1Einleitung
Denn welche Phantasie wird nicht […] bei […] diesen […] Versen
Hier ist der Grazien Lustplatz,
Hier irrt am Zügel des Himmels […]
Die Ruh, hier rieselt Entzückung
Mit hellen Bächen heran.
sich alle Wonnen des lieblichsten ländlichen Aufenthaltes vorgestellet haben.1
Diese Sätze, inklusive ihrer – relativ freien2 – Zitate aus dem Frühling Ewald Christian von Kleists, sind den gartentheoretischen Ausführungen3 Friedrich Ludwig Karl Graf von Finckensteins (1745–1818) entnommen. Dieser kunst- und literaturaffine preußische Adelige war vielleicht einer der größten Verehrer Kleists im 19. Jahrhundert. Finckensteins Ansichten zur Gartentheorie spiegeln sich in seinen allgemeinen Ansichten zu Kunst und Ästhetik wider, wie er sie auch im Vorwort einer eigens von ihm besorgten Ausgabe des Frühlings dargelegt hat.4 Finckenstein wandte seine Gartentheorie ebenfalls praktisch an, als er versuchte, einen Teil seines (heute wieder rekonstruierten) Schlossgartens in Alt Madlitz nach den Eindrücken, die er durch die Lektüre von Kleists Frühling erhielt, zu gestalten. Der Garten stellt damit wohl eines der interessantesten Rezeptionszeugnisse des literarischen Schaffens Ewald Christian von Kleists dar.
Zugleich treten mit dem Madlitzer Garten und diesem kuriosen Beispiel von Kleist-Verehrung implizit die Probleme eines Großteils der übrigen Kleist-Rezeption hervor. Immerhin ging es in Finckensteins Garten und Gartentheorie tatsächlich um die Texte Kleists, nicht um seine Person. Letztere bildete indes im Laufe der Rezeptionsgeschichte das vielleicht größte Hindernis für die Beschäftigung mit seinen Werken. So schreibt schon August Sauer: „Durch ausführliche Betrachtung und Beschreibung seines Lebens, durch genaueste Schilderung aller Details seines ruhmvollen Todes, durch monumentale Ausschmückung seiner Grabstätte, endlich durch Gedichte an und über ihn suchte man das zu ersetzen, was die gleichzeitige Kritik versäumt hatte.“5 Vielleicht wie nur selten in der Germanistik lässt sich am Beispiel Kleists studieren, wie eine unscharfe Trennung von Autor und Text den Blick jeder Interpretation verstellen kann (vgl. Kap. 5.1).6 Denn bereits im Moment seines Todes rückten Kleists Texte gänzlich in den Hintergrund eines um seine Person betriebenen Kults. Paradigmatisch lässt sich hier kritisch Thomas Abbt aus seinem Vom Tode für das Vaterland zitieren:
Wie weit läßt, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, der sterbende Krieger den unsterblichen Dichter hinter sich! Seine Werke dienen jetzt als Lorbeern, die er um sein Grab pflanzt: aber wenn dieses Grab nicht den Patrioten einschlösse: würden diese Lorbeern wohl so schön grünen?7
Zunächst stand also Kleists vermeintliches Heldenopfer im Dienst des preußischen Patriotismus im Zentrum eines alles einnehmenden Interesses – nach Hans Christoph Buch in Teilen bis in die 1970er Jahre hinein.8 Dabei war Kleists grausame Verletzung im Schlachtfeld – er starb ohnehin erst qualvolle Tage später in Frankfurt an der Oder – weder sonderlich heroisch, noch damals ein Einzelfall, wie Christopher Clark zeigt.9 Wie sehr „Preußens Historie […] die Todeslust aus Lebensüberdruß“ Kleists zum heroischen Soldatentod transformierte10, lässt sich auch in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, an der Hochkonjunktur der Kleistforschung zum Ende des 19. Jahrhunderts, erkennen.11
Auf die Indienstnahme Kleists als preußischer Märtyrer folgte eine neue Interpretation seines Todes als Quasi-Suizid. Dies ergab eine neue Möglichkeit, Werk wie Leben des Dichters zusammen zu denken: Beide wurden nun – nicht ohne die obligatorische Ausschmückung einer unglücklichen Liebe12 – unter das Signum der „Melancholie“ gestellt.13 Unwiderstehlichen Reiz für die Literaturwissenschaft hatte hierbei der sich mitunter aufdrängende Eindruck, Kleist hätte den bevorstehenden Schlachtentod in seiner Poesie vorweggenommen. Verschiedenen seiner Texte wurde im Laufe der Forschungsgeschichte eine solche Intention unterstellt.14 Inwiefern bei alledem Kleist selbst seinem Ruf auf die eine oder andere Weise nachgeholfen hat, ist nicht einfach zu klären. Oft aber ging, wie bereits angedeutet, mit der Forschung zu Kleist eine mitunter problematische Vermischung der Kategorien von „Autor“ und „Text“ einher: Bereits die ,poetische Inititiationsszene‘ Kleists, bei der dieser angeblich durch Gleims Vortrag eines anakreontischen Gedichts so ins Lachen geriet, dass eine Wunde geheilt und Kleist auf diese Weise lebenslang zum Dichten bestimmt wurde, erwies sich als überaus fruchtbar für die Verkitschung von Werk und Autor.15
1.1Methodik und Gliederung der Arbeit
Die vorliegende Arbeit möchte das gezeichnete Dilemma vermeiden und sich Kleist auf zwei Weisen nähern. Zum einen wird das lyrische Hauptwerk Kleists, der Frühling, einer ausführlichen Interpretation unterzogen. Dabei wird, ausgehend von einer abschnittweisen Unterteilung des Frühlings in verschiedene Hauptthemen, das schriftstellerische Schaffen Kleists in verschiedene kulturhistorische Kontexte seiner Zeit wie „Philosophie“, „Religion“ oder „Anthropologie“ gestellt. Primärer Gegenstand der Arbeit ist also der Text, und nur ausgehend von der Textanalyse, nicht durch einen biografistischen Kurzschluss, werden die verschiedenen Thesen der Untersuchung entwickelt. Auch die Entwicklungs-, Editions-, Wirkungs- oder Forschungsgeschichte des Frühlings spielen in der vorliegenden Arbeit nur eine Rolle, insofern sie analyserelevante Kriterien der Interpretation des literarischen Werks selbst bilden.16 Der Frühling wurde als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung nicht nur deshalb ausgewählt, weil Kleist vor allem mit diesem Text in die Literaturgeschichte Eingang gefunden hat und angesichts der großen Desiderata der Kleist-Forschung (s.u. zum Forschungsstand) eine Interpretation dieses Gedichts zunächst am zwingendsten erscheint. Vielmehr, so eine der Thesen der Analyse, lassen sich vom Frühling ausgehend die Themen des Gesamtwerks Kleists optimal entfalten: „Auf dieses Hauptwerk hin – und von ihm her – liest sich ein Großteil seiner [Kleists, C. W.] poetischen Texte wie dessen Variation und Kommentar.“17 Diese werden gerade in Bezug auf Werkgruppen, die bisher kaum oder überhaupt nicht von der Forschung beachtet wurden (z. B. Kleists Gedanken über verschiedene Vorwürfe oder seine Aufsätze für ein geplantes Zeitschriftenprojekt18), in die vergleichende Analyse des Frühlings miteinbezogen. Die Fassung letzter Hand des Frühlings, welche seit der noch von Kleist selbst beauftragten Werkausgabe von 1756 vorliegt19, bildet den Ausgangspunkt der Interpretation. Diese Fassung wird jedoch mit sämtlichen anderen Fassungen des Gedichts, natürlich vor allem mit der Erstauflage von 174920 und dem einzigen erhaltenen Manuskript des Texts21 verglichen – die ,gefälschte‘ Ramler-Ausgabe, auf die mitunter noch in der Forschung verwiesen wird, bildet keinen Untersuchungsgegenstand.22
Zahlreiche unedierte Bestände, vor allem aus dem Kleist-Nachlass des Gleimhauses Halberstadt, sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit für die Analyse herangezogen worden.23 Insbesondere die mehr als 500 Seiten des dicht beschriebenen Notizhefts Kleists (Collectaneen) stellen eine bislang unausgeschöpfte Quelle für die Interpretation seines Werks dar, die in der vorliegenden Arbeit erstmals extensiv für die Analyse des Frühlings ausgewertet wird.24 Hieraus ergibt sich ein umfassender Einblick in die literarischen Vorbilder und Einflüsse Kleists. Auch der bereits größtenteils edierte Briefwechsel Kleists wird erstmals systematisch im Kontext seiner literarischen Werke ausgewertet. Bei jedem Kapitel soll auf diese Weise das ,Wissen‘ der jeweiligen Quellen – und hierzu zählen dann ggf. auch biographische Informationen – für die Werke bzw. deren Interpretation genutzt werden.
Für die literaturhistorische Einordnung Kleists spielen in der vorliegenden Arbeit außerdem die Dichtungen anderer zeitgenössischer Dichter eine große Rolle. Von zentralem Einfluss für Kleist sind hierbei vor allem Übersetzungen Brockes’ aus dem Englischen.25 Neben den Seasons James Thomsons26 betrifft dies den Essay On Man Popes27, die Kleist beide nachweislich nicht im englischen Original, sondern in der Fassung Brockes’ las.28 Die intensive Arbeit mit diesen Quellen ermöglicht gleichzeitig einen übersetzungsphilologischen Blick auf Brockes’ Schreiben.29 Durchgehend wird bei der Interpretation des Frühlings neben den in den Collectaneen genannten literarischen Vorlagen außerdem auf die eigene Lyrik der Zeitgenossen Brockes30 sowie Albrecht von Hallers Bezug genommen, die Kleist ebenfalls nach...