Über W.G. Sebald
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Über W.G. Sebald

Beiträge zu einem anderen Bild des Autors

  1. 338 Seiten
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Über W.G. Sebald

Beiträge zu einem anderen Bild des Autors

Über dieses Buch

Die Sekundärliteratur über W.G. Sebald hat in erstaunlicher Schnelle nahezu unüberschaubare Ausmaße angenommen. Allerdings bearbeitet der überwiegende Teil der Publikationen einen begrenzten Kreis an Themen, die man auf den Komplex Trauma–Holocaust–Intermedialität–Erinnerung–Melancholie reduzieren kann. Zumeist steht dabei der Roman Austerlitz im Fokus der Aufmerksamkeit, während – neben den anderen Prosabänden – ganze Werkbereiche vernachlässigt werden.

Dazu zählen das Frühwerk und die Lyrik, aber auch das beachtliche Korpus literaturkritischer Schriften, sowie die weitgehend unbekannten szenischen Texte Sebalds. Angesichts dieser ungenügenden Lage fokussiert Über Sebald gezielt auf solche Themen und Texte, die bisher ignoriert oder nicht wirklich in ihrer grundlegenden Bedeutung für ein differenzierteres Verständnis dieses zwischen Literaturwissenschaft und Literatur, Deutschland und England, Verehrung und Ablehnung situierten Autors erkannt wurden.

Bei den Beiträgern dieses zweisprachigen Bandes handelt es sich zumeist um internationale Sebald-Experten und Nachwuchsforscher sowie Privatgelehrte, die außerhalb des Wissenschaftsbetriebs stehen. Persönliche Erinnerungen von Sebalds Doktoranden runden den Band ab, der das bisher bekannte Bild dieses Schlüsselautors der Literatur des späten zwanzigsten Jahrhunderts wesentlich erweitert und über das geläufige Bild hinaus vertieft.

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Information

Über W.G. Sebald

Sven Meyer

Keine Kausallogik

Zum Zusammenhang in W.G. Sebalds Schreiben
Bereits seit Mitte der 1990er Jahre, als die ersten Besprechungen und wissenschaftlichen Arbeiten zu W.G. Sebalds erzählender Prosa vorgelegt wurden, gilt es als ausgemacht, dass sein Schreiben einer „Koinzidenzpoetik“11 folge, aus der sich, so Marcel Atze in seinem frühen, grundlegenden Beitrag, eine „Atmosphäre von Beziehungen, Zusammenhängen und Wahrnehmungen“12 ergebe. Diese ist, hierüber besteht seither Einigkeit in der vielfältigen Sebald-Forschung, konstitutionell für Sebalds Texte. Sinnfällige Überschneidungen von Daten und Jahreszahlen, wiederkehrende Motive wie Doppelgänger und Zwillinge, all die „Phantome der Wiederholung“ (RS 223), sowie zahlreiche intertextuelle Verweise tragen zu dieser Atmosphäre bei, die oftmals noch dadurch gesteigert wird, dass Sebald sich in selbst die Texte einschreibt und Wahlverwandtschaften mit denjenigen eingeht, von denen seine Texte handeln. Beispiele hierfür finden sich zuhauf, ein prominentes etwa in „Le promeneur solitaire“, Sebalds Essay über Robert Walser:
Ich habe immer versucht, in meiner eigenen Arbeit denjenigen meine Achtung zu erweisen, von denen ich mich angezogen fühle, gewissermaßen den Hut zu lüften vor ihnen, indem ich ein schönes Bild oder ein paar besondere Worte von ihnen entlehnte, doch es ist eine Sache, wenn man einem dahingegangenen Kollegen zum Andenken ein Denkmal setzt, und eine andere, wenn man das Gefühl nicht loswird, daß einem zugewinkt wird von der anderen Seite. (LH 139)
Sebald scheint der These einer Koinzidenzpoetik, die auf der Verknüpfung von Zufälligkeiten beruht, selbst Vorschub zu leisten. Exemplarisch heißt es etwa im Walser-Essay:
Langsam habe ich seither begreifen gelernt, wie über den Raum und die Zeiten hinweg alles miteinander verbunden ist, das Leben des preußischen Schriftstellers Kleist mit dem eines Schweizer Prosadichters, der behauptet, Aktienbrauereiangestellter gewesen zu sein in Thun, das Echo eines Pistolenschusses über dem Wannsee mit dem Blick aus einem Fenster der Heilanstalt Herisau, die Spaziergänge Walsers mit meinen eigenen Ausflügen, die Geburtsdaten mit denen des Todes, das Glück mit dem Unglück, die Geschichte unserer Natur mit der unserer Industrie, die der Heimat mit der des Exils. (LH 162-63)
Eine Passage aus „All’estero“ gibt Einblick in Sebalds literarischen Umgang mit diesen Zusammenhängen: „Ich saß an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür, hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen.“ (SG 112) Verbindungen zu ziehen und so Zusammenhänge von allem mit jedem lediglich literarisch zu organisieren, so scheint es, bleibt Sebalds Geschäft als Autor, das er erfolgreich betreibt: „Das Schreiben ging mir mit erstaunlicher Leichtigkeit von der Hand. Zeile und Zeile füllte ich die Bogen des linierten Schreibblocks“ (SG 112).
Mit diesem Befund hat man sich zumeist begnügt, wohl auch, weil Sebalds Essays und Selbstaussagen die Rezeption seiner narrativen Texte steuern: „Man muss den Zufall auch provozieren“ (UDE 213), so Sebald. Eric Santner schreibt dazu: Sebald „has done so much to frame the discourse of his own reception, to provide in advance the terms for critical engagement with the work; his fiction already practices a rather efficient sort of autoexegesis that leaves the critic feeling a certain irrelevance“13 Möglicherweise im Gefühl dieser Unerheblichkeit hat man sich bisher weitgehend mit der Tautologie begnügt, dass Sebald Zusammenhänge in der Welt herstellt und diese dann literarisch darstellt. So schließen sich an Sebalds Gedanken einer Verbundenheit „über den Raum und die Zeiten hinweg“ keine weitergehenden Fragen an. Wodurch aber Ereignisse derselben Ordnung zugewiesen werden, worin die von Sebald proklamierten Verbindungen bestehen, was dieses „Winken von der anderen Seite“ eigentlich ist – darüber sagen die zitierten Passagen nichts, und daraufhin wurden Sebalds Texte selten untersucht.

Ästhetisierungen und Rationalisierungen

In seiner Rede zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses stellt Sebald die Frage nach dem Zweck der Literatur überhaupt: „A quoi bon la litterature?“ (CS 247), die er sogleich beantwortet: „Einzig vielleicht dazu, daß wir uns erinnern und daß wir begreifen lernen, daß es sonderbare, von keiner Kausallogik zu ergründende Zusammenhänge gibt“ (CS 247). Der erste Teil der Antwort – Literatur als Mittel der Erinnerung – fügt sich gut in das etablierte Bild von Sebalds Arbeit an einem der literarischen Memoria verschriebenen Projekt, das die großen wie individuellen Katastrophengeschichten zu bewahren versucht. Der zweite Teil von Sebalds Antwort aber geht über die bewährte Beschreibung seiner literarischen Absichten hinaus. Welche „von keiner Kausallogik zu ergründenden Zusammenhänge“, die – so Sebald mit den gleichen Worten wie im anfangs zitierten Walser-Essay – „zu begreifen“ wären, bleibt unklar. Verweist Sebald hier auf einen metaphysischen Bereich, in dem die Gesetze von Ursache und Wirkung keine Geltung haben?
Die prosperierende Sebald-Philologie hat, ausgehend von jener Textstelle, auf diese für ein Verständnis von Sebalds Poetologie zentrale Fragestellung Antworten gegeben. Dass diese aber meines Erachtens zu kurz greifen, möchte ich an drei Beispielen anschaulich machen. Deane Blacker schreibt:
The Sebaldian alchemy, which transmutes apparent happenstance or coincidence into the suggestion of signification in the minds of literary readers, ‘sonderbare von keiner Kausallogik zu ergründende Zusammenhänge’ [...] directs our gaze as readers [...] to the connectedness, the Baudelairean ‘correspondances’ between things, that which constitutes the aesthetic harmony of the text.14
Hier erscheinen die Zusammenhänge also als bloße Zufälle, die – in der poetischen Tradition Baudelaires – im Text arrangiert bzw. vom Alchemisten Sebald „verwandelt“ und so bedeutsam gemacht werden, um eine ästhetische Harmonie zu erzeugen. Einen zweiten Weg geht Lynn L. Wolff, die zunächst nüchtern konstatiert: „Sebald’s narratives reconceptualize boundaries of time, space, and memory though not necessarily according to a rationally explicable system.“15 In ihrer Erklärung dieses „Systems“ aber weicht Wolf ins Metaphysische aus und bedient sich religiöser Metaphern: „Through what appears to be coincidences, the individual finds insights into his identity and connections to a greater historical framework. Moreover it is through literature, in particular in the form of nonlinear narratives, that such non-rational insights or even epiphanies can be made.“16 Sebald spricht von Zusammenhängen, die „keiner Kausallogik“ gehorchen – nicht davon, dass diese nicht dennoch rational wären. Drittens Peter Schmucker, der den Passus ernst nimmt und sehr genau liest: „‚Von keiner Kausallogik zu ergründen’ ist die Kontingenz der Geschehnisse wie ihrer Repräsentation im ‚Gedächtnis’“, so Schmucker, und weiter:
„Zusammenhänge“ zeigen eine räumliche und zeitliche Anordnung der Ereignisse und mit letzterer auch eine Kausalität. Sie werden im Prozeß der Einpflanzung der Repräsentation der kontingenten Geschehnisse hergestellt. Dies ist die Voraussetzung des „Begreifens“. Der Prozeß der Einpflanzung der Repräsentation von Ereignissen in die individuelle und kollektive „Erinnerung“ ist [...] Kontingenzbewältigung.17
Wenngleich Schmucker plausibel argumentiert, so macht er letztlich doch Sebalds Gedanken unschädlich, indem er ihn rationalisiert und die als nicht-kausal proklamierten Zusammenhänge doch als kausal auffasst.

Kausalnexus und Verwandtschaft

Anders als diese Interpreten, die jene „von keiner Kausallogik zu ergründende[n] Zusammenhänge“ entweder als eine ästhetische Technik deuten (Blackler) oder ins Metaphysische heben bzw. sublimieren (Wolff) oder aber rationalisieren (Schmucker), um sie so kommensurabel zu machen, sehe ich darin den Hinweis auf die Weltsicht Sebalds, in der das Nicht-Kausale einen Platz hat und die sich seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Verwandtschaft zwischen Dingen und Ereignissen verdankt. Dass Sebald dabei auf Walter Benjamin und das „Heimweh nach der im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt“ (Benjamin 1991c, 314) rekurriert, nimmt nicht wunder – dessen Bedeutung für Sebalds haben Sebald selbst und die Forschung wiederholt herausgestellt.18
Sebald schöpft aber auch aus anderen, abgelegenen Quellen. In der Buchfassung seiner Dissertation Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins von 1980 geht es ihm um „die Zusammenhänge des natürlichen Kreislaufs“ (MZ 94). Sebald gibt hier, ausgehend von seiner Kritik Alfred Döblins, einen Aufriss der naturphilosophischen Tradition, plädiert klar für eine „rationale Analyse der Welt“ (MZ 95) und gegen jene „Denkschemata, die, ausschließlich mit Analogien arbeitend, stets zu analogen Modellen führen.“ (MZ 95) Distanziert bis ironisch im Ton, schreibt Sebald:
Die erstaunlichsten Analogiebildungen aber, mit denen gegen den usurpatorischen Kausalnexus protestiert wurde, blieben den Literaten vorbehalten. Novalis etwa vergleicht, als kleine Illustration des großen Zusammenhangs, Hirn und Hoden, Nasenschleim und Samen miteinander, wie er in seinen Fragmenten überhaupt alles nach dem Prinzip der Verwandtschaft ordnet. (MZ 96)
Mehr als eine „Illustration“ der bestehenden Zusammenhänge billigt Sebald Novalis nicht zu und distanziert sich mit dem für seine Dissertation typischen Furor von dem Verfahren, den Zusammenhang durch „exaltiert[e]“ (MZ 96) Analogien zu begründen und darzustellen. Der Anfang von Sebalds späterer Weltsicht, den „großen Zusammenhang“ anzuerkennen, sich aber einem „Kausalnexus“19 zu verweigern, liegt bereits hier.
So besteht also eine zweite Linie in Sebalds Schreiben, die jener der Frankfurter Schule oft entgegenläuft, aber zunehmend Bedeutung gewinnt. Diese reicht von Paracelsus, Schelling und der deutschen Frühromantik über Franz Xaver von Baader bis hin zu Dilettanten und Bastlern (bricoleurs) sowie solchen Wissenschaftlers, die abseits des etablierten Gebiets akademischer Arbeit operieren. Immer wieder verweist Sebald in seinen literaturwissenschaftlichen Essays auf naturwissenschaftliche Quellen. So würdigt er, dass Hermann Broch den „Verlust des Sinns für ästhetische Einheiten als zentrales Krisensymptom der ausgehenden bürgerlichen Epoche“ identifiziert habe. Und weiter:
[W]ie weitgehend die Implikationen seiner These sind, begreift man vielleicht erst heute, wenn man etwa Gregory Batesons Konjekturen zum Thema Ästhetik – Evolution – Erkenntnistheorie verfolgt, in denen die sukzessive Einbuße unserer „natürlichen“ Affinität zu ästhetischen Strukturen als ein epistemologischer „Fehler“ von noch unabsehbarer Konsequenz beschrieben wird. (UH 126)
Von dem Anthropologen und Biologen Gregory Bateson20 aus führt eine direkte Linie zu einem nie von Sebald zitierten Gewährsmann, der auf seine immer wieder gestellte Frage, „was sind das für unsichtbare Beziehungen, die unser Leben bestimmen, wie verlaufen die Fäden” (CS 244), eine völlig neue Antwort versucht hat.

Sebald und Rupert Sheldrake

Im Dezember 2001, nur eine Woche vor seinem Tod, gibt Sebald ein bemerkenswertes Interview. Im Gespräch mit Michael Silverblatt betont er zunächst die Bedeutung von „the study of nature in all its forms“ für sein Schreiben und ergänzt:
I tend to read scientists by preference almost, and I’ve always found them a great source of inspiration. It doesn’t matter particularly whether they’re eighteenth-century scientists – Humboldt – or some contemporary like Rupert Sheldrake. These are all very close to me, and people without whom I couldn’t pursue my work. (EM 81)
Der Hinweis bleibt erratisch. Silverblatt hakt hier nicht ein, und so erfahren wir nicht, warum Humboldt und Sheldrake Sebald so nahe sind, dass er ohne sie seiner literarischen Arbeit nicht nachgehen könnte. Humboldts als kanonischer Naturforscher des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts mag sich noch in das Bild einfügen, das man sich von Sebalds Quellen gemacht hat. Doch wer ist Rupert Sheldrake?
Der englische Biologe Rupert Sheldrake, Jahrgang 1942, ein Altersgenosse Sebalds, veröffentlichte 1981 seine Studie A New Science of Life. Mit dem Selbstverständnis eines unabhängigen Denkers und kritischen Naturforschers argumentiert er darin, dass allein die Gene die komplizierten Muster von Gestalt und Verhalten nicht erklären können und schlägt deshalb vor, eine Art formgebendes Feld vor, das die Erinnerung der richtigen Gestalt jedes Lebewesens trägt und diese Lebewesen miteinander verbindet, und das er „morphisches“ oder „morphogenetisches Feld“ nennt (morphic / morphogenetic field). Keine Naturgesetze, sondern lediglich ein System sich entwickelnder Gewohnheiten (habits) bestimmen Sheldrake zufolge die biologischen Prozesse.21
Nachdem seine Thesen, in denen er, auch im Rückgriff auf Goethe, einen holistischen Wissenschaftsbegriff vertritt, anfangs auch innerhalb der naturwissenschaftlichen Zunft Anlass zu reger Diskussion gaben, wurde Sheldrake bald zum Nonvaleur erklärt. John Maddox, der Herausgeber der angesehenen Zeitschrift Nature, wollte A New Science of Life zwar nicht gleich verbrannt wissen, aber doch sei es „the best candidate for burning there has been for many years“.22 1996 noch ist Sheldrakes Theorie des morphischen Feldes für den Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg bloß „a crackpot fantasy“.23 Wo Sheldrake in den Geisteswissenschaften rezipiert wird, geschieht dies zwar mit Interesse, doch stets mit Distanz, da bei ihm „immaterielle, oft gleichsam telepathische Erkenntnisprozesse und auch kosmologische Durchgriffe eine problematische Oberhand gewonnen haben“.24 Das „morphische Feld“ hat Sheldrake bei einem breiten Publikum ebenso bekannt gemacht hat, wie sie ihn innerhalb der scientific community verlässlich diskreditiert hat. Ein Paria, geriet Sheldrake nun mehr und mehr in den Dunstkreis parawissenschaftlicher und esoterischer Kreise, in denen er bis heute große Wertschätzung genießt.
Sebalds Beschäftigung mit Sheldrake ist vor dem Hintergrund interessant, dass dessen Theorien durchaus brauchbare Erklärungen für eine Vielzahl naturwissenschaftlich nicht geklärter Phänomene bieten. Dass Sheldrake auch wegen dieser Randständigkeit zum etablierten Wissenschaftsbetrieb für Sebald von Interesse war, ist anzunehmen. Sebalds Invektiven gegen die „zünftigen Germanisten“ (CS 195) sind zahlreich, die Distanz zu von festgelegten Regeln dominierten Diskursbereichen groß, seine Positionierung als Außenseiter im Wissenschaftsbetrieb unstrittig (Schütte 2014b). Nimmt man Sebalds Aussage ernst, dass Sheldrake ihm „sehr nahe“ („very close to me“) sei und akzeptiert man also dessen Einfluss, so heißt dies, dass Sebald nicht bloß scheinbare Zusammenhänge literarisch organisiert, oder dass er Wahlverwandtschaften herstellt, sondern dass ein tatsächlicher, wenngleich nicht erklärbarer Zusammenhang besteht. Relevant für Sheldrakes Arbeiten ist jener Gregory Bateson, sein Werk Mind and Nature und dessen Idee der „Beziehungsmuster“25 – in Bateson haben Sebald und Sheldrake also einen gemeinsamen Referenzpunkt. Persönlich sind sich nie begegnet, ein Austausch zwischen ihnen hat nich...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Zur Einleitung
  6. Über W.G. Sebald
  7. Erinnerungen
  8. Bibliografie
  9. Index
  10. Fußnoten