Zerrissenes Bewusstsein
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Zerrissenes Bewusstsein

Der Intellektuellendiskurs im modernen Japan

  1. 714 Seiten
  2. German
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Zerrissenes Bewusstsein

Der Intellektuellendiskurs im modernen Japan

Über dieses Buch

Anfang der 1920er Jahre, ausgelöst durch das Aufkommen einer sozialistischen Bewegung nach der russischen Oktoberrevolution, entstand in Japan ein Diskurs über die sozialpolitische Rolle des Intellektuellen, der sich bis in die 1970er Jahre hineinzog. Angeführt wurde er von marxistisch und humanistisch orientierten Literaturkritikern und Schriftstellern, die sich Fragen nach der sozialen Verantwortung der Literatur und der diesbezüglichen Rolle der Intelligenz stellten. Der japanische Intellektuellenbegriff ist im Rahmen dieses Diskurses vor dem geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontext sukzessiv neu geformt worden. Er ist Zeugnis einer steten Auseinandersetzung, gespiegelt in differenzierten Begriffen, was ein Intellektueller sei, und welchen Platz dieser in der Gesellschaft einnehmen solle.
Anhand einer Diskursanalyse repräsentativer Debatten zwischen 1920 und 1970 unter Einbezugnahme von Bourdieus Theorie des literarischen Feldes wird die Entwicklung, die Rolle und die Selbstwahrnehmung des modernen japanischen Intellektuellen in der Zwischen- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts gezeichnet und ein Profil des Schriftstellers als Intellektueller definiert.

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Information

1Einleitung

Räsonniert, soviel ihr wollt,
und worüber ihr wollt;
nur gehorcht!
(Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?)

1.1Prolog

Das Thema dieses Buches ist die Selbstwahrnehmung und die Rolle des japanischen Intellektuellen in der Zwischen- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Das Grundmerkmal des Intellektuellen ist die kritische Reflexion. Diskussionen von Intellektuellen über ihre Rolle und soziale Verantwortung treten deshalb in der Regel in Krisen- und Übergangszeiten auf. Dann gibt es am meisten zu diskutieren. Der Intellektuelle ist somit ein Symptom gesellschaftlicher Widersprüche. Er zeichnet sich aber nicht lediglich durch seine Reflexion über die äußere Welt, sondern auch durch den Umstand aus, dass er sich selbst in Verbindung zu dieser zu bringen versucht und sein Denken und Handeln hinterfragt, oder, um ein Albert Camus zugeschriebenes Zitat zu gebrauchen: „Ein Intellektueller ist ein Mensch, dessen Geist sich selbst beobachtet“ (l’intellectuel est quelqu’un dont le cerveaux s’absente lui-même).1 Die Reflexion vollzieht sich auf einer Skala mit zwei Polen, von denen beide sich sowohl konstruktiv als auch destruktiv auswirken können: Am einen Pol steht die Reflexion über die Gesellschaft. Negativ kann sie zu einer einseitigen Kritik ohne Gegenmodell werden. Positiv kann sie jedoch zur Artikulation und oft auch zum Voraussehen von Krisen und Missständen, zu einem „Korrektiv der politischen Entscheidungsmaschinerie“ (Parsons/Platt 1990: 352; zit. nach Franzmann 2007: 535) oder zur Formulierung von politischen Utopien führen: Einer als unbefriedigend empfundenen Wirklichkeit wird das Bild einer besseren Gesellschaft entgegengesetzt (Saage 1991: 2). Jede Utopie hat, wie Norbert Elias betont, die „Funktion einer Mitteilung; sie stellt die Kommunikation des Verfassers mit anderen Menschen dar […]“ (Elias 1985: 105). Utopien sind deshalb nicht, wie gemeinhin behauptet, illusorische Phantasien, sondern stets „appellierend“ und fordern zur Handlung auf. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, die Menschen seien selbstbestimmend in der Lage, diejenige Gesellschaft zu gestalten, in der sie ein gutes Leben führen können (vgl. Krings/Baumgartner Hg. 1974: 1571). Am anderen Ende der Skala steht die Reflexion über die eigene Rolle und Funktion in der Gesellschaft. Negativ verliert sie sich in einer selbstverneinenden und -boykottierenden Selbstsezierung. Positiv kann sie aber zu einer Veränderung des eigenen Verhaltens führen und auf diese Weise – wenn die Reflexion kommuniziert oder sichbar wird – den Rezipienten zum Nachdenken und in der Folge zum Handeln verleiten. Der Intellektuelle ist deshalb nicht lediglich ein Symptom gesellschaftlicher Widersprüche, sondern zugleich auch deren mögliches Heilmittel: Durch Reflexion trachtet er danach, diese Widersprüche zu überwinden, indem er idealerweise bereit ist, dafür auf seine eigenen Privilegien zu verzichten und sich in dieser Hinsicht „selbst abzuschaffen“.
Wie manifestiert sich in Japan intellektuelle Reflexion und wo auf dieser Skala stehen die japanischen Intellektuellen? Dies ist das Thema der folgenden Abhandlung, wobei ich mich insbesondere mit der zweiten Ausprägung beschäftigen möchte: dem Nachdenken über die eigene Rolle in der Gesellschaft. Im Zentrum steht deshalb die Diskussion über den Begriff, die Aufgabe und die Funktion des Intellektuellen. In Japan gibt es für diese Art des selbstreflexiven Diskurses eigens einen Begriff: chishikijin ron.2 Es handelt sich hierbei um ein wichtiges Diskussionsthema der japanischen Moderne, das insbesondere in der Zwischen- und Nachkriegszeit intensiv ausgehandelt wurde und – nebst der Auseinandersetzung mit Fragen der Moderne/Tradition und der eigenen Besonderheit (Nihonjinron) – der Themengruppe „kulturelle und gesellschaftliche Selbstwahrnehmung“ zugeordnet werden kann. Es wird zuweilen gar argumentiert, es handle sich um ein in Japan einmalig vieldiskutiertes Sujet (Takagi 1948: 31).
Durch eine begriffs- und diskursgeschichtliche Untersuchung der kontinuierlichen Aushandlung des Intellektuellen in der Zwischen- und Nachkriegszeit kann die Selbstwahrnehmung der japanischen Intelligenz über einen längeren Zeitraum nachverfolgt und auf diese Weise ein wichtiger Aspekt der japanischen Geistesgeschichte in einem neuen Licht betrachtet werden. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich in erster Linie um eine historische Aufarbeitung des japanischen Intellektuellendiskurses, welche die Basis für weiterführende Untersuchungen bereitstellen soll, und nicht um eine ideologische oder wertende Behandlung der Thematik. Es wurde versucht, die Auswahl der Teildiskurse, der Quellentexte und der Akteure möglichst objektiv zu halten und statistisch zu untermauern. Die Auswahlkriterien waren hierbei Qualität, Quantität und Kontinuität. Eine Fokussierung auf Texte von Literaten und Literaturkritikern (ca. 80%) und Sozialwissenschaftlern (ca. 20%) ergab sich statistisch: Ein Großteil der Teilnehmer des selbstreflexiven Intellektuellendiskurses der Zwischen- und Nachkriegszeit bestand aus Schriftstellern oder Literaturkritikern.
Eine Untersuchung der Thematik unter den oben formulierten Aspekten hilft, die Frage zu beantworten, inwiefern Japan über Intellektuelle und Gesellschaftskritiker verfügt, die über Wissen und Vorstellungen neue Ideen einbringen oder Kritik an bestehenden Verhältnissen respektive dem Establishment üben, um entweder die Gesellschaft weiterzubringen oder Katastrophen zu verhindern, und welche Rolle die Literatur für die Anleitung zu intellektuellem Handeln spielt respektive – in der Zwischen- und Nachkriegszeit – spielte.

1.2Ausgangslage: Japan 1966: Sartres „Plaidoyer pour les intellectuels“

1966 bekam Jean-Paul Sartre eine Einladung nach Japan. Dort hielt er seine bekannte Vortragsreihe „Plaidoyer pour les intellectuels“3 (dt. Plädoyer für die Intellektuellen, 1966), eine der bis heute systematischsten Begriffsbestimmungen des modernen Intellektuellen. In den drei Referaten, die eine bemerkenswerte Hörerschaft hatten, unternahm Sartre eine Rehabilitierung des Intellektuellen und forderte die japanische Bildungsschicht zum Engagement auf. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Sartre seinen ursprünglich geplanten Vortragsgegenstand – er wollte über Theater und Literatur sprechen – kurz vor seiner Abreise geändert hatte. Dies beruht nach Selbstaussagen auf seiner Einsicht, dass das Sujet in Japan heftig diskutiert werde und sich die Intellektuellen in Frankreich und in Japan mit denselben Problemen konfrontiert sähen (Sartre u. a. 1980b [1966]: 57). Sartres „Plädoyer“ bildet einen letzten theoretischen Höhepunkt der von ihm geprägten littérature engagée, welche der Literatur eine sozialpolitische Aufgabe zuschreibt.
Sartres Theorie kann auf zwei Hauptaussagen komprimiert werden (vgl. Sartre 1995b [1972]); diese bilden die übergeordneten Hypothesen für die Problemstellung der folgenden Arbeit:4 Die erste betrifft die Definition des Intellektuellen als Widerspruch zwischen Ideal und Realität, was ich hier anlehnend an Sartre als „zerrissenes Bewusstsein“ (conscience déchirée) bezeichnen möchte: Der Intellektuelle, den Sartre technicien du savoir pratique (Techniker des praktischen Wissens) nennt, ist charakterisiert durch ein Bewusstsein des Konflikts zwischen seinen universalistischen Forschungsmethoden und der partikulären Anwendung derselben. Er steht in ständigem Widerspruch zwischen seinem Denken (Idealen) und der Realität. Um seine Zerrissenheit zu überwinden, muss er sich selbst verneinen und sich mit den benachteiligten Klassen solidarisieren. Erst wenn er dies tut, wird er zu einem wahren Intellektuellen (vrai intellectuel). Ignoriert er seinen Widerspruch, ist er entweder ein apolitischer, passiver Intellektueller oder, wenn er seine Arbeit aktiv in den Dienst der machthabenden Klasse stellt, ein falscher Intellektueller (faux intellectuel).
Die zweite Hauptaussage von Sartres Theorie ist eine sprachphilosophische Engführung des Schriftstellers zum Prototypen eines Intellektuellen: Der Schriftsteller ist Sartre zufolge der einzige Kulturschaffende, der innerhalb seines beruflichen Mediums respektive der Sprache gesellschaftliche Widersprüche überwinden und zu einem Intellektuellen werden kann. Er kann sich mit seinen Texten sowohl in politisch-gesellschaftliche als auch kulturelle Anliegen einmischen, ein breites Publikum erreichen und die öffentliche Meinung maßgeblich beeinflussen. Der Schriftsteller ist seinem Wesen nach Intellektueller, da ihm die Aufgabe zukommt, die Totalität der ihm inhärenten Welt (Partikularität) zu veräußerlichen (universalisieren).
Die drei Referate wurden mit erstaunlicher Geschwindigkeit ins Japanische übersetzt und veröffentlicht; sie riefen in der Folge eine rege Debatte über die Aufgabe des Intellektuellen hervor, die sich bis weit ins Jahr 1967 erstreckte und an der sich führende Vertreter der zeitgenössischen japanischen Intelligenz – darunter insbesondere Schriftsteller, Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler, aber auch Soziologen, Politikwissenschafter und Naturwissenschaftler – beteiligten. Die Reaktionen auf die Vorträge waren deshalb so heftig, weil sie den Nerv der Intellektualität trafen: Die Frage nach der gesellschaftspolitischen Verantwortung des Intellektuellen und innerhalb davon insbesondere des Schriftstellers.
Sowohl Inhalt als auch Akteure und Reaktionen auf Sartres Vorträge verdeutlichen exemplarisch verschiedene Problemfelder des Begriffs „Intellektueller“ und des „Intellektuellendiskurses“ als solchem. Erstens die Vagheit und semantische Fülle des Begriffs: Das Wort „Intellektuelle/r“ bezeichnet einerseits einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen, denen bestimmte Eigenschaften zukommen oder zugesprochen werden, die, je nachdem, von welchem (politischen oder ideologischen) Lager diese Eigenschaften definiert werden, unterschiedlich ausfallen können. Andererseits bezeichnet der Begriff das Ideal, das Wesen oder die Funktion dieses Menschen respektive die Eigenschaft „Intellektualität“ als solche. Aufgrund der Unschärfe des Begriffs, auf den Maruyama Masao (1914–1996) hinweist, beginnen die meisten Abhandlungen über die Intellektuellen mit der Frage, was ein Intellektueller denn nun eigentlich sei (Maruyama 1996b [1977]: 223; dt. 89). In diesem Zusammenhang ist eine Aussage des Sartre-Spezialisten Suzuki Michihiko (*1929), mit dem ich 2008 in Japan ein Interview führte, bemerkenswert: Ihm zufolge gab es, wie er in einem weiteren, publizierten Interview mit dem Sartre-Spezialisten Sawada Nao (*1955) über Sartres Japan-Besuch rückblickend betonte, in Japan bis 1966 keinen Begriff des „Intellektuellen“ im Sartreschen Sinn:
Sartre’s lectures revealed that there was no such term as „intellectual“ (chishikijin) in Japanese at that time. There was, of course, the term „intelligentsia“ (interigencha). But the „intellectual“ that Sartre meant was called rather „shinpoteki bunkajin“, meaning a progressive and cultured person. In other words, „intellectuals“ and „cultured men“ were regarded as the same thing.
(Suzuki/Sawada 2011: 189)
Da Sartres Definition des Intellektuellen begriffsgeschichtlich eng an das französische, auf die Aufklärung und insbesondere die Dreyfus-Affäre zurückgehende Verständnis anknüpft, bedeutet dies, dass in Japan unter dem Ausdruck chishikijin, zumindest bis ins Jahr 1966, etwas anderes verstanden wurde als unter dem französischen Wort les intellectuels. Um diese Interpretation von Suzukis Zitat zu verifizieren, sprach ich ihn darauf an, worauf er seine Aussage wie folgt präzisierte:
Le mot intellectuel en français a plusieurs sens, mais depuis l’Affaire Dreyfus, on appelle parfois les intellectuels ceux qui s’opposent au pouvoir et qui contestent l’injustice sociale ou politique. Jusqu’aux conférences de Sartre, ce sens n’existait pas dans le mot chishiki-jin en japonais. „Chishiki-jin“ était simplement considéré comme quelqu’un qui est cultivé, qui a beaucoup de connaissances.
(Suzuki, Email vom 2. Nov. 2010)
Suzuki zielt also darauf ab, dass das Wort chishikijin in Japan nicht zur Bezeichnung eines Gesellschaftskritikers, sondern lediglich einer Bildungsschicht verwendet wurde. Auch der Philosoph und Sartre-Spezialist Takeuchi Yoshirō (*1924) soll nach den Vorträgen konstatiert haben, dass sich Sartres Begriff des „Intellektuellen“ erheblich vom japanischen unterscheide (vgl. Suzuki/Sawada 2011: 189). Die in Abb. 1 aufgeführten Einträge im Wörterbuch Nihon kokugo daijiten stützen diese Interpretation, wobei nicht nur die in Suzukis Zitat verwendenten Termini chishikijin, bunkajin und interigencha, sondern zwei weitere, im Diskurs häufig verwendetete Ausdrücke mitaufgeführt wurden, nämlich interi (Intelli) und chishiki kaikyū (Intelligenz-Klasse).
Abb. 1: Kurzdefinition der fünf wichtigsten japanischen Intellektuellentermini Quelle: Nihon kokugo daijiten (2003)
Mit Ausnahme des Lexems bunkajin zeigt Abb. 1, dass interigencha, interi, chishiki kaikyū und chishikijin im Wörterbuch Nihon kokugo daijiten weitgehend gleichbedeutend definiert werden. Die vier Wörter werden definiert als eine Klasse mit Bildung respektive eine Schicht von Geistesarbeitern. Der Intellektuelle als Systemkritiker und Verfechter von universalistisch-humanistischen Idealen, wie er im europäischen, insbesondere französischen Begriffsverständnis prominent ist, findet hier keine Entsprechung.5 Einträge in japanischen Enzyklopädien (s. Kapitel 3) bestätigen dieses Bild weitgehend. Zwar wird in ihnen auf das gesellschaftskritische Moment des Intellektuellen hin gewiesen, dies allerdings fast ausschließlich mit Bezug auf den europäischen Diskurs, unter Vernachlässigung des japanischen.
Wenn die fünf Termini, wie es das Wörterbuch Nihon kokugo daijiten nahelegt, nun aber gleichbedeutend sind, dann stellt sich die Frage, weshalb es verschiedene Wörter hierfür braucht und weshalb Begriffsverschiebungen und Ablösungsprozesse stattfanden. Diese werden auf Abb. 2 deutlich, einer Titelrecherche der fünf Termini in Zeitschriftendatenbanken.
Abb. 2: Titelrecherche der fünf wichtigsten japanischen Intellektuellentermini in Zeitschriftendatenbanken (1910–1995)
Quelle: 1. (1868–1948): Zasshi kiji sakuin shūsei dētabēsu (The Complete Database of Magazine and Periodicals from the Meiji Era to the Present); 2. (ab 1949): Kokuritsu Kokkai Toshokan zasshi kiji sakuin (Zeitschriftendatenbank der japanischen Nationalbibliothek)6
Abb. 2 zeigt auf, dass in den 1920er-Jahren die Ausdrücke chishiki kaikyū und interigencha klar dominieren. Ende der 1920er-Jahre kommt allmählich der Ausdruck interi in Gebrauch. In den 1930er-Jahren kommen die beiden Termini chishikijin und bunkajin auf. Nach 1945 beherrscht chishikijin das Begriffsfeld, während chishiki kaikyū und interigencha praktisch außer Gebrauch kommen.7 Chishiki kaikyū und chishikijin finden weitaus am häufigsten Verwendung, wobei sich hierbei e...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Intelligenzija, Intelligenz und die Intellektuellen – eine Verortung des russischen, marxistischen und französischen Intellektuellenbegriffs
  7. 3 interigencha, chishiki kaikyū und chishikijin – eine Verortung des japanischen Intellektuellenbegriffs
  8. 4 Vorgeschichte – Die Herausbildung des modernen Intellektuellen in der Meiji-Zeit
  9. 5 Das überflüssige Bewusstsein – die Debatte um Arishima Takeos „Ein Manifest“ oder die Intelligenz und das Proletariat
  10. 6 Das ratlose Bewusstsein – die Aktionsliteraturdebatte und die „Auferstehung“ des Intellektuellen
  11. 7 Das subjektive Bewusstsein – die Intellektuellendebatte der Nachkriegszeit oder der altruistische und der egoistische Intellektuelle
  12. 8 Das einsame Bewusstsein – die Debatte um Sartres „Plädoyer für die Intellektuellen“
  13. 9 Ausblick: Der japanische Intellektuellendiskurs nach 1968
  14. 10 Von Arishima bis Sartre – Zusammenfassung, Resultate, Fazit
  15. Literaturliste
  16. Index
  17. Fußnoten