Heterotopie als Textverfahren
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Heterotopie als Textverfahren

Erzählter Raum in Romantik und Realismus

  1. 292 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Heterotopie als Textverfahren

Erzählter Raum in Romantik und Realismus

Über dieses Buch

Im Zuge des 'Spatial Turn' entwickelt insbesondere das Konzept der Heterotopie nach Michel Foucault literaturwissenschaftliche Prominenz. Der motivische Ausweis solcher 'anderen Räume' jedoch bleibt dabei hinter einer tatsächlichen Übertragung in das literaturwissenschaftliche Paradigma der Textualität zurück.

Dementsprechend beschreibt das vorliegende Modell die Heterotopie im Anschluss an Roman Jakobsons Zwei-Achsen-Theorie (1) als epochenübergreifendes Verfahren einer paradigmatischen Abweichung, um (2) epochenspezifische Variationen am Beispiel romantisch-metaphorischer respektive realistisch-metonymischer Raumlogiken zu erfassen. Vor diesem Kontrast erweist sich die Heterotopie in ihren jeweiligen Ausprägungen zugleich als Reflexionsraum, der die Parameter des Textes aufzeigt, innerhalb dessen er entworfen wird.

Die Modellierung 'anderer Räume' als epochenübergreifendes Textverfahren präzisiert damit zum einen den so ubiquitär wie dehnbar verwendeten Heterotopiebegriff und führt diesen einer trennscharfen Anwendbarkeit zu. Zum anderen stellt der Blick auf Heterotopien vice versa die jeweilige Erzähllogik heraus, in deren Rahmen der erzählte Raum motivunabhängig als 'anderer Raum' konstruiert ist.

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Information

Jahr
2016
ISBN drucken
9783110471922
eBook-ISBN:
9783110475234

1Begriffsgeschichtliches

In seine sechste Auflage nimmt der Duden 2007 das Lemma »Heterotopie« auf.1 Mit der medizinischen sowie der geologischen Bedeutung werden die hauptsächlichen Verwendungen dieses Terminus aufgeführt, dessen Begriffsgeschichte noch zu schreiben wäre. Während die Geologie solche Stoffe als heterotopisch bezeichnet, die sich an verschiedenen Orten (Sedimentationsgebieten) gebildet haben, bezieht sich die Heterotopie im gegenwärtigen medizinischen Gebrauch auf einen physiologischen Vorgang oder Gewebe an untypischer Stelle. So wird die orthope von der heterotopen Herztransplantation unterschieden. Dabei bezeichnet erstere den Ersatz des alten durch ein Spenderherz, wohingegender heterotope Eingriff darin besteht, an das eigene Herz des Patienten ein Spenderherz anzukoppeln. Das zusätzliche Herz bildet, seiner untypischen Lage neben dem eigentlichen Herz entsprechend, eine Heterotopie.2 Analog dazu beschreibt die heterotope Schwangerschaft das »gleichzeitige Auftreten einer intrauterinen und extrauterinen Gravidität«, also die simultane Befruchtung jeweils einer Eizelle innerhalb sowie außerhalb des Uterus.3 Die Beispiele lassen sich über Pankreasheterotopien (Bauchspeicheldrüsengewebe beispielsweise im Magen)4 und heterotope Ossifikation (Knochenbildung an falscher Stelle)5 weiterführen.
Während die Erstverwendung uneinheitlich auf Ernst Haeckel [1866],6 Rudolf Virchow [1867]7 oder Edmund Mojsisovics [1897]8 zurückgeführt wird, findet sich der Begriff nicht nur bei Virchow schon 1858,9 also deutlich vor Haeckel, sondern auch bereits 1843 in Walter Hayle Walshes The Physical Diagnosis of Diseases of the Lungs10 sowie 1849 in Chapin A. Harris’ Dictionary of Dental Science. Biography, Bibliography and Medical Terminology.11 Ob es sich hierbei um die terminologischen Ursprünge handelt, wäre noch zu klären. Bezeichnend scheint aber, dass trotz nachweislichem Gebrauch in verschiedenen Diskursen Thorsten Arwidsson sich noch 1938 wiederum auf die spätere Quelle Mojsisovics bezieht und feststellt:
Doch scheint das Wort so gut wie unbekannt zu sein und hat sich nicht in der Literatur eingebürgert. Es liegt offenbar kein Anlaß vor, in der Botanik und Pflanzengeographie das Wort heterotop zu verwerfen.12
Diese Einschätzung ist umso erstaunlicher, als es schon ein halbes Jahrhundert zuvor in Meyers Konversationslexikon heißt:
Wenn man alle bekannten Formen der abnormen Behaarung (Hypertrichosis) zusammenstellt, so lassen sie sich einteilen 1) in solche, welche sich an einem in der Norm unbehaarten Körperteil finden (Heterotopie), 2) in solche, welche an einem in späterer Zeit behaarten Teil vor der normalen Zeit auftreten (Heterochronie), und 3) in solche, welche bei Frauen an Stellen sich entwickeln, welche zur selben Entwickelungsperiode beim andern Geschlecht behaart sind (Heterogenie).13
Womit Arwidsson jedoch Recht behält ist, dass sich die Karriere des Begriffs entfaltet, als die hier angesprochene hohe Adaptierbarkeit entdeckt wird. So entwirft Josh Kun für die Musikwissenschaft das an der Heterotopie orientierte Konzept der Audiotopie. Gemeint sind sowohl der Klangraum als auch die über Musik organisierte Vergesellschaftung, die jeweils heterogene Kulturen verbinden und »new maps for re-imagining the present social world«14 erschließen. Motivisch verfährt Anna Piotrowska, die Zigeuner im romantischen Ballett an Heterotopien als »forbidden expanse operating outside the typical bounds of European culture«15 geknüpft sieht. Und Philip Bohlman bezieht das Konzept auf die Weltmodelle in jüdischer Musik, um die »Heterotopie der jüdischen Diaspora«16 entgegen Foucault zwischen Utopie und Dystopie zu verorten; gemeint sind hier das utopische Israel sowie die Dystopie des Holocaust.
Emma Bell und Scott Taylor wiederum beschreiben die Reaktionen der Apple Fangemeinde, nach dem Tod von Steve Jobs lose installierte Trauerorte einzurichten, als heterotope Praxis. Die Aufladung vor allem von Apple Stores mit einer Präsenz des Todes, »sacred meaning and significance« bringe einen heterotop aufgeladenen und ambigen Ort hervor, »where fear and hope were articulated simultaneously«.17 Diese Verbindung gegensätzlicher Orte profitiere dabei vom bereits etablierten Schwellencharakter der Stores, in denen sich materielle und virtuelle Realität begegnen.
Neben solchen etwas eigenwilligen Modifikationen finden sich ›klassische‹ Lesarten wie die Peter Sloterdijks, der Foucaults Konzept unverändert lässt und für einen Blick auf die Universität nutzt. Dieser »Raum der akademischen Heterotopie« fungiere als Ort der radikalen Meinungsfreiheit und des geistigen Aufenthalts in der Imagination; zudem werde die Vergangenheit »in eine Art virtuelle Gegenwartslinie eingerückt«.18 Aus architektonischer Sicht wiederum grenzt Marc Angélil heterotope von homotopen Konstruktionen ab; die Heterotopie als beabsichtigter baulicher Effekt entsteht »by the linking together of incongruous and inappropriately related elements of construction«.19 Undwenn Bertrand Lefebvre und Audrey Bochaton den Medizintourismus im mittleren Osten betrachten, finden sie sich mit den untersuchten Kliniken in Bangkok ganz in der Nähe von Foucaults eigenen Beispielen. Die werbetechnische Herausforderung, Exotik, Erholungund einen chirurgischen Eingriff als Wellness zu verkaufen, konstruiert eine Heterotopie: »The whole experience emulates ›a realized utopia‹.«20 Genauso richtet der ›Dark Tourism‹ sein Interesse bevorzugt auf solche Orte, die sich als Heterotopie beschreiben lassen (man denke an historische Friedhöfe21 oder Tschernobyl22), sodass Foucaults Konzept im entsprechenden Forschungsdiskurs häufig vertreten ist.
Mary Jane West-Eberhard wiederum begreift die Heterotopie aus evolutionsbiologischer Perspektive als »evolutionary change in the site of expression of a phenotypic trait«.23 Gemeint ist beispielsweise der Transfer heller Blumenpigmente von ursprünglichen Blütenblättern auf normale Blätter, die in der Folge auch in ihrer Form Blüten imitieren.24
Das begriffliche und konzeptuelle Feld also ist ausgesprochen weit. Beim Vorangehenden kann es sich dabei um kaum mehr als Stichproben handeln. Dies zeigt sich bereits daran, dass Projekte wie die englischsprachige kommentierte Bibliographie auf heterotopiastudies.com trotz über 250 Titeln zur Heterotopieforschung über keinen einzigen der in der vorliegende Studie angebrachten verfügt und begriffsgeschichtliche Fragen ohnehin ganz außer Acht lässt (Stand März 2016).25 Allein die thematische Sortierung gibt einen Ausblick darauf, wie divers Begriff und Konzept in verschiedensten Modifikationen verbreitet sind. Dementsprechend listet die Bibliographie die Heterotopie als Zugang in den Bereichen »Art and Architecture«, »Communication, Film and Media Studies«, »Death Studies«, »Digital and Cyberspace Studies«, »Education and Health Studies«, »Gender, Sexuality and Queer Studies«, »Literature«, »Marketing and Tourism«, »Museum and Library Studies«, »Political Geography«, »Urban Studies«, »Religion«, »Theatre, Performance, Music«, »Miscellaneous Places and Spaces«.26
Dass der Duden mit der siebten Auflage 2011 auch Foucaults Version der Heterotopie aufnimmt, bildet die nach wie vor steigende Prominenz des Begriffs ab.27 Dies entspricht auch der Vermutung Foucaults, als er das medizinische Konzept auf die Philosophie überträgt. Der Raum insgesamt sei »die bedrängendste aller Metaphern«,28 schreibt Foucault mit Blick auf die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und verbildlicht damit zugleich seinen eigenen Denkstil. Die Metapher des Raums ist von Beginn an die Matrix, auf der er die Begriffe seines permanent runderneuerten Theoriegebäudes ordnet und mit jeder Studie umsortiert. In der Rede vom ›raumgreifenden Wuchern der Diskurse‹ oder vom ›Ausschluss‹ werden Relationen sichtbar und lassen sich Dinge erklären, von denen Foucault selbst sagt, sie seien unaussprechlich. Die lyrisierende Raummetaphorik ist vielleicht die einzige tatsächliche Konstante in Foucaults Denken, sie erklärt Verhältnisse – oder rangiert den Leser elegant in eine Textur des vollkommen Unverständlichen, sozusagen über die »Grenze unserer Sprache: Sie bezeichnet den Rand der Gischt desjenigen, was auf dem Sand des Schweigens gerade noch in Reichweite ist.«29 In den unzähligen Projekten ist die Konzeptualisierung als Ort, Objekt oder Ausdehnung im Raum das zentrale Beschreibungsverfahren, mit dem sich von dem sprechen lässt, was sich als das jeweils Andere von Sprache, Diskurs und Vernunft erweist. So heißt es auch in der Geburt der Klinik bezeichnend: »In diesem Buch ist die Rede vom Raum.«30
Der Rede vom Raum widmet sich auch die vorliegende Untersuchung. Genauer gesagt der literarischen Rede vom Raum und der narrativen, textuellen Konstruktion fiktiver Räume. Die Fragestellung steht dabei in einer Forschungstradition, die unter dem bereits erwähnten weiten Begriff des ›Spatial Turn‹ firmiert. Die ohnehin erst rückwirkende Ausrufung dieser Perspektive, deren ›Turnhaftigkeit‹ Doris Bachmann-Medick orientiert an Kuhns Paradigmenbegriff anzweifelt,31 greift jedoch zu kurz. Hatte Jakob von Uexküll seine Raumtheorie in den 1910er Jahren entwickelt und nebenbei den modernen Begriff der ›Umwelt‹ erfunden, so datiert Georg Simmels Soziologie des Raums gar von 1903. Die Abwehrhaltung gegen eine so ›frühe‹ Datierung wie das Jahr 1967, als Foucault in seinem Heterotopie-Essay die ›Epoche des Raums‹ ausruft, erscheint aus diesem Blickwinkel eher als Marketingstrategie.32 Es wäre damit eben alles doch nicht so neu. Vielmehr ließe sich behutsam der Kompromiss formulieren, der Spatial Turn habe in den letzten zwanzig Jahren ein Selbstbewusstsein entwickelt, die Wende zum Raum ließe sich als Bündelung des schon Dagewesenen zu einem neuen Fokus begreifen. So hat sich der Spatial Turn durch intensive Selbstproblematisierung seit den 1990er Jahren nachhaltig ausdifferenziert und mit der Topoanalyse eines der führenden kultur- und literaturwissenschaftlichen Paradigmen etabliert.33 Im Zuge dessen befassen sich gerade die Humanwissenschaften ve...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Dank
  5. Inhalt
  6. 1 Begriffsgeschichtliches
  7. 2 Foucaults Heterotopien
  8. 3 Metapher und Metonymie
  9. 4 Diorama. Der romantische Raum
  10. 5 Wirkraum
  11. 6 Romantische Infektionsheterotopie
  12. 7 Vitrine. Der realistische Raum
  13. 8 Realistische Erinnerungsheterotopie
  14. 9 Romantische Reminiszenzen
  15. 10 Schluss
  16. 11 Abbildungsverzeichnis
  17. 12 Literatur
  18. 13 Personen- und Werkregister
  19. Fußnoten