Schreibakt einen Gegensatz erschafft, der in Literatur und Kultur bis in die Renaissance und darüber hinaus als Verstoß gegen aptum und decorum stets negativ beurteilt wurde. Dies illustrieren drei Beispiele, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen, sich jedoch alle konkret oder bildhaft mit vestimentären Gegensätzen beschäftigen und somit als Annäherungsversuche zu den komischen ›Textverkleidungen‹ dienen können.
1.2. Vom Mangel unpassender Kleidung zur Textverkleidung: Annäherungsversuche
In seinem Dittamondo (1360) lässt Fazio degli Uberti Roma als Personifikation des niedergegangenen Imperium Romanum in zerissenen Kleidern auftreten. Trotz der äußeren Hässlichkeit18 erkennt die Autor-persona, noch bevor Roma selbst auf ihre ehemalige Gestalt verweist, deren noble Herkunft: »E, con tutto che fosse cosí fatta, / pur ne l’abito suo, onesto e degno, / mostrava uscita di gentile schiatta.«19 Trotz des »pover vestire« verweist die Gestalt der Roma den Betrachter »ad altro stile.«20
Kontraste zwischen Kleidung und sozialem Rang, wie sie in der Roma degli Ubertis sichtbar sind, galt es im Alltag des Renaissancemenschen grundsätzlich zu vermeiden, wie das zweite Beispiel aus dem späten Quattrocento lehrt. So beklagt sich Giovanni Pontano in seinem De principe (1490) über eine allzu große licentia bei der Kleiderwahl seiner Landsleute.21 Im Gegensatz zu Städten wie Florenz und Venedig gab es in Neapel keine Kleidervorschriften, weshalb Pontano an eine Art Gewohnheitswissen erinnert:
Ut non omnis color nec omne pannorum aut sericorum decet, cum vestimenta quaedam gregariorum tantum sint aut remigum eodemque modo colorum alii sint puerorum, alii senum, servorum alii, allii ingenuorum.22
Demnach entscheidet nicht nur sozialer Status über das, was in der Kleidung angemessen ist, sondern auch das Alter, worauf sich das dritte Beispiel bezieht. Torquato Tasso (1544‒1595), der seiner Gerusalemme liberata in den Discorsi dell’arte poetica ein theoretisches Fundament gegeben hat, beschäftigt sich in diesem Traktat u. a. mit der Frage, ob ein antiker oder ein zeitgenössicher Gegenstand für den Dichter angenehmer sei. Ersterer bringe zwar eine gran commodità di fingere mit sich, sei aber auf die antichità de’ costumi festgelegt, die dem zeitgenössischen Publikum (gli huomini di questa età) nicht gefalle. Auf die naheliegende Möglichkeit, den antiken Gegenstand in zeitgenössischen costumi zu behandeln, antwortet Tasso mit einem Vergleich:
[M]a chi volesse poi con la vechiezza de’secoli introdurre la novità de’costumi, potrebbe forse parer simile à poco giudicioso pittore, che l’imagine di Catone, ò di Cincinnato vestire secondo le foggie della gioventù Milanese ò Napoletana ci rapprensentasse, ò togliendo ad Hercole la Clava, e la pelle di Leone, di Cimiero, di sopraveste l’adornasse.23
Nur ein schlechter Maler (poco giudicioso pittore) käme auf die Idee, Helden der römischen Republik wie Cato oder Cincinnatus in foggie della gioventù Milanese ò Napoletana zu »kleiden« (vestire). Tasso empfiehlt schließlich einen nicht allzu antiken, aber auch nicht allzu rezenten Gegenstand für den poema eroico.
Hinter dem in den Beispielen erkennbaren Gegensatz zwischen einem Äußeren (Form) und einem Inneren (Inhalt) sind unterschiedliche Ursachen zu sehen. Verkürzend könnte man diese auf die Begriffe Mangel, Exzess und Fehler hin abstrahieren. All dies trifft auf das Selbstverständnis der Aeneis-Travestien jedoch nicht zu. Diesen Texten liegt eine bewusste Entscheidung zur Andersartigkeit zu Grunde. Die betreffenden Texte erheben einen Gegensatz, der traditionell verdammt wurde, zu ihrem Kompositionsprinzip und generieren aus ihm komische Effekte. Die Autoren suchen die Nähe zur Antike, machen sie zum Gegenstand literarischer Gestaltung und distanzieren sich in diesem Schaffensakt von ihr, führen sie vor, kritisieren sie, loben sie, travestieren sie, und zwar in dem Sinn, wie es jüngst Claudine Nédelec formuliert hat: »Travestir, c’est en même temps commenter, décrypter, mettre en évidence les lignes de fabrication, c’est mener une réflexion métatextuelle, essentielle, sur la littérature elle-même en tant que moyen de représentation.«24 Diese Würdigung weist darauf hin, dass neben dem programmatischen Gegensatz von Inhalt und Form noch eine Reihe anderer Texteingriffe in den Travestien vorgenommen werden, die im Kontext dieser Arbeit aufzuzeigen und auf ihre Funktionalisierung hin zu untersuchen sind.
Trotz der ausgestellten Komik, die als Signal hätte gelesen werden können, die betreffenden Texte nicht allzu ernst zu nehmen oder zumindest nach einer ihnen eigenen Logik zu beurteilen, stand einer zeitgenössischen Würdigung der problematische Status der Travestien als nicht regelhaften Dichtung im Weg. So betont Niccolò Villani in seinem Ragionamento sopra la poesia giocosa (1634) die poetologischen Gefahren, die Lallis Werk in sich berge:
Il quale [Lalli] non è du...