Jesusforschung in vier Jahrhunderten
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Jesusforschung in vier Jahrhunderten

Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur "dritten Frage" nach dem historischen Jesus

  1. 776 Seiten
  2. German
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Jesusforschung in vier Jahrhunderten

Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur "dritten Frage" nach dem historischen Jesus

Über dieses Buch

In seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" bezeichnet Albert Schweitzer die Erforschung des Lebens Jesu als "die größte Tat der deutschen Theologie". 100 Jahre später trifft dieses Urteil noch immer zu, auch wenn die wissenschaftliche Rückfrage nach dem historischen Jesus längst international geworden ist.
Um in dieser weit gespannten Forschungslandschaft Orientierung zu ermöglichen, bietet das Studienbuch eine Auswahl von relevanten Beiträgen in deutscher und englischer Sprache. Geboten werden Texte von den Anfängen der historischen Kritik im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Damit gewinnt der Leser/die Leserin die Möglichkeit, die Entwicklungen der Jesusforschung nachzuvollziehen sowie sich mit deren Fragestellungen, Methoden und Ergebnissen eigenständig auseinanderzusetzen.
In der Einleitung stellt der Herausgeber die einzelnen Beiträge in den jeweiligen Forschungszusammenhang und zeichnet ein eindrückliches Bild der verschiedenen Stadien der Jesusforschung. Darüber hinaus werden didaktisch motivierende Fragestellungen für die Lektüre und Weiterarbeit gegeben.

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Information

1 Impulse zur Jesusforschung aus den Anfängen historischer Kritik

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Während rund 1700 Jahre lang innerhalb von Theologie und Kirche das biblische Christusbild als authentisches Zeugnis der geschichtlichen Person Jesu galt, sollte sich dies mit dem Zeitalter der Aufklärung grundlegend ändern:
„Das kirchliche Dogma wird von den gebildeten Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts zunehmend als Verstehenshindernis der christlichen Religion empfunden. Die Besinnung auf den historischen Jesus erscheint als eine Möglichkeit, den religiösen und moralischen Gehalt des Christentums unter den Bedingungen der Gegenwart zur Geltung zu bringen.“1
Die Suche nach dem historischen Jesus vollzog sich in der historischen Kritik der biblischen Texte.
HERMANN SAMUEL REIMARUS (1694-1768), Professor für Hebräisch und orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium in Hamburg, kommt das Verdienst zu, als einer der Ersten klar zu unterscheiden zwischen der Verkündigung Jesu und der nachösterlichen Christusbotschaft. Eine solche Unterscheidung nahm er in seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ vor – einer Schrift, an der er bis zu seinem Lebensende arbeitete und aus der GOTTHOLD EPHRAIM LESSING posthum zwischen 1774 und 1778 sieben Texte ohne Nennung des Verfassers veröffentlichte, während eine Gesamtedition erst 1972 erschien2. REIMARUS hatte sich die Zufälligkeit der eigenen Religionszugehörigkeit bewusst gemacht und den Entschluss gefasst, die eigene christliche Religion „reiflich und mit einer gleichgültigen Wahrheits-Liebe zu untersuchen, das Endurtheil mögte auch ausfallen, wie es wollte“3. Jedoch gab er dem Drängen einiger eingeweihter Freunde, die Apologie als ganze zu veröffentlichen, nicht nach, da er die Zeit für einen Pluralismus der Meinungen noch nicht für reif hielt und Hass und Verfolgung unbedingt vermeiden wollte.4
Während Reimarus, der rationalistischen Aufklärungsphilosophie CHRISTIAN WOLFFS verpflichtet, eine „natürliche“ Religion gemäß den Regeln der Vernunft anerkannte, lehnte er jegliche übernatürliche Offenbarung ab. So schätzte er die „natürliche, vernünftige und allgemein praktische Religion“5 in der Lehre Jesu, deren jüdischen Teil dagegen wertete er ab. Dazu rechnete er die Verkündigung des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes, das er mit dem von den Juden erhofften Messiasreich gleichsetzte, in dem der Messias sein Volk mit Recht und Gerechtigkeit regieren und die Weltherrschaft ausüben werde.6 Damit hatte Reimarus Jesus konsequent als geschichtliche Person verstanden und ihn ins zeitgenössische Judentum eingeordnet.
Als mit der Hinrichtung Jesu der messianischen Hoffnung der Jünger der Boden entzogen schien, hätten sie ihr bisheriges Lehrsystem durch ein neues ersetzt, indem sie Jesu Leichnam heimlich beiseite schafften und nach einigen Wochen Jesus als leidenden, die Schuld der ganzen Welt büßenden, nach vollbrachtem Versöhnungstod auferstandenen und gen Himmel gefahrenen Welterlöser verkündigten, der noch zu Lebzeiten ihrer Generation zu einem universalen Gericht über Lebende und Tote kommen und sein Messiasreich auf Erden aufrichten werde.7
Mag sich auch die Betrugshypothese des Reimarus als unhaltbar erweisen, ändert dies nichts an der herausragenden historisch-kritischen Leistung jener Schrift. Hat doch der Autor „zuerst die Vorstellungswelt Jesu historisch, d. h. als eschatologische Weltanschauung erfaßt“8. Nach dem Urteil ALBERT SCHWEITZERS in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ war REIMARUS „der erste, der nach achtzehn Jahrhunderten wieder ahnte, was Eschatologie sei; dann verlor die Theologie sie aus den Augen, um sie erst mehr denn hundert Jahre nachher in ihrer wahren Form, soweit sie historisch bestimmbar ist, zu erkennen […].“9 Wie auch immer die Frage nach Jesu messianischem Selbstverständnis zu beantworten ist, dass Jesu Reich-Gottes-Botschaft historisch sachgemäß nur im Horizont frühjüdischer Eschatologie und Naherwartung verstanden werden kann, hat Reimarus klar gezeigt. Damit war bereits der Boden bereitet für die Jesusforschung von JOHANNES WEISS und ALBERT SCHWEITZER.
Zwar beurteilte DAVID FRIEDRICH STRAUSS (1808–1874) REIMARUS’ „Behauptung eines politischen Messiasplans Jesu als einen überwundenen Stand-punkt“10 und lehnte die von Reimarus vertretene Auffassung ab, das Christentum sei aufgrund eines Jüngerbetrugs entstanden;11 stattdessen gab er eine psychologische Erklärung der Ostervisionen.12 Zugleich aber war er der Meinung, „der Standpunkt von Reimarus sei in dem der heutigen Religionswissenschaft aufgehoben“ 13 – und zwar im HEGEL’schen Sinne. Mit dem Hamburger Orientalisten teilte nämlich STRAUSS die Einsicht in die Notwendigkeit, zwischen dem historischen Jesus und dem Christus der Kirche zu unterscheiden. Beide Forscher verbindet das Streben nach Erkenntnis der geschichtlichen Wahrheit, ohne sich dabei von dogmatischen Bindungen beeinträchtigen zu lassen. Selbst den „mythischen Standpunkt“, den Strauß in seinem 1835 erschienenen Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ bei der Analyse der Evangelientexte zur Geltung brachte, sah er durch Reimarus vorbereitet.14
Im Blick auf die Jesusforschung besteht das Hauptverdienst von Strauß in der Anwendung des in der alttestamentlichen Forschung seiner Zeit bereits geläufigen Mythosbegriffs auf die Evangelien.15 „Mythus“ war für Strauß identisch mit „Sage“, die aus einem mündlichen Überlieferungsprozess hervorgeht; und so verstand er „unter neutestamentlichen Mythen nichts Anderes, als geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“ 16. Die ersten Christen hätten dem Alten Testament reichen Stoff für die mythische Ausgestaltung der Jesusüberlieferung entnommen. Strauß wörtlich:
„Jesus als der größte Prophet mußte in seinem Leben und seinen Thaten Alles vereinigt und überboten haben, was die alten Propheten, von welchen das A.T. erzählt, gethan und erlebt hatten; er als der Erneuerer der hebräischen Religion durfte hinter dem ersten Gesezgeber in keinem Stücke zurückgeblieben sein; an ihm, dem Messias, endlich mußte Alles, was im A.T. Messianisches geweissagt war, in Erfüllung gegangen sein […].“17
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Hatte man bisher in der Exegese den Mythosbegriff auf die Jesusgeschichte nur partiell angewandt (Geburt, Kindheit, Versuchung, Himmelfahrt), vertrat Strauß die Auffassung, dass „das Mythische auf allen Punkten der Lebensgeschichte Jesu zum Vorschein kommt“18.
Mittels des synoptischen Vergleichs erbrachte Strauß den Nachweis, dass das Johannesevangelium in weit höherem Maß als die synoptischen Evangelien von theologischen Vorgaben bestimmt ist und daher historisch weniger zuverlässige Überlieferung enthält. So beurteilte er die johanneischen Reden Jesu im Ganzen als „freie Compositionen des Evangelisten“19.
Hatte sich Strauß mit seinem ersten „Leben Jesu“ an die theologische Fachwelt gewandt und dabei ein regelrechtes Erdbeben ausgelöst, veröffentlichte er 29 Jahre später sein zweites „Leben Jesu“20 speziell für Nichttheologen. Als Adressaten stellte sich Strauß Menschen vor, die sich von religiösen Vorurteilen freigemacht haben und Wert auf eigenständiges Denken legen. Die historische Forschung bedeutete für ihn keinen Selbstzweck, sondern diente zur Befreiung von überholten Glaubensvorstellungen. Gültigkeit kann Strauß zufolge nur beanspruchen, was sich durch Vernunft und Erfahrung als wahr erweisen lässt. Zwar war Strauß durchaus der Meinung, dass man einzelne Logien Jesu als authentisch beurteilen könne, während es wesentlich schwieriger, wenn nicht unmöglich sei, ihm begründet bestimmte Verhaltensweisen zuzuschreiben. Die Heilsereignisse, auf die sich der Kirchenglaube bezieht – wie Menschwerdung, Auferstehung und Himmelfahrt –, beurteilte Strauß als zweifelhaft bzw. als nicht historisch.
Unter Berufung auf SPINOZA und KANT unterschied STRAUSS zwischen dem historischen Jesus und einem idealen Christus als dem „Urbild menschlicher Vollkommenheit“21. Bei der „Fortbildung der Christusreligion zur Humanitätsreligion“ 22 maß Strauß dem Menschen Jesus eine besondere Bedeutung zu, insofern dieser das sittliche Menschenideal vertieft habe, wenngleich die Entwicklung weitergegangen und die Vollendung des Humanitätsideals Aufgabe der ganzen Menschheit sei.23
Folgen wir ALBERT SCHWEITZERS Analyse der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, dann hat STRAUSS die Forschung vor das erste Entweder-oder gestellt: „entweder rein geschichtlich oder rein übernatürlich“, während die Tübinger – und hier ist vor allem FERDINAND CHRISTIAN BAUR (1792–1860) zu nennen – und HEINRICH JULIUS HOLTZMANN das zweite: „entweder synoptisch oder johanneisch“ „durchgekämpft“ hätten,24 das bereits bei STRAUSS begegnet. So vertrat BAUR in seiner Untersuchung „Über die Komposition und den Charakter des Johanneischen Evangeliums“25 die Auffassung, dass das Johannesevangelium nach den Synoptikern und Paulus „die dritte Stufe in der Entwicklung des christlich-religiösen Bewußtseins“26 repräsentiere.
Baur wandte sich daher gegen die Annahme, dass die vier neutestamentlichen Evangelien „harmonisch zusammenstimmen“27. Dies hätte nämlich zur Folge, dass die johanneische Christologie von der Menschwerdung des ewigen Logos das Menschliche in Jesu Person verschwinden ließe und die Unterschiede zwischen den synoptischen Evangelien einerseits und dem Johannesevangelium andererseits nivelliert würden.28 Jüngstes Ergebnis einer solchen harmonisierenden bzw. kanonischen Exegese – so die Charakterisierung durch den Verfasser selbst – ist die Jesusdarstellung von JOSEPH RATZINGER .29 Wenn auch die Lösung des synoptischen Problems durch den Begründer der Tübinger Schule – Abhängigkeit des Markusevangeliums von den beiden anderen Evangelien, Lukasevangelium als paulinisches Evangelium und das Matthäusevangelium als wertvollste historische Quelle – überholt ist, ändert dies nichts daran, dass BAUR die synoptischen Evangelien als Hauptquellen für die Beantwortung der Frage nach dem historischen Jesus zu Recht herausgestellt hat. Auch darin darf Baur als wegweisend für die weitere Forschung gelten, wenn er der Wortüberlieferung gegenüber der geschichtlichen Erzählung einen höheren Stellenwert zumaß.
Wie der Osterglaube entstanden war, ließ Baur offen – auch eine psychologische Erklärung wie die von STRAUSS schloss er nicht aus. Für das sich herausbildende Christentum sei es allein auf den Glauben an die Auferstehung Jesu angekommen.30
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War die historische Jesusforschung anfangs weithin eine protestantische Angelegenheit, so brachte ERNEST RENAN (1823 – 1892), der STRAUSS’ „Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ zustimmend rezipierte, 1863 das „erste Leben-Jesu für die katholische Welt“31 heraus: „Vie de Jésus“ als ersten Band der „Histoire des origines du Christianisme“ (7 Bde., 1863 – 1883). Dieses in einem Vierteljahr acht Auflagen erlebende Buch bedeutete nach dem Urteil SCHWEITZERS darüber hinaus „ein Ereignis in der Weltliteratur“:
Renan „legte das Problem, das bisher nur die Theologen beschäftigt hatte, der ganzen gebildeten Welt vor. Aber nicht als Problem, sondern als eine Frage, die er durch Wissenschaft und ästhetisches Nachempfinden für sie gelöst hatte. Er bot ihnen einen Jesus dar, der lebte, den er als Künstler unter dem blauen Himmel Galiläas getroffen und mit begeistertem Griffel festgehalten hatte.“32
Für Renan ist Jesus kein Schöpfer von Glaubenssätzen, sondern einer, der der Welt einen „neuen Geist“ erschlossen hat, der Begründer der ewigen Religion des reinen Gefühls und des vollkommenen Idealismus.33

Aufgaben:
  1. Welche Einsichten von Hermann Samuel Reimarus konnten sich in der Jesusforschung bis heute behaupten?
  2. Inwiefern führen die beiden „Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß methodisch und inhaltlich über die „Apologie“ von Reimarus hinaus?
  3. Welche Bedeutung hat der historische Jesus für die christliche Religion aus der Perspektive von Reimarus, Strauß, Ferdinand Christian Baur und Ernest Renan?
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Hermann Samuel Reimarus

1.1 Apologie oder Schutzschriftfür die vernünftigen Verehrer Gottes,verfasst zwischen 1735 und 1767;Reinschrift 1767/68

Zweytes Capittel. Untersuchung ob Jesus, bey seiner Reformation des Jüdischen Aberglaubens, ausser der vernünftigen Religion, auch übernatürliche Geheimnisse eingeführt habe?

§ 1.
Ein Theil der Christenheit steht in den Gedanken, daß alle Glaubens-Artikel, welche zur eigentlichen Offenbarung gehören, nämlich die man aus der bloßen gesunden Vernunft nicht wissen kann, nach den Hauptstücken, schon im A.T. wären bekannt gemacht und geglaubt worden. Diese meynen also, daß das Geheimniß der Dreyfaltigkeit göttlicher Personen in einem Wesen, die Sendung des Sohns Gottes in der Menschwerdung von einer Jungfrau, sein königlich, prophetisches und hoherpriesterliches Amt, sein Leyden und Tod für die Sünde der Welt, seine Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht, nebst der Auferstehung der Todten, obwohl nicht so umständlich, jedoch klar genug, von den Propheten des A.T. wäre verkündiget, und von Jesu selbst noch deutlicher offenbart worden. Diese Meynung gründet sich bloß auf eine Hypothese, daß die Gläubigen, von Adam an, eine und dieselbe Heils-Ordnung gehabt; welche Paulus nach seinem Sinn angenommen, und nun ein jeder nach seinem Catechismo erklärt. In solcher Hypothese wird man denn auf die vorgelegte Frage antworten, daß Jesus diese Geheimnisse nicht zuerst eingeführt, sondern daß er sie nur, da sie allen Ertzvätern und frommen Israeliten zum Mittel ihrer Seligkeit gedient, aber von den letzteren Juden verdunkelt, vergessen und verdorben worden, wieder erneuert und in den Schriften Mosis und der Propheten angewiesen habe. Allein hier wird schon vorausgesetzt, daß Jesus diese Geheimnisse in seiner Lehre vorgetragen habe, welches noch nicht erwiesen ist; ich will nicht sagen, daß man dieselben auf eine sehr gezwungene Weise schon vor Jesu in den Schrifften /40/ A. T. sucht. Andere, die auch Christen seyn wollen, verfahren etwas aufrichtiger. Sie gestehen erstlich, daß den Gläubigen A.T. fast nichts von allen diesen Artikeln bekannt gewesen; behaupten aber ferner, daß weder Jesus noch die Apostel solche Geheimnisse, als die heutigen Catechismi enthalten, zur Heils-Ordnung gestellet hätten. Unterdessen bemühen sie sich doch, eine Mittelstraße zwischen der bloß natürlichen Religion und dem nachmaligen Christenthum zu halten, und mildern darnach den Verstand der Worte Jesu und der Apostel. Diesen Weg sind die Arrianer und Socinianer eingeschlagen, welche sich oft winden und drehen müssen, ihr System mit den Worten des N.T. zu harmoniren, weil sie den gantzen Plan und Ursprung des Christenthums nicht ohne Verwirrung und Vorurtheilen eingesehen haben. Diese unpartheyische Wahrheit erfordert, nicht allein die Lehrer vor Jesu, von diesem, und Jesum selbst von seinen Aposteln, als Selbstlehrern, zu unterscheyden; sondern auch in Jesu eigenen Lehre das was alle Menschen angeht, mit dem, was die Jüdische positive Religion betrifft, nicht zu vermengen. Ich habe in dem ersten Theile gezeigt, daß die Propheten A.T. von allen diesen Geheimnissen des Christenthums nichts gewust, und auch keinen andern Messias, als einen zeitlichen und besonderen Erretter des Jüdischen Volks verkündiget haben, Ich habe in dem ersten Capittel dieses zweyten Theils angefangen zu zeigen, daß das System der Apostel nach dem Tode Jesu, von ihrem eigenen vorigen System, und sodann auch von dem System Jesu, und der meisten Juden abweiche. Es wird auch offenbar seyn, daß der Theil der Lehre Jesu, welcher bisher in Betrachtung genommen ist, nichts weiter als eine natürliche, vernünftige und allgemeine praktische Religion enthalte, zu welcher Jesus, bey seiner Reformation, auch die positive Jüdische zu lenken gesucht, ohne sie aufheben zu wollen. Der andere Theil der Lehre Jesu gehöret also für das Judenthum ins besondere, davon andere Völker nichts wusten und verstunden. Er ist von einem Juden, denen übrigen Juden, mit Jüdischen Redensarten vorgetragen, und setzet die damals herrschende Meynungen und Gewohnheiten der Juden voraus. Man muß sich also gantz in das damalige Judenthum, /41/ und dessen eingeführte Ausdrücke, hineinbegeben, und alle Ideen, die unser Catechismus mit gewissen Worten verknüpffet, solange aus dem Sinn schlagen, wenn man den wahren Verstand der hiehergehörigen Worte Jesu erreichen, und von der vorgelegten Frage richtig urtheilen will.

Das zweyte Buch von dem Zweck des Himmelreichs Jesu.

1tes Capittel von der Zweydeutigkeit der wahren Absichten Jesu.

§ 1.
Wir haben nun bisher gesehen, daß in Jesu eigenen Reden, so ferne er die allgemeinen Wahrheiten und Pflichten der Menschen einschärffen, und den Verfall des Pharisäischen Judenthums darnach bessern wollte, nichts als eine vernünftige praktische Religion, die aller Hochachtung würdig ist, liege; und daß er ausser derselben weder den Juden noch dem gantzen menschlichen Geschlechte unverständliche Glaubens-Geheimnisse oder neue Vorschrifften, als Mittel zur Seligkeit, aufzubürden gesucht habe. Es war alles in zweyen Worten enthalten: Bekehret euch. Nun aber tritt er der besondern positiven Religion der Juden näher, und läst ihnen, und zwar ihnen allein, nicht Heyden noch Samaritern, verkündigen: Das Himmelreich ist nahe herbey kommen. Es ist schon oben beyläuffig bemerkt worden, daß weder Johannes der Täuffer, noch Jesus, wenn er seine Jünger zur Verkün...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Vorwort
  5. 1 Impulse zur Jesusforschung aus den Anfängen historischer Kritik
  6. 2 Die liberale Leben-Jesu-Forschung
  7. 3 Das Ende der Leben-Jesu-Forschung
  8. 4 Die „neue Frage“ nach dem historischen Jesus
  9. 5 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
  10. Stellenregister
  11. Autorenregister
  12. Personen- und Sachregister