1.1Der verunsichernde Sokrates
Dass der platonische Sokrates – das heißt die Figur des Sokrates bei Platon – eine verunsichernde und verwirrende Wirkung auf seine Gesprächspartner hat, wie die oben angeführte Äußerung des österreichischen Philosophen Alois Riehl prägnant betont, ist ein vor allem den Frühdialogen inhärentes Phänomen. Auch in der Forschung ist dieser Umstand des Öfteren betont worden. So ist die Hilflosigkeit, in die Sokrates seine Gesprächspartner hineintreibt, als „moralische Verunsicherung“2 bezeichnet3 worden; man hat festgestellt, dass Sokrates bisweilen die Meinung der Gesprächspartner „destruiere“4. Ulrike Zimbrich macht als einen wichtigen Zug der sokratischen Gesprächsführung aus, „das unmittelbare Selbstbewußtsein des behauptenden Subjekts zu verunsichern und bewußt zu machen, was man sagt, wenn man dies oder jenes behauptet“5. Zuletzt ist – allerdings ohne konkreten Bezug auf bestimmte Dialoge – die Wirkung von Sokrates auf seine Gesprächspartner von Uwe Olligschläger folgendermaßen zusammengefasst worden:
Sokrates gibt vor, von seinem Gesprächspartner etwas lernen zu wollen, wodurch eigenes und fremdes Nichtwissen an den Tag kommen. Zusätzlich bringt er auch bewusst fehlerhafte Gedanken vor, um seinem Gegenüber Einsicht in die Fehlstruktur seines Denkens zu ermöglichen. Dadurch entsteht in seinem Gegenüber ein Zustand innerer Verwirrung, eine Folge der Bewusstwerdung des eigenen Nichtwissens und des Zweifelns an sich selbst. [...] Und erst diese Verunsicherung ermöglicht es, eine neue Lebensperspektive zu entwickeln.6
In einem Beitrag zum platonischen Menon hat Andrea Albrecht im Kontext der Demonstration der Anamnesis und der in ihr dargestellten Aporie des Sklaven und deren Überwindung die „Nützlichkeit aporetischer Verunsicherung“ unterstrichen7. Auch in der anglo-amerikanischen Forschungsliteratur findet man häufig den Begriff der ‚socratic perplexity‘, der kein direktes Äquivalent zur Verunsicherung darstellt8, aber immerhin die Beobachtung einschließt, dass Sokrates seine Gesprächspartner in einen Zustand der Orientierungslosigkeit bringt9.
Vor allem die Aporie am Ende der Dialoge wird als der Endpunkt dieser Verunsicherung ausgemacht. Die Aporie, die sich bei einem Gesprächsteilnehmer einstellt, wird gleichgesetzt mit dem ergebnislosen Ausgang der Untersuchung10. Sokrates erreicht diesen Zustand meistens dadurch, dass seine Dialogpartner ihre Unfähigkeit erkennen, eine von ihnen vorgebrachte Behauptung zu stützen. So konstatiert Gareth Matthews:
He [sc. Socrates] does this by getting them to realize that they are not able to explain, or give an account of, something they had previously thought they understood very well. Now of course being questioned in a way that makes obvious one doesn’t know or understand something one had thought one knew or understood, perhaps had been expected to know or understand, may be shaming in a way that makes one numb, perplexed, even speechless.11
Wie Sokrates seine Gesprächspartner dazu bringt und welche Rolle die Rhetorik dabei spielt, wird von Matthews – wie auch von den meisten Interpreten – nicht beschrieben; auch die Reaktionen der Gesprächspartner, die weit über die von Matthews genannten hinausgehen, sind noch nicht hinreichend analysiert worden.
Der Begriff der Verunsicherung oder synonym verstandene Begriffe wie etwa Unsicherheit und Verwirrung werden in der Forschungsliteratur, wenn sie erwähnt werden, dehnbar oder vage, jedoch wenig konkret verwendet. Der Diagnose der Verunsicherung bestimmter Dialogteilnehmer durch moderne Interpreten geht an keiner Stelle eine eigene Definition der Verunsicherung voraus; weiterhin wird nicht geklärt, wie Verunsicherung im Griechischen ausgedrückt wird. All den angeführten Arbeiten ist die Feststellung gemeinsam, dass Sokrates eine eigenartige, verunsichernde Wirkung hat und bestimmte negative Gefühle verursacht; keine der Arbeiten zeigt jedoch auf, mit welchen Mitteln Sokrates diese erzeugt.
Die vorliegende Arbeit will die in den Dialogen feststellbare Verunsicherung genauer betrachten: Sie liefert zunächst eine Begriffsbestimmung und stellt die Frage nach der Genese der Verunsicherung in den Dialogen. Liegt sie gänzlich in dem Gesprächsverhalten des Sokrates begründet oder spielen andere Faktoren bei ihrer Entstehung eine Rolle und wie wirken diese zusammen? Wann entsteht sie und welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein?
Wie der kurze Überblick über die Forschungsliteratur zeigt, wird das Phänomen, die Verunsicherung der Gesprächsteilnehmer, oft bemerkt. Die gesamten vorher stattfindenden Prozesse und Bedingungen, die dieses Resultat letztendlich herbeiführen, und die Frage, ob es sich dabei um eine intendierte Strategie des Sokrates oder ein zufälliges Ergebnis des Gesprächsganges handelt, wird nicht systematisch untersucht12. Sarah Kofman fasst zusammen:
The aporetic state always arises as one moves from a familiar environment or space to a space to which one is unaccustomed, during a transition from below to above or from above to below, from darkness to light or from light to darkness.13
Nach Kofman ergibt sich die Aporie demnach, wenn die Gesprächsteilnehmer aus ihrem vertrauten Fachgebiet in ein anderes Gebiet, mit dem sie sich nicht auskennen, geführt werden. Jedoch bleibt Kofman zu allgemein. Keineswegs muss die Aporie immer aus ungewohnten Situationen entstehen, wie sich zeigen wird. Es stellt sich weiter die Frage, welche Schritte diesem Prozess der Aporie vorgeschaltet sind. Wie bringt Sokrates seine Gesprächspartner dorthin? Gibt es Übergänge vom Vertrauten zu Unvertrautem und wie werden sie von Platon markiert? Finden sich auch Verunsicherungen in der Mitte eines Dialogs und wie sehen diese aus? Wie beeinflussen sie den weiteren Verlauf?
Kofmans Feststellung, dass die Gesprächspartner von Sokrates in ein fremdes Gebiet geholt werden, ist keineswegs exklusiv: Denn in der Regel lässt Sokrates auch Gesprächspartner gerade in ihrem Umfeld, das sie selbst als ihr Spezialgebiet deklariert haben, und destruiert ihre Selbsteinschätzung. Keiner der Dialogteilnehmer zeigt im Vorfeld Unsicherheit; im Gegenteil: Viele Gesprächspartner werden zu Beginn der Dialoge als sehr selbstsicher gezeichnet. Erst durch Sokrates geraten sie ins Schwanken14. Eine viel zitierte Passage15 einer Arbeit von Jacqueline De Romilly gibt die bestechende Logik des Sokrates als Ursache an: Durch sie wird die Illusion zerstört, etwas sicher zu wissen16. Wie genau Sokrates dies erreicht, ist nicht im Detail besprochen oder systematisch betrachtet worden. Wie gelingt es Sokrates, Verunsicherung in seinen Gesprächspartnern hervorzurufen?
Dafür ist zweifelsohne seine besondere Art Gespräche zu führen verantwortlich; der platonische Sokrates besitzt eine ganz eigene Rhetorik, wie bereits in ersten Annährungen zur Rhetorik bei Platon17 festgehalten wurde: So lassen sich nach Livio Rossetti bei Sokrates bestimmte, immer wiederkehrende Muster rhetorischer Techniken ausmachen; die gute Vorarbeit von Rossetti liefert jedoch keine konkrete Besprechung an Textpassagen18. Dazu gehören zum Beispiel der extensive Gebrauch von Beispielen und Analogien sowie die Methode des immer gleichen, aber auch mehrmals verwendeten Beispiels. Weder die Strategien und rhetorischen Techniken und Figuren, die Sokrates anwendet, noch die Reaktion der Gesprächsteilnehmer auf die Unterredung mit Sokrates sind bisher ausreichend systematisch berücksichtigt worden.
Interessant ist, dass seine auffällige Rhetorik in der Rezeption des Sokrates19 eine eher untergeordnete Rolle spielt und auch seine besondere Art der Gesprächsführung unter rhetorischen Aspekten keine große Berücksichtigung fand. Als eventuelle Erklärung dafür ließe sich die Tatsache anführen, dass bei der Analyse der Dialoge unter rhetorischen Gesichtspunkten vornehmlich die täuschende Rhetorik der Sophisten in den Blick genommen wurde und Sokrates’ eigene Rhetorik darüber vergessen wurde20; ein weiterer Grund liegt nach Michael Erler darin, dass der Kritik an der Rhetorik durch Platon ein so großer Platz eingeräumt und so der praktische Aspekt vernachlässigt wird21.
Eine Arbeit, die die verunsichernde Wirkung des Sokrates auf der einen, und die Darstellung der Verunsicherung bei Platon auf der anderen Seite erfassen will, muss sich neben den in den Texten verwendeten Begriffen auch grundsätzlich mit der aktuellen Terminologie zur Beschreibung dieses ‚Zustandes‘ der Verunsicherung befassen.
Verunsicherung wird kognitiv22 vermittelt; das heißt, die jeweils betroffene Person aktualisiert das Wissen über das ihm eigene Wissen oder sein Selbstbild. Das Ergebnis dieser Aktualisierung kann dann eine Verunsicherung zur Folge haben. Versteht man Verunsicherung als subjektiv-psychische und kognitive Erfahrung, kann sie zu den Gefühlen gezählt werden, die als interne Zustände oder Prozesse charakterisiert und als psychische, zentralnervöse, wie peripher körperliche Phänomene beschrieben werden23. Die Arbeit geht daher von dem Phänomen der Verunsicherung als ‚Gefühl‘ aus, mit dem auch weitere affektive Erregungen einhergehen.
Im Folgenden wird der Begriff ,Gefühl‘ verwendet und als Synonym zu ‚Emotion‘ und ‚Affekt‘ verstanden24; eine Unterscheidung zwischen ‚Emotion‘ oder ‚Affekt‘ wird nicht getroffen25. Der in der vorliegenden Arbeit verwendete Begriff ,Gefühl‘ umfasst somit alle affektiven Zustände26. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Begriffsdefinitionen und Theorien zur Unterscheidung affektiver Vorgänge, die sowohl in den Geisteswissenschaften als auch den Naturwissenschaften diskutiert werden, kann in dieser Arbeit nicht erfolgen27.