Frühkindliches Lernen in sozialen Interaktionen
Welche Rolle spielt Verkörperung?
Abstract: Infants and young children learn most efficiently through direct social interactions. In this paper, I address why social interactions represent such important learning opportunities in early childhood and what role embodiment may play for early social learning. Based on empirical findings, I explicate when and how infants begin identifying other people as humans, intentional agents, and potential teachers. Contingency in teacher-learner interactions is identified as a central aspect of successful social learning. This may be due to the effects of contingent feedback on children’s motivation. In addition to examining healthy development, I discuss development in children with autism spectrum disorder, which is characterized by deficient social learning.
Soziale Interaktionen stellen schon früh in der menschlichen Entwicklung wichtige Lernsituationen dar. Säuglinge lernen von ihren Bezugspersonen viel über die Welt und nicht zuletzt auch über Personen, über Handlungen und Absichten. Beobachtungslernen und instruiertes Lernen sind in vielerlei Hinsicht effektiver als selbstständiges Lernen. Da bedeutsame Informationen hervorgehoben werden, können irrelevante Reize leichter ausgeblendet werden. Soziales Lernen ist zudem schneller und weniger gefährlich als selbstständiges Lernen durch trial-and-error. Die experimentelle Säuglingsforschung hat gezeigt, dass direkte soziale Interaktionen schon früh in der Entwicklung einen besonders günstigen Einfluss auf das Lernen haben. Eine Studie zur Unterscheidung von Sprachlauten soll hier beispielhaft genannt werden:
In der Studie von Kuhl, Tsao und Liu interagierten neun Monate alte amerikanische Babys über vier Wochen mehrmals mit Muttersprachlern in Mandarin.58 Die Muttersprachler zeigten ihnen Bücher und Spielzeuge und verwendeten dabei die typische „Ammensprache“ mit übertriebener Betonung und Sprachmelodie. Eine Kontrollgruppe interagierte im gleichen Zeitraum mit Muttersprachlern auf Englisch. Nach dem Training, im Alter von zehn Monaten, wurde die Fähigkeit der Kinder getestet, Phoneme in Mandarin zu unterscheiden, die im Englischen nicht als unterschiedliche Sprachlaute existieren. Säuglinge verlieren in diesem Alter normalerweise die Fähigkeit, Laute ihnen fremder Sprachen zu diskriminieren.59 Wie erwartet gelang es den Kindern der Kontrollgruppe nicht, die Phoneme zu unterscheiden. Dagegen zeigten zehn Monate alte Babys, die mit chinesischen Muttersprachlern interagiert hatten, eine ähnliche Diskriminationsleistung in Mandarin wie gleichaltrige chinesische Säuglinge. Daraufhin wurden zwei weitere Gruppen getestet, die den gleichen sprachlichen Input in Mandarin bekamen wie die Experimentalgruppe, allerdings in Form von Video- oder Tonbandaufzeichnungen. Im späteren Test zeigten sie wie die Kontrollgruppe keine Hinweise darauf, dass sie Sprachlaute auf Mandarin besser unterscheiden können als Kinder, die nie Mandarin gehört hatten.60 Dieser Befund wirft mehrere wichtige Fragen auf. Was ist es, das soziale Interaktionen für das Lernen so bedeutsam macht? Lassen sich Unterschiede in der Lernleistung im sozialen Kontext im Vergleich zu anderen Situationen durch quantitative Unterschiede in der Aufmerksamkeit erklären oder gibt es bedeutsame qualitative Unterschiede?
Ich werde diskutieren, welche Bedeutung die Anwesenheit und Interaktion anderer Menschen, insbesondere unter Berücksichtigung der Verkörperung, für das Lernen in der frühen Entwicklung hat. Dabei werde ich auf mehrere theoretische Ansätze der sozial-kognitiven Entwicklungspsychologie Bezug nehmen. Die im Folgenden zusammengefasste experimentelle Forschung zeigt, dass schon Neugeborene ihre Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf Menschen richten und von Anfang an auf soziale Interaktionen eingestellt sind. Ich erörtere, welche Attribute erforderlich sind, damit Säuglinge einen Stimulus als intentional handelnden Agenten wahrnehmen, und wodurch aus einem Agenten in der direkten Interaktion ein potentieller „Lehrer“ wird. Schließlich diskutiere ich die Relevanz von Kontingenz als zentralem Merkmal sozialer Interaktionen sowie die damit einhergehende Affektabstimmung und vermutlich erhöhte Motivation für das Lernen. Ich werde argumentieren, dass die verkörperte Interaktion mit anderen Menschen, zu der schon früh in der Entwicklung die Imitation gehört, einen besonderen Lernkontext darstellt, in welchem relevante Inhalte und Handlungen effektiver gelernt werden können als durch passive Beobachtung oder in nicht sozialen Kontexten. Neben der normalen Entwicklung werde ich auch die Entwicklung bei Autismus-Spektrum-Störungen berücksichtigen. Autismus-Spektrum-Störungen sind vor allem durch qualitativ verändertes Sozialverhalten und Schwierigkeiten in der Kommunikation gekennzeichnet, die zum Teil bereits im zweiten Lebensjahr festgestellt werden können.61 Die Sprachentwicklung sowie das soziale Lernen sind bei Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt. Am Beispiel von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen wird daher eindrücklich erkennbar,welche Probleme entstehen, wenn Interaktionen mit anderen Menschen nicht die normalen Auswirkungen auf das Lernen und das Hineinwachsen in soziale und kulturelle Kontexte haben.
1Menschen entdecken
Bereits wenige Stunden alte Säuglinge folgen Gesichtern mit ihren Blicken, während sie das Interesse für ähnlich komplexe Reize, die nicht einem Gesicht ähneln, viel schneller verlieren.62 Gesichter, die mit dem Kind Augenkontakt aufnehmen, werden deutlich länger angeschaut als Gesichter, die den Blick abwenden oder die Augen geschlossen haben.63 Auch sind lächelnde Gesichter interessanter als ängstliche.64 Neugeborene reagieren zudem besonders auf Sprachlaute, insbesondere die Stimme und Sprache der Mutter, die sie bereits aus der Zeit im Mutterleib kennen.65 Babys richten also ihre Aufmerksamkeit ab der Geburt in besonderem Maße auf andere Menschen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn diese Personen die Bereitschaft signalisieren, mit dem Baby zu interagieren, beispielsweise durch Blickkontakt, Lächeln und Ansprache.
Tatsächlich sind Neugeborene nicht nur passiv in der Lage, Kontaktangebote wahrzunehmen. Sie können in rudimentärer Form auch bereits aktiv in eine gegenseitige Interaktion mit anderen treten. Bereits Stunden nach der Geburt imitieren Babys einfache mimische Gesten.66 Beispielsweise öffnen sie den Mund oder strecken die Zunge heraus, wenn es ihnen wiederholt von einer Person in ihrem Gesichtsfeld vorgemacht wird. Auch die Finger- und Handbewegungen Neugeborener unterscheiden sich sowohl quantitativ als auch qualitativ in Reaktion auf sich selbst bewegende Objekte im Vergleich zu Personen, die ihnen Objekte reichen.67
Neugeborene richten ihre Aufmerksamkeit also auf Menschen, die sich ihnen zuwenden, und reagieren auf diese Versuche zur Kontaktaufnahme im Rahmen ihrer eigenen motorischen Möglichkeiten. Die Anwesenheit und Zuwendung einer Person hat somit einen Einfluss auf die körperliche Aktivität des neugeborenen Babys. Soziale Interaktion ist insofern von Anfang an ein verkörpertes Phänomen.
Möglicherweise beruht die frühe Fähigkeit zur Imitation auf der Aktivität sogenannter Spiegelneurone, die sowohl bei der Beobachtung einer Handlung als auch beim Ausführen einer Handlung aktiv sind.68 Allerdings ist momentan ungeklärt, ob solche Neurone beim Neugeborenen existieren. Elektrophysiologische Studien mit neun und 14 Monate alten Säuglingen haben gezeigt, dass Babys in diesem Alter überlappende Aktivierungen des motorischen Systems zeigen, sowohl wenn sie einfache Handlungen ausführen (Greifen, Knöpfe drücken) als auch wenn sie die gleichen Handlungen bei anderen beobachten.69 Es kann daher zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass auch Neugeborene über ein funktionierendes Spiegelneuronensystem verfügen. Allerdings haben Säuglinge im Alter von neun Monaten in der Regel schon beträchtliche motorische Erfahrungen gemacht und konnten auch die getesteten Handlungen bei anderen Menschen schon häufig beobachten. Neurophysiologische Studien mit jüngeren Kindern sind daher notwendig.
Unabhängig vom neuronalen Korrelat der Neugeborenenimitation wurde vorgeschlagen, dass Säuglinge eine Äquivalenz zwischen sich selbst und anderen Menschenwahrnehmen, die es ihnen erlaubt, die Handlungen anderer als eigene Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen, nachzuahmen und schließlich zu interpretieren.70 Laut Meltzoff und Decety lernen Säuglinge durch eigene Erfahrungen nach und nach Bezüge zwischen ihren eigenen Handlungen und mentalen Erlebnissen (z. B. Intentionen) herzustellen.71 Durch die wahrgenommene Äquivalenz zwischen eigenen Handlungen und den Handlungen anderer sind schließlich auch Rückschlüsse auf deren mentalen Erlebnisse und Zustände möglich.72 Demnach wäre die frühe Fähigkeit zur Imitation einer der Grundbausteine für die Entwicklung der theory of mind, also der Fähigkeit, die mentalen Zustände und Erlebnisse anderer Personen nachzuvollziehen.
Ab dem Alter von etwa zwei Monaten zeigen Säuglinge auf Angebote zur Kontaktaufnahme hin eine Reihe emotionaler Reaktionen, die darauf schließen lassen, dass sie sich bewusst sind, im Fokus der Aufmerksamkeit einer anderen Person zu stehen.73 Beispielsweise zeigen Babys in Reaktion auf wiederholte Kontaktaufnahme durch vertraute Personen oft typische Anzeichen von Schüchternheit.74 Sie lächeln dann, wenden dabei Blick und Kopf zur Seite und heben die Arme vor das Gesicht. Außerdem lächeln sie mehr, wenn ein Erwachsener mit ihnen Augenkontakt aufnimmt, als wenn er stattdessen ihre Ohren fokussiert.75 Mit etwa vier Monaten versuchen Babys dann gezielt, die Aufmerksamkeit von Erwachsenen auf sich zu ziehen, beispielsweise durch Lautieren und „Rufen“.76 Diese Befunde zeigen deutlich, dass sehr junge Säuglinge nicht nur mit ihrer motorischen Aktivität auf Kontaktangebote von Erwachsenen reagieren, sondern auch emotionale und somit physiologische Reaktionen zeigen. Indem sie das Lächeln von ihnen zugewandten Personen erwidern, stimmen sie ihren Affekt auf den des Interaktionspartners ab, was ebenso wie die Imitation einen wichtigen Aspekt verkörperter Interaktion über die ganze Lebensspanne hinweg darstellt.77
2Wer oder was ist ein Agent?
Neugeborene nehmen also die Anwesenheit anderer Menschen wahr und reagieren sowohl motorisch als auch physiologisch-emotional auf deren Kontaktangebote. In den ersten Lebensmonaten nach der Geburt lernen Säuglinge dann die Ziele intentional handelnder Agenten zu erkennen bzw. aus ihren Handlungen vorherzusagen.78 Gemäß Meltzoff und Decety ist das möglich, weil Säuglinge zunächst ihre eigenen Handlungen mit mentalen Zuständen verknüpfen und dann auf andere Personen generalisieren, die ähnliche Handlungen durchführen und denen daher ähnliche mentale Zustände, z. B. Wünsche und Intentionen, zugeschrieben werden („like me“).79
Dafür ist es zunächst notwendig, zwischen intentionalen Agenten und anderen sich bewegenden Stimuli zu unterscheiden. Bereits Neugeborene schauen länger auf Darstellungen einer biologischen Bewegung als einer zufälligen oder mechanischen Bewegung, wenn ihnen point-light-displays gezeigt werden, die lediglich die Bewegungsinformation durch dynamische Lichtpunkte darstellen.80 Biologische Bewegung ist unter anderem...