[Der 1. Weltkrieg und die Neuzeit]
Für die ruhige Weiterentwicklung der Gesellschaft in den bisherigen Bahnen, die auf leidlichen inneren Frieden beruhte, war der Ausbruch des [5] Weltkrieges eine ungeheure Störung. Freilich entsprang der Weltkrieg unmittelbar aus dem Gegensatz und der Konkurrenz der zwei höchstentwickelten kapitalistischen industriellen Staaten: des gewaltigen britischen Reichs, das den Rang eines Weltreiches mit gutem Grunde in Anspruch nahm und darum nicht den Anspruch aufgeben konnte, geschweige denn [10] wollte, die Herrschaft über die Meere und also eine unüberwindliche Flotte zu besitzen; demgegenüber erhob sich nicht nur die industrielle sondern zugleich die maritime Konkurrenz des Deutschen Reiches, das mit Recht den Stand seiner militärischen Macht ebenso hoch schätzte wie Groß-Britannien den seiner Flotte und überdies den Anspruch machte, durch seine eigene [15] Flotte mit der britischen zu wetteifern. Der Konflikt war unvermeidlich und er hat seinen Ausgang gefunden mit der schweren Niederlage des Deutschen Reiches, die äußerlich durch einen Friedensvertrag in die Erscheinung trat, bei dem Frankreich, das mehr als 40 Jahre lang auf die Vergeltung für seine Niederlage gewartet hatte und nunmehr die Gelegenheit wahrnahm, sich in [20] seinem Umfange von 1814 wiederherzustellen, obschon die Gewinnung des Territoriums zum guten Teil gerade in bezug auf das Elsaß und das ehemalige Herzogtum Lothringen eine außerordentlich morsche Basis besaß. Dagegen war das dritte große Reich, das auf der Gegenseite beteiligt war, das Russische, selber besiegt worden, und zwar eben durch das damals noch [25] starke Deutsche Reich. Die kapitalistische Entwicklung konnte von diesem ungeheuren Ereignis nicht unberührt bleiben. Schon vorher hatte sich ihr Fortgang an die Assoziation des Kapitals geknüpft, die scheinbar unwiderstehlich war. Sie ist dann weiter ihres Weges gegangen und hat sich vermannigfacht: neben den Kartellen, die ursprünglich nur zur Befestigung [30] der Preise, der Einschränkung des Wettbewerbs dienen sollten, haben unter dem Namen der Trusts, der Konzerne, der Syndikate andere und gewaltige Zusammenballungen des Kapitals sich gebildet, die vielfach eine Monopolstellung gewonnen haben, wodurch ein starkes Übergewicht des Kapitals über die Arbeit gewonnen worden ist, das mehr und mehr zu offenbarer Geltung gelangt ist und außer seinen natürlichen Trägern eine große Sympathie in der öffentlichen Meinung [gewonnen hat], soweit diese die mit dem [5] Kapital zusammenhängenden Kreise der Gebildeten und Intellektuellen als ihre Urheber oder doch Vertreter gelten lassen muß. In dieser Hinsicht kann man durchaus sagen, daß es sich um eine rückschrittliche Entwicklung gehandelt hat, die schon während des Krieges ihren Ausdruck fand und nach dessen Ende in der Verelendung des Deutschen Reiches und Österreichs zu [10] uneingeschränkter Geltung gelangte. Inzwischen hat der produktive Kapitalismus zeitweilig stark an Boden gewonnen: durch den Untergang der deutschen Währung wurde der deutsche Warenexport erleichtert und vermehrt; diesem Ereignis folgte bald die große Wertverminderung anderer Währungen, zunächst die des Pfundes, an die sich die des Dollars bald [15] anschloß. Die Folgen dieses Prozesses sind noch unabsehbar. Es ist aber nicht fraglich, daß sie mit den inneren politischen Bewegungen, die in allen kapitalistischen Ländern mehr und mehr zutage treten, nahe zusammenhängen, wenn auch diese zu gleicher Zeit durch andere Antriebe und Motive befördert wurden. Sie haben zum Teil auch auf die große Politik, und zwar [20] unmittelbar auf die Regierungen gewirkt, so zunächst, und dies ist das wichtigste, auf die Politik der Vereinigten Staaten Amerikas, dann auch auf diejenige Englands und in verstärkter Weise auf diejenige Italiens, und ganz besonders endlich auf die des Deutschen Reiches, von denen die beiden letzten Staaten einer reinen und vollkommenen Parteiregierung unterliegen, [25] die als eine arbeiterfreundliche auftritt, ganz besonders als eine solche, die das äußerste Elend, das ehemals als das des Lumpenproletariats bezeichnet wurde, zu unterdrücken sich anheischig macht. Damit Hand in Hand geht aber eine Wiederaufnahme der Ansprüche, die vor dem Weltkriege das damals tatsächlich starke und mächtige Deutsche Reich erhoben hat und die [30] besonders in dem Anspruch auf überseeische Kolonien zum Ausdruck gelangen. Die Lage der Dinge ist freilich heute außerordentlich verschieden von der damaligen. Das Deutsche Reich ist durchaus arm und elend und die politische Klugheit würde gebieten, danach solange als möglich sich zu verhalten. Man kann entweder in solchem Falle Geduld üben und die [35] Erwartung besserer Zeiten und einer besseren Konjunktur sich angelegen sein lassen oder man kann aber ein für allemal den ganzen Schwerpunkt der Politik in das Innere verlegen und schlechthin darauf verzichten, in absehbarer Zeit irgendwelche Machtpolitik zu treiben oder zu fördern. Anstatt dessen will man die alten Ideale nicht aufgeben und hält es für eine moralische Pflicht, an der Herstellung oder Wiederherstellung derjenigen Machtmittel zu arbeiten, die den ehemaligen Glanz bewirkt haben. Wahrscheinlich ist der Erfolg solcher Bestrebungen nicht. Aber auch wo diese [5] Einsicht Platz greift, wird sie geringe Wirkung haben. Man kann in der Tat in der Anlehnung an andere Mächte einen Ausweg suchen, der nicht völlig aussichtslos ist: man kann hoffen, wiederzugewinnen, was verloren war, durch einen neuen großen Krieg, an dem man nicht notwendig teilnehmen müßte, um doch seine Ergebnisse mit zu genießen. – Für die soziale Frage, die [10] nach wie vor die große Crux im europäischen mehr und mehr aber auch jenseits der Meere, sogar im fernen Osten in den alten Kulturländern des Orients geworden ist, ragt in seiner unheimlichen Größe dieses Gespenst empor. Es schien einer friedlichen Entwicklung fähig zu sein und ihr entgegenzugehen: das war nicht nur die Hoffnung von Menschenfreunden, [15] Pazifisten, Freunden der Humanität, sondern auch von ernsten Politikern, die glaubten, daß die Entwicklung der stärksten Arbeiterpartei gerade im Deutschen Reiche auf der Basis einer so weit als möglich geführten Demokratie die günstigen Momente dafür enthalte. Dieser Prozeß ist, wenn er je möglich war, schlechthin unmöglich geworden. Er hatte und hat noch im [20] Deutschen Volke eine starke Basis: einen natürlichen Anhang unter allen Staatsbürgern, zu denen heute auch die Frauen gehören, die [eine] natürlichen Scheu vor den Gräueln politischer Aufstände und wilder Rebellionen hegen, unter allen Umständen also einer friedlichen Entwicklung den Vorzug geben.
Apparat
Editorischer Bericht
Der „TG Band 22,2“ (1932–1936 Geist der Neuzeit (GdN) Teile II, III und IV) war ursprünglich nicht geplant. Als der Bandeditor des TG Bandes 22 Lars Clausen den Band bearbeitete ging er davon aus, dass die „Zweite Abteilung von GdN als verloren gelten muss“.208 Durch die in der Folge dieses Editorischen Berichtes beschriebene Auffindung des verschollenen Manuskriptes, können die zwar lückenhaften, aber authentischen und autorisierten Texte von Ferdinand Tönnies aus seinen letzten fünf Lebensjahren wiedergegeben werden. Zur Genese und zum inhaltlichen Vorgehen des Werkes GdN sei auf den Editorischen Bericht von Lars Clausen im TG Band 22 verwiesen. Auch in den Teilen II, III und IV behält Tönnies inhaltlich den von Clausen beschriebenen Rhythmus bei. Dass eine durchgehend von „gesellschaftlich“ geprägten Auffassungen sozialer Vergesellung (Bejahung) geprägte „Neuzeit“ ihr Ende nehmen werde, sieht Tönnies voraus. Verstärkt wird diese pessimistische Aussage durch die aktuelle Entwicklung in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, die Tönnies zu der Einschätzung kommen lässt, dass „die Zukunft Europas in tiefstem Dunkel liegt“209. Wirkungsgeschichtlich blieb „Der Geist der Neuzeit“ von Tönnies allerdings ohne Echo, da sie beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschien und auch nicht rezensiert wurde. Erst 1971 schloss die eingehende Studie von Eduard Georg Jacoby „Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies“ diese Rezeptionslücke210.
Das wiederentdeckte Manuskript von GdN weist einige Besonderheiten auf, die zunächst beschrieben werden sollen. Die im Bundesarchiv Berlin verwahrte Archivalie (N 2134/ 8) trägt die Kennung „90 Ju 2 Nachlaß E. Jurkat“ und beinhaltet die GdN Teile II, III und IV (künftig GdN Teil II). Vom Teil I GdN sind Druckfahnen und Manuskripte vorhanden, die durch handschriftliche und transkribierte Texte ergänzt wurden.
Das Gesamtmanuskript besteht aus 573 paginierten Blättern (lt. Archiv Findbuch 574 – eine Seite fehlt). Die Paginierung ist nachträglich erfolgt und stimmt mit der Chronologie des Textes nicht überein. Ein großer Teil der transkribierten Texte weist umfangreiche Korrekturen und Textänderungen von der Hand Ferdinand Tönnies auf. Insgesamt konnten 256 Blätter eindeutig dem GdN II, III und IV zugeordnet werden. Von diesen 256 Blättern sind 78 komplett handschriftlich erstellt. 12 Manuskript-Blätter stammen aus dem Text „Die Lehre von den Volksversammlungen und die Urversammlung in Hobbes’ Leviathan“ (DSN 800) und 4 von Tönnies handschriftlich verfasste Blätter aus der Schrift „Sitte und Freiheit“211 (DSN 866). Die übrigen Blätter sind Manuskripte und Druckfahnen aus GdN Teil I.
Schon bei einer ersten oberflächlichen Überprüfung konnte festgestellt werden, dass die offensichtlich durch ein Archiv durchgeführte Paginierung nicht die tatsächliche chronologische Abfolge der Texte wiedergibt. Zudem waren durch Ferdinand Tönnies und seine Mitarbeiter mehrere eigene Paginierungen durchgeführt worden, die äußerst unterschiedlich sind und kaum eine Chronologie erkennen lassen. Die Bandeditoren mussten aus diesem Grunde am Anfang der Editionsarbeiten das vorhandene Manuskript nach unterschiedlichen Gesichtspunkten ordnen. Zunächst galt es, der durch Ferdinand Tönnies vorgegebenen Kennzeichnung zu folgen (z. B. GdN II, GdN III, GdN IV). Innerhalb dieser Reihe dann nach arabischen Zahlen (denen zumeist ein „§“ beigefügt war) und / oder Buchstaben nach dem Alphabet. Wo dies nicht möglich war, konnte die Kontinuität weitgehend durch die Art des Papiers hergestellt werden (Briefpapier, Schreibhefte, Notizblöcke etc.). Selbstverständlich war jederzeit dem Inhalt der Texte zu folgen, obwohl dem Text insgesamt eine endgültige Strukturierung durch Ferdinand Tönnies fehlt. Zum Beispiel fehlen dem Manuskript über weite Strecken noch die Überschriften. Alle Überschriften in eckigen Klammern [] wurden durch die Bandeditoren erstellt. Als Beispiel mag hier die Seite 11 ff. gelten, auf der Tönnies lediglich die Gliederung des Textes durch die Buchstaben A und B vorgibt und diese weiter mit Ziffern unterteilt. Das vorgefundene Manuskript weist Lücken auf, die durch entsprechende Bemerkungen von den Editoren gekennzeichnet sind. Zwei Hauptschwierigkeiten sahen sich die Bandeditoren also gegenüber: die überwiegend recht schwierige Transkribierung der Handschriften sowie eingefügten Korrekturen und die Auffindung der Textchronologie. Dass der Text nicht vollständig vorliegt, ist aber den Umständen geschuldet, denen das Manuskript ausgesetzt war und die hier nun im Einzelnen bis zur Auffindung des Manuskriptes beschrieben werden sollen.
Das Manuskript weist einige Eigenheiten der tönniesschen Schreibweisen auf. Die Bandeditoren haben diese Eigenheiten weitestgehend beibehalten. Als Beispiel mag hier das Wort „Staat“ dienen, das Tönnies sowohl mit einem als auch mit zwei „a“ schreibt. Das gleiche gilt für das Wort „Ware“. Wie bei Tönnies üblich sind auch eigene Wortkreationen im Text enthalten. So z.B. „Rechtsfug“ auf S. 31. Wie in den Editorischen Richtlinien festgelegt, wurden Textverderbnisse und Fehler in der Zeichensetzung korrigiert. Wenn im Manuskript Zitate mit eindeutiger Quellenangabe versehen waren, haben wir keine zusätzlichen editorischen Fußnoten gesetzt.
Am 10. Januar 1935 schrieb Jan Friedrich Tönnies an Rudolf Heberle u. a.:
„Lieber Rudolf! Vor einigen Tagen war ich mit Jurkat und Jacoby zusammen. Wir haben beschlossen, als Geburtstagsgabe zum 26.7. den „Geist der neuen Zeit“ als Privatdruck drucken zu lassen und dieses zu finanzieren durch eine Spende von etwa 40.– Mk., zu der wir ausser den Schülern die engsten persönlichen Freunde und ausserdem gleichgesinnte Fachgelehrte auffordern wollen.“212
Heinrich Striefler, ebenfalls Assistent von Tönnies, verfasste folgenden Aufruf, der hier wiedergegeben wird:
„
Sehr geehrter Herr!
Am 26. Juli 1935 wird Herr Geheimer Regierungsrat Professor Dr. phil. Dr. jur. h.c. Dr. sc. pol. h.c. Ferdinand Toennies in Kiel seinen 80. Geburtstag begehen. Die Unterzeichneten, die zu der jüngsten Generation seiner Schüler und Freunde zu zählen die Auszeichnung haben, und sowohl mit Herrn Prof. Toennies wie untereinander in engem persönlichen und wissenschaftlichen Austausch stehen, haben den Wunsch, dem deutschen Soziologen und Philosophen bei diesem Anlass durch eine besondere Ehrung einen Teil der Schuld abzutragen für das, was alle seine Freunde und Schüler von ihm empfangen haben; sie wenden sich deshalb an Sie mit einem Vorschlag, durch den sie glauben, Ihrer und unserer Verehrung für Ferdinand Toennies in angemessener Weise einen bleibenden Ausdruck geben zu können. Ferdinand Toennies, der am Schlusse seines Lebens seine Stellung als Hochschullehrer verlor, hat zwar nie in dem Lichte einer breiten Oeffentlichkeit gestanden, aber jedem der ihm persönlich Verbundenen wissenschaftlich zutiefst verpflichtet. Ueberdies ist es, wie die Erfahrung gezeigt hat, nahezu unmöglich und aussichtslos geworden, die Ergebnisse seiner Forscherarbeit zu veröffentlichen. Dies ist umso mehr zu beklagen, als Toennies in den letzten Jahren unter anderem an einem grösseren historisch-soziologischen Werke gearbeitet hat, das nahezu abgeschlossen vorliegt und den Titel „Geist der Neuzeit“ tragen soll. Dies Werk bedeutet nach unserer Kenntnis des Manuskriptes den Abschluss einer Linie seiner wissenschaftlichen Wirksamkeit, die mit dem Buche „Gemeinschaft und Gesellschaft“ anhebt, in der systematischen „Einführung in die Soziologie“ sich fortsetzt und in eine entwicklungsgeschichtliche Kennzeichnung des sozialen Lebens der Neuzeit einläuft. Diese äusseren und inneren Umstände haben uns im Verein mit seinem zweiten Sohn, Herrn Jan Friedrich Toennies, auf den Gedanken gebracht, Ferdinand Toennies durch einen Druck wenigstens des ersten grundlegenden in sich abgeschlossenen Teils zu seinem Geburtstag zu überraschen. Um seiner eigenen Entschliessung über eine Gesamtveröffentlichung nicht vorzugreifen, glauben wir dies am besten durch einen Privatdruck im Umfang von etwa 16 Bogen und in einigen hundert numerierten Exemplaren tun zu können, die ihm als gemeinsames Geschenk zur Verteilung an einen kleinen Kreis überreicht werden sollen. Die Fassung des Manuskriptes soll unverändert gelassen werden, aber durch Einfügung von Hinweisen auf die übrigen Werke von Toennies den Zusammenhang mit seinem Gesamtschaffen besonders verdeutlichen. Nach reiflicher Überlegung meinen wir, von denen jeder seine Zeit in der Studierstube dem Lehrer hat an die Hand gehen und seine Arbeitsweise kennen lernen dürfen, dadurch dem Werke eine mit den Wünschen des Verfassers übereinstimmende Gestalt zu geben.
Die gesamten Kosten haben wir etwa auf RM 2000.– veranschlagt und bei dem Kreise von Freunden und Schülern, an den wir uns hiermit wenden, einen Betrag von RM 40.– als die untere Grenze des Anteils eines Jeden ausgeworfen.
Wir bitten Sie uns auf anliegendem Formular recht bald wissen zu lassen, ob Sie diesem Vorschlag, den wir vertraulich zu behandeln bitten, Ihre Zustimmung geben, und mit welchem Betrag wir auf Ihre B...