Ethik und Recht in Medizin und Biowissenschaften
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Ethik und Recht in Medizin und Biowissenschaften

Aktuelle Fallbeispiele aus klinischer Praxis und Forschung

  1. 312 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Ethik und Recht in Medizin und Biowissenschaften

Aktuelle Fallbeispiele aus klinischer Praxis und Forschung

Über dieses Buch

Aufgrund des schnellen Fortschritts der Biotechnologie und der modernen Medizin werden verschiedene Berufsgruppen in unserer Gesellschaft vermehrt mit ethischen Fragestellungen konfrontiert. Antworten müssen in den meisten Fällen situationsspezifisch erfolgen. Verschiedene Beispiele werden daher im vorliegenden Werk anhand von konkreten Fällen illustriert.

Verantwortlichen aus den Bereichen der Lebenswissenschaften sowie Bio- und Medizinethik dient dieses Werk nicht nur als praktisches Handbuch, sondern auch als theoretisches Nachschlagewerk. Studierende, die sich mit Fragen bezüglich Anfang und Ende des Lebens sowie den Grenzen von Forschung und medizinischer Behandlung, aber auch generell im Zusammenhang mit der Ausübung bzw. Einschränkung von Grundrechten befassen, finden hier eine wertvolle Nachschlagequelle.

Ausgesuchte Lösungsansätze für ethische und rechtliche Schwierigkeiten, mit denen Wissenschaftler und Forschende in ihrer täglichen Praxis konfrontiert sind, werden vergleichend aus der deutschen, österreichischen und schweizerischen Perspektive gegenübergestellt. Bestehende, die jeweilige gesellschaftliche und rechtliche Ordnung widerspiegelnde nationale Besonderheiten im Hinblick auf ethisch-moralische Wertungen, aber auch die Gesetzgebung bzw. deren Vollzug leiten den Leser dazu an, bei der Entscheidungsfindung jeden Einzelfall in seinem spezifischen Kontext zu eruieren und sich bei der Abwägung der unterschiedlichen Argumente nicht nur moralische Intuitionen, sondern auch das geltende Recht vor Augen zu halten.

Gegliedert in zwei Teile (nicht-klinische Bioethik und klinische Praxis der Medizin) zeigen die verschiedenen Falldiskussionen aus den Bereichen Forschungsethik, Ethik in den Lebenswissenschaften, Chirurgie, Intensiv- und Notfallmedizin, genetisches Screening, Allgemeinmedizin, Neurologie, Psychiatrie und innere Medizin konkrete Berührungspunkte von Recht und Ethik bzw. erlebte Konfliktsituationen sowie aktuell geltende rechtliche Lösungsansätze auf. Ziel des Werkes ist, zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge von Recht und Ethik beizutragen.

Häufig gestellte Fragen

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Information

Jahr
2014
ISBN drucken
9783110284621
eBook-ISBN:
9783110373943

A Medizin: klinische Praxis

Stuart McLennan

1 Behandlungsfehler

Fallbeispiel

Ein 51-jähriger Pensionär erholt sich von einer Herzoperation. Als Diabetiker ist er auf Insulin angewiesen, und seine langwierige Krankheitsgeschichte umfasst mehrere schwerwiegende Erkrankungen. Bei der Untersuchung fassen sich beide Beine kalt an und zeigen brandige Läsionen. Obwohl die Blutzirkulation im linken Bein mehr beeinträchtigt ist als im rechten, äußert der Patient den Wunsch, das rechte Bein zu amputieren, da dieses ihm unerträgliche Schmerzen verursacht. Es wird eine Einverständniserklärung unterzeichnet, die klar aussagt, dass das rechte Bein amputiert werden soll.
Bereits in der anfänglichen Korrespondenz zwischen Chirurgenbüro und Operationskoordinator wurde die Operation fälschlicherweise als linksbeinige Amputation aufgeführt. Einen Tag vor der Operation notiert eine Pflegefachkraft in ihrem Operationsplan die Amputation des linken Beines und entdeckt dabei den Fehler. Sie informiert ihre Vorgesetzte über den Sachverhalt und gibt im Anschluss eine korrigierte Version des Operationsplans weiter. Die Änderung wird dabei weder besprochen noch in den offiziellen Operationsplan transferiert.
Im Operationssaal befinden sich ein schwarzes Brett sowie der offizielle Operationsplan. Auf beiden wird die Operation fälschlicherweise als eine Amputation des linken Beines aufgeführt. Kurz vor dem Eingriff erscheint ein Techniker, um die erforderliche Ausstattung inklusive der Beinhalterung anzubringen. Weil in beiden Dokumenten die Operation am linken Bein ausgewiesen wird, bereitet er also die Beinstütze auf der linken Seite des Bettes vor. Direkt vor seiner Operation weist der Patient die Pflegefachkraft darauf hin, dass sein rechtes Bein amputiert werden soll. Obwohl sie den Fehler bereits früher erkannt und eine Korrektur an den Papieren vorgenommen hatte, setzt die Pflegefachkraft die Operationsvorbereitungen amlinken Bein fort. Beim Betreten des Operationssaals wird die Falschinformation erneut vom Chirurgen bestätigt und der Patient weiter vorbereitet. Nach etwa drei Viertel der Operationszeit entdeckt das Operationsteam seinen Fehler, setzt aber die Amputation des falschen Beines fort.

1.1 Problemfelder

Obwohl Operationen an der falschen Seite wie im Fallbeispiel oder gar Operationen am falschen Patienten relativ selten auftreten, kommen sie doch häufiger vor, als gemeinhin angenommen wird. Auch wenn es keine detaillierte Statistik über deren Häufigkeit gibt, steht es außer Frage, dass sie ein ernst zu nehmendes Problem darstellen. Die „Joint Commission“ (ehemals „Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations“ [JCAHO] und zuvor „Joint Commission on Accreditation of Hospitals“ [JCAH]), welche in den USA für die Akkreditierungen im Gesundheitssektor zuständig ist, veröffentlichte dazu die folgenden Zahlen: 152 falsche Operationen (falsche Seite/falsches Verfahren/falscher Patient) im Jahr 2011,93 in 2010, 149 in 2009, 116 in 2008 sowie 94 in 2007 (The Joint Commission 2012).
Diese chirurgischen Fehler sind Teil eines größeren Problems im Gesundheitswesen. In den letzten Jahrzehnten ist eine alarmierende Zahl von vermeidbaren und unerwünschten Ereignissen im Gesundheitswesen ans Licht gekommen. Verfügbare Daten zeigen, dass selbst in gut finanzierten und technologisch fortschrittlichen Krankenhäusern bei fast 10 % der Patienten Fehler in der Gesundheitsversorgung zu Verletzungen oder gar zum Tod führen (World Health Organization 2009). Diese Fehler mit einschneidenden Folgen ziehen eine Reihe schwieriger ethischer und rechtlicher Fragen nach sich, namentlich wie das Vorkommnis dem Patienten kommuniziert wird, wer für Fehler auf welche Weise zur Verantwortung gezogen wird, und wie die Geschädigten Gerechtigkeit erfahren können.

Fehlerkommunikation

Wie sollte dem Patienten ein unterlaufener Fehler kommuniziert werden? Von der wahrheitsgemäßen und umfassenden Information wurde in der Vergangenheit oftmals durch Vorgesetzte, Risikomanager, Anwälte und Versicherer aufgrund der Angst vor Haftungsklagen abgeraten. Studien zeigen, dass die meisten Ärzte die Offenbarung von Behandlungsfehlern im Prinzip unterstützen, in der Praxis jedoch wird das Vorhaben zu selten umgesetzt. Internationalen Untersuchungen zufolge teilen gerade einmal 30 % der Ärzte ihren Patienten das Auftreten eines schadensverursachenden Behandlungsfehlers mit (Gallagher und Lucus 2005). Es steht außer Frage, dass eine Falschamputation dem Patienten nicht verschwiegen werden kann. Nichtsdestotrotz ist fraglich, wie viel der Patient über die Umstände erfährt, unter denen dies geschehen konnte und ob sich das Spital bzw. die verantwortlichen Personen sich für den Fehler entschuldigen.

Fehlerverantwortlichkeit und Gerechtigkeit für Patienten

Wie sollte die Verantwortung für Zwischenfälle geregelt werden? Ein – herkömmlicher – Ansatz besteht darin, Schuld und Vorwürfe an die einzelne Person zu richten und diese der Inkompetenz, Unprofessionalität und Unfähigkeit, Patienten zu behandeln, zu beschuldigen (Liang 2002). Im Rahmen von Behandlungsverhältnissen sind Fehler jedoch meistens unbeabsichtigt, und sie werden von sich sorgenden Personen verübt, die nur die besten Intentionen haben. Die wenigsten Mitarbeiter imGesundheitswesen verletzten Patienten mit Absicht. Abgesehen davon können Behandlungsfehler in Spitälern mit ihren komplexen arbeitsteiligen Organisationsstrukturen häufig nicht monokausal auf das individuelle Versagen einer Person zurückgeführt werden. Viel-mehr sind es nicht selten Mängel in den organisatorischen Abläufen einer Institution, welche am Ursprung von Fehlern stehen.
Schließlich stellt sich nach Behandlungsfehlern die Frage, wie verletzten Patienten Gerechtigkeit widerfahren kann. Es gibt vielerlei Gründe, aus welchen Patienten einen rechtlichenWeg bestreiten. Wie von Bismark et al. (2006) festgestellt, lassen sich diese Gründe vier Hauptkategorien zuordnen:
  1. Kommunikation: das Bestreben, eine Erklärung und Begründung für den Vorfall, eine Anerkennung der Verantwortung sowie eine Entschuldigung zu erhalten;
  2. Korrektur: das Bestreben zu sehen, dass Systemveränderungen zur Verbesserung vorgenommen werden und ausgeschlossen wird, dass ein solcher Zwischenfall jemand anderem passieren kann;
  3. Wiedergutmachung: das Bestreben, eine finanzielle Kompensation für den erfahrenen Schaden, daraus resultierende zukünftige Einbußen sowie Wiedergutmachung für nicht monetäre Verluste zu erhalten;
  4. Sanktionierung: das Bestreben, den Verursacher für sein Versagen zum Beispiel durch ein Disziplinarverfahren zur Rechenschaft gezogen zu sehen.

1.2 Ethische Beurteilung

Für eine Profession, deren Hauptziel darin besteht, zu helfen oder zumindest keine Verletzungen zu verursachen, ist es fatal, wenn einem Patienten durch vermeidbare Fehler unnötiges Leid zugefügt wird. Was jedoch ist das ethisch korrekte Vorgehen nach einem Zwischenfall wie dem oben geschilderten?

Fehlerkommunikation

Wie nach jedem Fehler ist auch im Bereich der Medizin eine aktive und offene Kommunikation geboten. Der Zwischenfall sollte dem Patienten unverzüglich, einfühlsam und offen mitgeteilt werden. Fehler sollten anerkannt und entschuldigt werden, und es sollte sachlich erklärt werden, was vorgefallen ist. Außerdem ist das weitere Vorgehen zu besprechen und aufzuzeigen, mit welchen Mitteln gleichartige Vorfälle in Zukunft vermieden werden sollen. Die Wahrheit zu sagen ist von zentraler Bedeutung für jede Beziehung im Gesundheitswesen, und die ethische Verantwortung erfordert ehrliche Kommunikation mit Patienten und ihren Angehörigen (ACSQHC 2008).
Kein verantwortungsvoller Arzt kann argumentieren, dass Lügen oder Verheimlichung der Wahrheit eine ethisch vertretbare Option seien. Jedoch gibt es eine Reihe von Barrieren in der Fehlerkommunikation, die es erschweren, nach einem Fehler das Richtige zu tun. Dazu gehört die Angst der Ärzte vor rechtlicher Haftung, ein Mangel an institutioneller Unterstützung, eine Kultur der Geheimhaltung und Schuldzuweisung, mangelndes Vertrauen in die eigenen kommunikativen Fähigkeiten, Befürchtungen seitens des Arztes, den Patienten zu ängstigen, Furcht vor disziplinarischen Maßnahmen und Angst um den guten Ruf (Iedema et al. 2011).
Die Offenlegung von Fehlern hat vor allem in englischsprachigen Ländern wachsende Aufmerksamkeit von Politikern, Juristen und Akademikern erhalten. So wurden in verschiedenen amerikanischen Staaten, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland staatliche und organisatorische Standards und Richtlinien entwickelt, um ein klares und schlüssiges Konzept für die Offenlegung von Fehlern zu fördern. Einige Länder kennen spezifische „disclosure laws“, welche die Offenlegung unter bestimmten Umständen vorschreiben, sowie „apology laws“, wonach eine Entschuldigung in einem späteren Gerichtsverfahren nicht herangezogen werden darf, um die Schuld der verantwortlichen Medizinalperson zu beweisen (Mastroianni et al. 2010).

Fehlerverantwortlichkeit und Gerechtigkeit für Patienten

Wenn es um die Frage geht, wer für die falschseitige Beinamputation zur Rechenschaft gezogen werden sollte, hängt viel vom generellen Ansatz zum Umgang mit Fehlern ab. Wie James Reason (2000) beschrieben hat, werden zwei Ansätze zur Fehlerverursachung unterschieden, der personenbezogene Ansatz und der systembezogene Ansatz.
Der personenbezogene Ansatz ist der traditionelle Ansatz und konzentriert sich auf nicht korrekt durchgeführte Handlungen (Ausrutscher, Übersehen, Ungeschick, Fehler und Verfahrensfehler) von einzelnen medizinischen Fachkräften, die in direktem Kontakt mit den Patienten stehen. Nicht korrekt durchgeführte Handlungen entstehen in erster Linie aus menschlichem Versagen wie Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit, mangelnder Motivation, Nachlässigkeit und Rücksichtslosigkeit. Dieser Ansatz neigt dazu, Fehler als moralische Fragen zu behandeln, und unterstellt, dass schlimme Dinge von schlechten Menschen getan werden. Dem Menschen wird unterstellt, frei zwischen sicherem und gefährdendem Verhalten wählen zu können (Reason 2000).
Im Fall des Patienten mit der falschseitigen Amputation gab es offensichtlich eine Reihe von individuellen Fehlern, die zum verhängnisvollen Ereignis geführt haben. Anhänger des personenbezogenen Ansatzes suchen oft nicht weiter nach der Ursache von Fehlern, sobald sie solche unmittelbaren individuellen Fehler finden, im Glauben, dass solche Fehler nicht auftreten würden, wenn die Leute besser ausgebildet und besser motiviert wären. Einige individuelle Fehler sind sicherlich schwerwiegend, oftmals fällt jedoch das individuelle Versagen nicht so außerordentlich ins Gewicht. Die meisten Fehler werden durch fürsorgliche, kompetente Personen, die gut ausgebildet und gut motiviert sind, begangen. Durch die Fokussierung allein auf das Individuum isoliert der personenbezogene Ansatz die Person von ihrem Systemkontext. Wie der vorliegende Fall deutlich macht, könnte ein ähnlicher Kausalverlauf durchaus wieder auftreten und unabhängig von den beteiligten Personen einen ähnlichen Fehler verursachen.
Der personenbezogene Ansatz liegt Arzthaftungsprozessen zugrunde, in denen das Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) einzelner Personen Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch darstellt. Solche Haftungsprozesse zwischen Ärzten bzw. Spitälern und Patienten bzw. ihren Versicherungen werden als teuer, langwierig, schuldorientiert und als für die Beteiligten traumatisch kritisiert (Vincent 2003). Da Haftungsstreitigkeiten kontradiktorisch sind, müssen die Patienten zu einer Zeit um ihre Entschädigung kämpfen, zu der sie eigentlich Betreuung bräuchten. Außerdem verfolgen viele Patienten auch nicht monetäre Ziele, die auf dem Prozessweg tendenziell nicht erreicht werden können.
Der systembasierte Ansatz bietet eine zusätzliche Möglichkeit, die kausale Kette von Fehlern aufzudecken. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass Menschen fehlbar sind und vor allem in komplexen Arbeitsstrukturen mit Fehlern gerechnet werden muss. Dem systembasierten Ansatz folgend haben die meisten Fehler ihren Ursprung im organisatorischen Umfeld und können nicht allein auf das Handeln einer Person zurückgeführt werden. Der systembasierte Ansatz fördert eine schuldfreie Umgebung und betrachtet jeden Fehler als eine Ressource, aus der man lernen kann und mit deren Hilfe sich die Qualität verbessern lässt (Reason 2000).
Die Kette von Ereignissen, die im Fallbeispiel zur Amputation des falschen Beines führte, erfordert ein systemorientiertes Verständnis solcher katastrophaler Fehler: Es gibt keine isolierte Ursache für den Zwischenfall, sondern vielerlei Beiträge, von denen jeder einzelne nicht ausreicht, um die Verletzung zu verursachen; vielmehr ist es die Verknüpfung verschiedener Umstände, die zum Schaden geführt hat (vgl. Banja 2005). Sofern solche systemischen Schwächen nicht angesprochen werden, bleiben Fallstricke erhalten.
Der systembasierte Ansatz zeigt sich in Entschädigungssystemen, in denen vom individuellen Verschulden abstrahiert wird. Solche verschuldensunabhängigen Entschädigungssysteme sind in unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen Ländern verwirklicht, beispielsweise in Dänemark, Schweden, Finnland oder Neuseeland (Vincent 2003; Studdert und Brennan 2001). Es wird angeführt, dass ein solcher Ansatz eine Reihe von positiven Auswirkungen hat, indem Patienten in einer raschen, fairen, erschwinglichen und transparenten Weise entschädigt werden und zudem das medizinisches Fachpersonal ermutigt wird, Fehler zu melden (Studdert und Brennan 2001).
Insgesamt besteht die Herausforderung darin, die richtige Balance zwischen individueller Verantwortung und Systemverantwortung zu finden. Ein systemorientierter Ansatz darf nicht dazu führen, dass sich medizinisches Fachpersonal im Fall persönlich zurechenbarer Fehler hinter der Organisation versteckt und sagt: „Gib mir nicht die Schuld, es war ein rein systemisches Problem“. Zumindest grobe individuelle Fehler sollten auch im Rahmen eines grundsätzlich systemorientierten Ansatzes gegenüber der fehlbaren Person geahndet werden. In jedem Fall sollte der geschädigte Patient unverzüglich, gerecht, kostengünstig und transparent entschädigt werden. Darüber hinaus sollte es Mechanismen geben, die Patienten ermöglichen, nicht-monetäre Ziele zu erreichen.

1.3 Rechtliche Beurteilung

1.3.1 Schweizerisches Recht

Bernhard Rütsche, Nadja D’Amico

Die Frage der Fehlerkommunikation hängt eng mit der Frage zusammen, unter welchen Voraussetzungen fehlbare Medizinalpersonen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Wenn Ärzte und anderes medizinisches Fachpersonal damit rechnen müssen, dass ein kommunizierter Fehler in einem juristischen Verfahren gegen sie verwendet werden kann, werden sie sich davor hüten, eigenes Fehlverhalten offenzulegen.

Fehlerkommunikation

Das schweizerische Recht kennt keine sog. „apology laws“, d. h. Regelungen, die eine freiwillige Kommunikation von Behandlungsfehlern durch eine Entlastung von rechtlicher Verantwortlichkeit honorieren würden. Immerhin kann aber in einem Strafverfahren oder auch in einem Disziplinarverfahren die Tatsache, dass ein Fehler offen kommuniziert und mit einer Entschuldigung verbunden worden ist, zu einer milderen Sanktion führen. Abgesehen davon erreicht der Schädiger indessen keine rechtlichen Vorteile, wenn er Fehler zugibt. Vielmehr kann er sich auf das sog. Schweigerecht berufen, wenn ihm eine strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung droht: Demnach haben beschuldigte Personen das Recht, in einem Strafverfahren zu schweigen und sich nicht selber zu belasten („nemo tenetur se ipsum accusare“; vgl. BGE 131 IV 36 E. 3.1 S. 40f.).
Anders präsentiert sich allerdings die Lage, wenn durch das Verschweigen von Behandlungsfehlern für den Patienten Folgeschäden resultieren können. Unterlässt es in solchen Situationen der verantwortliche Arzt, den Patienten über das unerwünschte Ereignis aufzuklären, verletzt er berufliche Sorgfaltspflichten. Erleidet der Patient eine zusätzliche Schädigung, welche durch eine rechtzeitige Fehlerkommunikation vermeidbar gewesen wäre, muss der Arzt auch für diese Schädigung rechtlich einstehen. Ärzte werden mit Blick auf solche Konstellationen aus strategischen Gründen dazu neigen, einerseits offenzulegen, dass eine Folgebehandlung notwendig ist, ohne aber anderseits zuzugeben, dass sie einen Fehler b...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einband
  2. Weitere empfehlenswerte Titel
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Autorenverzeichnis
  6. Inhalt
  7. A Medizin: klinische Praxis
  8. B Biowissenschaften: Forschung und Entwicklung
  9. Abkürzungsverzeichnis
  10. Sachregister