1. Einführendes
Die Rede vom Sprachverfall wurde von der Sprachwissenschaft aus guten Gründen schon oft kritisiert, zumindest relativiert und historisch situiert (z.B. Beck 1996; Bittner/Köpcke 2008; Görtz 1990; Keller 2006; Klein 1986; Maercker 2006). Für die öffentliche Sprachdiskussion, die an diesem Punkt mindestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der literarischen Sprachreflexion verknüpft ist (Görtz 1990), besaß das bisher kaum große Nachwirkungen. Dort verkörpert sich die Rede vom Sprachverfall weiterhin in recht unterschiedlichen Formen. Eine Variante sieht so aus, dass der Sprachverfall mit der angeblichen Missachtung von Regeln in Verbindung gebracht wird. Man greift „Fehler“ im Sprachgebrauch auf und sieht darin die Unkenntnis gültiger Sprachnormen. „Falscher“ Sprachgebrauch zeigt demnach den allmählichen Untergang des Deutschen, zumindest des „guten“, „normgerechten“ Deutsch. Regelunkenntnis führt, so die Unterstellung, zu Sprachverfall, da wesentliche Sprachgesetze nicht mehr befolgt werden.
In dieser Sichtweise könnten öffentliche Sprachdiskussion und sprachwissenschaftliche Forschung bis zu einem gewissen Punkt zueinander finden. Denn auch für die Sprachwissenschaft ist das Kalkulieren mit Regeln von großer Bedeutung: Wer eine Sprache systematisch beschreiben und analysieren möchte, wird in der einen oder anderen Form mit einem Regelbegriff arbeiten müssen. Noch diesseits aller grammatiktheoretischen Differenzen lässt sich davon ausgehen, dass jedes Sprachsystem im Kern aus einer begrenzten Anzahl von Sprachregeln besteht.
Nun unterscheiden sich allerdings die nicht-sprachwissenschaftliche und die sprachwissenschaftliche Sicht auf Sprachregeln in einem entscheidenden Punkt: Linguistische Laien sehen in sprachlichen Regeln meistens explizite Regelformulierungen, wie man sie etwa aus dem Schulunterricht kennt. Solche (präskriptiven) Sprachregeln sollen dann etwa in den Duden-Publikationen und verwandten Sprachanweisungen stehen. Sprachwissenschaftler dagegen arbeiten mit einem deskriptiven Regelbegriff, der gerade nicht an expliziten Formulierungen, sondern an der „unbewussten“ Wirksamkeit von Regeln ansetzt. Wer eine Sprache spricht, folgt diesen („subsistenten“, „impliziten“) Regeln, auch wenn er nicht in der Lage ist, sie ausdrücklich anzugeben. Demgegenüber stellen explizit formulierte Regeln, die oft mit dem Begriff „Sprachnormen“ gleichgesetzt werden, für Sprachwissenschaftler – wenn überhaupt – nur einen sekundären Gegenstand dar. Insbesondere zielt die Sprachwissenschaft auch nicht darauf ab, explizite Sprachnormen präskriptiv zu verhängen. Ihre Tätigkeit ist vielmehr der deskriptiven Rekonstruktion von Sprachgebrauchsregeln gewidmet, nicht der Durchsetzung von Regeln in einer Sprachgemeinschaft.
Vor dieser Spannung zwischen der sprachwissenschaftlichen und der nicht-sprachwissenschaftlichen Sicht auf „Regeln“ möchte ich mich hier mit der Frage der Kodifizierung des Deutschen beschäftigen. Dieses Thema berührt einerseits die nicht-sprachwissenschaftliche Sicht auf Regeln, weil sich die Kodifizierung einer Sprache in expliziten Regelformulierungen ausdrückt. Andererseits ist die Kodifizierungsproblematik ein Gegenstand, der in der bisherigen Forschung zwar immer wieder berührt wurde, der aber noch nie zum primären Forschungsobjekt erhoben wurde. Darin sehe ich ein großes Defizit. Diese Skizze stellt daher auch ein Plädoyer zur Etablierung einer Sprachkodexforschung dar. Im Laufe des Texts soll sich insofern zeigen, dass sowohl die öffentliche Sprachdiskussion als auch die sprachwissenschaftliche Forschung erheblich gewinnen könnte, wenn man genauer als bisher über die Geschichte, das Ausmaß und die Konsequenzen der Kodifizierung des Deutschen Bescheid wüsste.
2. Was ist ein Sprachkodex?
Mit dem Begriff der Kodifizierung bezeichnet man den Umstand, dass eine bestimmte Form einer Sprache ausdrücklich in schriftlichen Regelwerken beschrieben bzw. normiert wird. In diesen metasprachlich einschlägigen Schriftstücken (v.a. Grammatiken, Wörterbücher) liegt der Kodex einer Sprache vor, der sich auf eine funktional besonders leistungsfähige und prestigebehaftete Varietät einer Sprache („Standardvarietät“) bezieht (z.B. Metzler Lexikon Sprache 2010, Artikel Kodifizierung). Neben gebrauchsorientierten Zugängen zur Standardsprache gibt es üblicherweise kodexorientierte Versuche festzustellen, was zur deutschen Standardvarietät gehört und was nicht (Klein 2013, S. 26 ff.).
In sprachhistorischer Perspektive lässt sich davon ausgehen, dass durch die Existenz eines Sprachkodex die Geschichte einer Sprache ein neues Entwicklungsstadium erreicht. Dies legen jedenfalls die einschlägigen Übersichtswerke nahe, wenn sie die Geschichte der Grammatikschreibung und der Lexikografie in eine chronologische Darstellung des Deutschen integrieren und damit der Kodifizierung, zumindest mittelbar, eine besondere Wirkungskraft zuschreiben (z.B. Schmidt 2007, Kap. 1.5.3, 1.6.2, 1.7.5, 1.8.4; Polenz 1994, Kap. 5.6/5.7; ders. 1999, Kap. 6.6). In der Kodifizierung einer Sprache wird demnach ein wichtiger Aspekt der Standardisierung einer Sprache, d.h. der Herausbildung einer Standardvarietät, gesehen (Ammon 1986, 1995, S. 74 ff., 2005).
Ganz allgemein kann man vor diesem Hintergrund festhalten, dass sich Sprachen angesichts der Frage prinzipiell unterscheiden, ob sie kodifiziert sind oder nicht. Für die großen europäischen Kultursprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Deutsch) existiert eine teilweise weit in die Vergangenheit zurückreichende Kodifizierungsgeschichte, während andere Sprachen überhaupt nicht oder – sprachhistorisch gesehen – erst seit kurzem kodifiziert vorliegen. Eine kleine Analogie zur Rechtssphäre mag die Auswirkungen dieser Kodifizierungen illustrieren: Die Ordnung einer Gesellschaft ändert sich in dem Moment grundlegend, wenn gültige Gesetze und Verbote nicht mehr nur mündlich aktualisiert, sondern schriftlich festgehalten werden. Auf einer Gesetzesstele wurden grundlegende Regeln eben „in Stein gemeißelt“.
In alteuropäischer Tradition lässt sich hier auf die Bedeutung der mesopotamischen Gesetzgebung (Codex Hammurabi), der mosaischen Gesetzestafeln (Zehn Gebote) und der einschlägigen juristischen Rechtskodifikationen (Codex Iustinianus) verweisen. In derlei normativ-schriftlichen Gründungsakten verkörpert sich das Bewusstsein, dass Regeln dann eine größere Legitimität gewinnen, wenn sie schriftlich formuliert sind. Auf Sprache übertragen: Wer in einer Situation kommuniziert, in der bestimmte sprachliche Einheiten ausdrücklich gegenüber anderen favorisiert werden, agiert unter anderen Rahmenbedingungen als derjenige, dem entsprechende Schriften nicht zur Verfügung stehen. Oder anders perspektiviert: Wenn es einen Sprachkodex gibt, wird das individuelle und kollektive Sprachbewusstsein samt der korrespondierenden Sprachaufmerksamkeit anders aussehen als in einer Situation, wo keine Sprachregeln „festgeschrieben“ sind. Schon vor diesem Hintergrund dürfte deutlich werden, dass die Sprachkodexforschung keinesfalls an den Rand, sondern ins Zentrum einer wirklichkeitsnahen Sprachwissenschaftskonzeption gehört.
Nun sollte man die Analogie zwischen der Sphäre des Rechts und der Sphäre der Sprache sicher nicht zu weit treiben. Sie kann auch in die Irre führen. Eine Anknüpfung an dieses schriftorientierte Legitimitätsdenken scheint mir aber immer dann vorzuliegen, wenn mit mehr oder weniger großer Geste auf die Einschlägigkeit von Sprachkodifizierungen hingewiesen wird. Dies kann sowohl in der öffentlichen Sprachdiskussion erfolgen als auch in der sprachwissenschaftlichen Forschung. In beiden Fällen sieht man in Kodifizierungen relevante Instanzen unserer Sprachwirklichkeit. Ein erheblicher Unterschied liegt hier allerdings wieder in der Perspektive und dem Deutungshorizont: Nicht-Sprachwissenschaftler beziehen sich bekanntlich oft affirmativ auf die (angeblichen, zeitlos „gültigen“) Kodifizierungen, etwa in den Duden-Publikationen. Für Sprachwissenschaftler sind die Kodifizierungen dagegen eher gegebene, oft nicht besonders relevante Instanzen der Standardisierung, deren präskriptive Kraft von Fall zu Fall relativiert und kritisiert werden muss. Für beide gilt: Wer Sprachkodifizierungen in den Blick nimmt, sollte auch im Detail darüber Rechenschaft ablegen können, von welchem Kodex-Begriff er ausgeht und welche Gehalte damit verbunden sind. Gefragt ist also eine Präzisierung von Sprachkodex, die durch eine realistische Sicht auf unsere Sprachwirklichkeit gestützt wird. Vor diesem Hintergrund schlage ich die folgende Definition vor:
Zum Sprachkodex einer Sprache gehören alle metasprachlichen Schriften, die für eine Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als Normautoritäten zur Verfügung stehen und von ihr auch als Normautoritäten wahrgenommen werden. Der Sprachkodex kann sich auf unterschiedliche Ebenen und Instanzen der Sprache beziehen: Aussprache, Schreibung, Grammatik (Wort- und Wortformenbildung, Syntax), Lexik, Semantik, Pragmatik.
Mit dieser Definition knüpfe ich an den üblichen Gebrauch dieses Terminus in der Sprachwissenschaft und seine fachlexikografische Beschreibung an. Einiges sei freilich ausdrücklich erläutert und zugespitzt: Nach meiner Definition kann man davon ausgehen, dass ein Sprachkodex in der Regel nicht aus einer einzigen Schrift, sondern aus mehreren, ggf. (sehr) vielen Texten besteht. Das richtet sich auch gegen die häufig zu beobachtende Unterstellung, dass letztlich nur eine bestimmte Schrift als Kodex zu begreifen ist. Was für die Orthographie in bestimmten historischen Situationen noch eine gewisse Plausibilität haben mag, nämlich die Identifikation eines Kodex mit einem einzigen rechtsförmigen Text, das ist auf den anderen Sprachebenen und je nach historischer Situation eine suggestive Annahme, die wenig mit der Sprachrealität zu tun hat. Denn Grammatik und Lexik, Textstrukturen und Sprechaktvollzug wurden für die deutsche Sprache bekanntlich noch nie „staatlich geregelt“. Es gibt keine Bibel der Grammatik oder der Syntax, so wie es – wenigstens in einer bestimmten Sicht – eine Bibel der Rechtschreibung gibt.
In den meisten Fällen besteht der Kodex also aus einer Reihe von Schriften, die von der Sprachgemeinschaft in Normfragen von Fall zu Fall als Normautoritäten wahrgenommen und konsultiert werden. Letzteres richtet sich vor allem dagegen, tendenziell jede – auch jede wissenschaftliche –Sprachbeschreibung als Kodifikation zu verstehen. Für die Aufnahme in den Kodex sind nämlich die faktische Reichweite und der tatsächliche Gebrauch innerhalb einer Sprachgemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Es muss also Hinweise darauf geben, dass eine bestimmte, der Sprache gewidmete Schrift in orientierender Absicht von vielen Menschen benutzt wird. Das geschieht wahrscheinlich oft in sprachlichen Zweifelsfällen (dazu näher Klein 2003, 2006, 2009, 2011).
Natürlich ist es nicht einfach, die breite Nutzung einer Schrift tatsächlich nachzuweisen. Wie so oft stellen sich in der Folge von Definitionen gravierende empirisch-methodologische Probleme. Sie können sicher nicht immer definitiv gelöst werden, vor allem nicht für die (fernere) Vergangenheit. Deshalb sei hier nur angedeutet, dass man an dieser Stelle etwa auf die wiederholte Auflage von Büchern und ihre Resonanz in der öffentlichen Diskussion verweisen kann, wenn man die Zusammenstellung des Kodex erwägt. Bestimmte Publikationen gehören im Buchhandel faktisch zu den Bestsellern. Ihre Autoren tauchen in der medialen Sprachdiskussion immer wieder auf. Für linguistische Fachpublikationen i.e.S. dürfte eine solche Konstellation in der Regel nicht vorliegen. Die meisten Grammatiken des Deutschen sind zwar beeindruckende Bücher, werden aber – das lässt sich ohne weitere Untersuchung feststellen – weder von linguistischen Laien noch in der öffentlichen Sprachdiskussion wahrgenommen. Sie gehören daher nicht zum Kodex.
Angesichts dieser Problematik kommt schon eine erste, durchaus zentrale Aufgabe der Sprachkodexforschung in Sichtweite: Welche Texte gehören überhaupt zu einem gegebenen Zeitpunkt zum Sprachkodex? Jede Antwort auf diese Frage steht u...