Das einführende Kapitel geht der Frage nach, warum sich politische Agitationsliteratur in Romanform populärer Gattungen und Gestaltungsmittel bedient. Die entscheidende Spur zur Beantwortung dieser Frage findet sich in der Möglichkeit der gezielten Hervorrufung und Steuerung von Affekten, die durch die Schemata der Unterhaltungsliteratur gegeben ist. Diese populären Schemata lassen sich für politische Zwecke hervorragend instrumentalisieren, denn sie ermöglichen es, die beim Leser ausgelösten Affekte und Emotionen hin zur Umsetzung der politischen Agitationsziele zu kanalisieren, wodurch die wiederum schematischen Anweisungen der jeweiligen Partei realisiert werden können. Dabei korrespondiert die Verwendung von populären Schemata in der Literatur mit der grundlegenden Informationsverarbeitung und Wissensorganisation im menschlichen Gehirn, die ebenfalls durch Schemata gesteuert und effektiviert wird.
Im Rahmen dieses einführenden Kapitels soll daher zunächst ein Überblick über die kognitiven Grundlagen der mentalen Verarbeitung von Texten auf der Basis eines schematheoretischen Ansatzes erfolgen. Die Schematheorie geht ursprünglich auf die Kognitionswissenschaft und die Psycholinguistik zurück; ihre Ansätze werden erst seit kurzer Zeit durch interdisziplinär angelegte Forschungsprojekte für literaturwissenschaftliche Zusammenhänge dienstbar gemacht.
Die anschließende Präsentation des Zusammenhangs von Kognition, Sprache, Politik und Literatur ist essentiell, da sich daraus grundlegende Erkenntnisse zur Stereotypenbildung, beispielsweise zu Feindbildkonstruktionen oder zu Konstruktionen von Helden der eigenen politischen ‚Bewegung‘ ableiten lassen. Wie sich diese Stereotype jeweils manifestieren, soll im Rahmen der späteren Textanalyse anhand der spezifischen Personen- und Handlungskonstellationen der Romane nachgewiesen werden.
Neben den kognitiven Grundlagen der mentalen Verarbeitung von Texten werden die literarischen Strategien und Funktionsweisen populärer Schemata dargestellt, um sie als Instrumentarium für die konkrete Analyse in Kapitel 5 verwendbar zu machen.
Der letzte Abschnitt des einführenden Kapitels untersucht die behandelten Romane konkret auf Elemente populärer Gattungen und zeigt auf, dass eine eindeutige Gattungszuweisung schwierig ist. Hier stehen vor allem Elemente des Zeitromans und des Entwicklungsromans sowie abenteuerliterarische Elemente im Vordergrund, die im Rahmen der Agitationsliteratur der Weimarer Republik oft in eigentümlicher, versatzstückhafter Weise kombiniert wurden.
1.1Schematheoretische Grundlagen der mentalen Verarbeitung von Texten
Die wissenschaftlichen Grundlagen zur kognitiven Verarbeitung von Texten durch Schemata gehen auf Studien zurück, die Bartlett in den dreißiger Jahren durchgeführt hat12 und welche insbesondere von Kognitionswissenschaftlern und Psycholinguisten in den 1970er und 1980er Jahren weitergeführt bzw. ausgeweitet wurden.13 Norbert Groeben stellt als einer der Ersten mit seiner ‚Leserforschung‘ im deutschsprachigen Raum einen schematheoretischen Bezugsrahmen zur Erforschung von Lese- und Verstehensprozessen auch im Umgang mit literarischen Texten vor.14 Die interdisziplinäre Nutzbarmachung der kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse der Schematheorie für die Literaturwissenschaften findet verstärkt jedoch erst seit Beginn der 2000er Jahre statt. Somit ist dieser Bereich innerhalb der Germanistik ein relativ junges Forschungsfeld, das insbesondere im Rahmen der internationalen literaturwissenschaftlichen Forschung in letzter Zeit zahlreiche Beiträge zu den unterschiedlichsten Themenbereichen erfahren hat.15 Zu den wegweisenden Veröffentlichungen zählen dabei Peter Stockwells allgemeine lehrbuchartige Einführung Cognitive Poetics sowie für den Bereich der Lyrik bzw. Metrik Reuven Tsurs Toward a Theory of Cognitive Poetics.16 Martin Huber und Simone Winko, welche einen guten aktuellen Überblick zum gegenwärtigen Stand des Arbeitsfeldes liefern, betonen, dass sich die interdisziplinären Studien zum Zusammenhang von Literatur und Kognition ihrerseits selbst auf ein interdisziplinäres kognitionswissenschaftliches Forschungsfeld beziehen:
Die Bezugstheorie ist besonders heterogen, wird doch mit dem Begriff „menschliche Kognition“ so Unterschiedliches bezeichnet wie Einstellungen, Emotionen, Wille, kognitive Fähigkeiten vom Sprechen bis zum Problemlösen und deren neuronale Grundlagen. Kognitionswissenschaftlich orientierte Sprach- und Literaturwissenschaftler müssen also klären, worauf sie sich genau beziehen, und hier sind es in der Regel Annahmen über die Funktionsweisen der menschlichen Informationsverarbeitung, die importiert werden […].17
Die nützlichen Funktionen, die Schemata für die Literaturwissenschaft einnehmen können, liegen dabei vor allem darin, die Vorgänge zu erhellen, die bei der Produktion wie Rezeption von literarischen Texten wirksam werden, sowie den Einsatz von textexterner Information, sogenanntem Weltwissen, zur Verarbeitung von Literatur zu klären.
Die Schemata gelten generell als Modell mentaler Repräsentationen und umfassen das „Wissen über typische Zusammenhänge von Realitätsbereichen“18. Sie bestehen aus Konzepten die „nach Allgemeinheitsgrad ihrer Begriffe hierarchisch geordnet sind“19 und sind dabei Voraussetzung und Ergebnis des Wissenserwerbs zugleich, d. h. die Informationsaufnahme und die Konstruktion von Bedeutung werden auf schematischer Grundlage gesteuert und dadurch erleichtert. Dass Schemata die zentralen Bausteine der menschlichen Kognition darstellen, betont Rumelhart, indem er sie als „building blocks of cognition“20 bezeichnet. Jeder Mensch hat also Vorstellungen von Standardsituationen oder -vorgängen in seinem kognitiven Netz als abstraktes Strukturkonzept abgespeichert. Diese abstrakten Konzepte besitzen Variablen, auch Leerstellen oder Slots genannt, die dann im Verarbeitungsprozess abhängig von der konkreten Situation gefüllt werden:
Diese hierarchischen Konzeptorganisationen weisen Leerstellen auf (sog. slots), die lediglich Beschreibungen über typische Belegungen enthalten, die im Zuge der Informationsaufnahme entweder durch konkrete Informationen gefüllt oder durch hypothetische Konzepte besetzt werden können. Im Verarbeitungsprozess lenken sie die Aufmerksamkeit auf schemarelevante Information, erleichtern die Integration und Interpretation neuer Informationen und steuern in der Abrufphase die Rekonstruktion gespeicherten Wissens.21
Damit reduzieren Schemata Komplexität, organisieren Einzelheiten zu Gesamtheiten und garantieren eine ökonomische Verarbeitung von Informationen. Schemata erleichtern so unter Umständen die Kommunikation mit anderen, weil sie auf intersubjektiv vergleichbaren, mentalen Wissensrepräsentationen aufbauen. Auch Autoren profitieren davon, sich auf Schemata zu beziehen, denn diese dienen der Erzählökonomik und stärken das Bewusstsein des Lesers für Normabweichungen:
Readers’ use of schemas provides at least two benefits to authors. First, as we have noted, schemas allow them to delineate a scene with quick gestures. Once, for example, a restaurant scene has been minimally set, waiters, clattering trays, and wandering violinists can be addressed with little cognitive cost. Second, schemas allow authors to call quiet attention to departures from the norm. It is not, for example, an ordinary event to be served food in a restaurant that one has not ordered. Readers’ use of the restaurant script enables them to notice this departure from the ordinary.22
Schemata beeinflussen so einerseits im Sinne von selektiv gesteuerter Wahrnehmung und Interpretation die Rezeption neuer Textinformation, andererseits determinieren die der Textinformation unterliegenden Schemata wiederum den Rezeptionsprozess des Lesers. Es ergibt sich also eine wechselseitige Bedingtheit von Rezeptions- bzw. Lesestrategien und Produktions-/bzw. Textstrategien.
Den dynamischen Charakter der Schemata, die keinesfalls als starre Schablonen aufzufassen sind, hebt die Forschung immer wieder hervor. So sind Modifikationen von Beziehungen innerhalb eines Schemas („tuning“), die Aufnahme neuer Fakten in ein bestehendes Schema („accretion“) sowie die Schaffung eines gänzlich neuen Schemas („restructuring“) möglich.23 Als Kriterium für eine Veränderung eines bestehenden Schemas bzw. einer Neuschöpfung gelten die Häufigkeit der Abweichung vom Ursprungsschema und die Nützlichkeit des neuen Schemas.24 Dabei sind sowohl Modifikationen in Richtung einer Spezialisierung als auch einer Generalisierung möglich.25
Bezeichnet der Ausdruck Schema allgemeines Weltwissen, so sind Skripts und Frames spezifischere Formen des Schemabegriffs. Skripts umfassen das spezielle Wissen über chronologische Abläufe und verallgemeinernde Handlungs- und Ereignisfolgen in stereotypen Situationen.26 Die Vertreter der Schematheorie teilen die Skripts überwiegend in drei Untergruppen ein: ein „situatives Skript“ umfasst Wissen über die als gewöhnlich wahrgenommenen Situationen (z. B. Restaurantbesuch, Busfahrt, Rasenmähen), ein „personales Skript“ dient der Speicherung von Wissen, welches Handlungsfolgen repräsentiert, die auf die jeweilige personale Rolle bezogen sind (z. B. eine Beschwerde als Passagier vorbringen, der Umgang mit Freunden) und ein „instrumentales Skript“ repräsentiert Anleitungen für bestimmte Verfahrensweisen (z. B. Grill anzünden, Computer ausschalten).27 Blume nennt die Skripts auch „Minimalgeschichten“28. Sie würden zwar kognitiv der schnellen Einordnung typischer und häufiger Geschehensabläufe wie einem Restaurantbesuch oder einer Hochzeitsfeier dienen, seien aber isoliert betrachtet nichts mehr als „a very boring little story“29, da insbesondere beim Geschichtenerzählen eher die Abweichungen von starren Schemata und Variationen als interessant und spannend empfunden würden.30 Doch sind es gerade zumeist längere und komplexe Erzählzusammenhänge, in denen mentale Skripts sich hervorragend dazu eignen, Kausalitätslücken zu schließen. So kann der Rezipient mit entsprechendem Skriptwissen Handlungssequenzen trotz lückenhaft geschilderter Aktivitäten nachvollziehen und damit über das hinausgehen, was textimmanent geschildert wurde, da er explizit oder implizit bestehende Lücken auffüllt, indem er auf das entsprechende Skript zurückgreift. Folglich trägt Skriptwissen bzw. Schemawissen insgesamt zur textlichen Kohärenz bei.31 Um eine zusammenhängende, also kohärente, Textwelt im Rezeptionsprozess herzustellen, muss der Leser demnach Inferenzen ziehen, d. h. er muss dem Text durch das Einbringen von gespeichertem Weltwissen bzw. durch die Interaktion von Text- und Weltwissen schlussfolgernd Sinn verleihen.
Die zweite spezifische Untergruppe der Schemata, die Frames, verkörpern nicht wie die Skripts das Wissen über Verfahrens- und Geschehensabläufe, sondern repräsentieren Begriffs- und Objektwissen. Frames liefern so Informationen über die Art der für die Leerstellenausfüllung notwendigen inhaltlichen Elemente.32
Eine weitere, ...