1. Einleitung : Diplomatie unter Druck
»Ein Gesandter ohne Macht […] sieht recht schön aus, kostet recht viel Geld, hat aber sonst gar keinen Zweck«1. Der Abgeordnete Rudolph Bamberger äußerte diesen Satz im Darmstädter Landtag im Jahr 1867 während einer Debatte zu dem Thema, ob das großherzogliche Gesandtschaftswesen aufrechtzuerhalten sei2. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt verfügte zu diesem Zeitpunkt wie viele deutsche Staaten über eigene Diplomaten, darunter auch und gerade in Paris. Insbesondere bei Diplomaten aus kleineren Staaten – laut Bamberger »ohne Macht« – stellte und stellt sich jedoch die Frage, ob sie nicht als dekorative Statisten ein unnötiger Kostenfaktor waren. Die Problematik ist nach wie vor relevant – bis heute wird die Lebensweise von Diplomaten oft zuerst mit aufwändigen Empfängen in eleganten Botschaftsgebäuden verbunden, womit meistens Zweifel an ihrem Nutzen einhergehen.
Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen die deutschen Diplomaten, die in den Jahren zwischen dem Wiener Kongress von 1815 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 in Paris tätig waren. In der französischen Hauptstadt waren zu dieser Zeit neben Preußen und Österreich Bayern, Baden, Hannover, Hessen-Darmstadt, Hessen-Kassel, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Nassau, Sachsen, Sachsen-Weimar-Eisenach, Württemberg sowie die Freien Städte Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt diplomatisch vertreten. Als souveräne Staaten besaßen sie eigene außenpolitische Ziele, wenngleich sie dem Deutschen Bund angehörten, der infolge der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress von 1815 geschaffen worden war. Eine deutsche Botschaft entstand erst im Zuge der Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahr 1871 und ging mit der Auflösung der bestehenden einzelnen Vertretungen – mit Ausnahme der bayerischen Gesandtschaft – einher.
Die Vielzahl deutscher diplomatischer Vertreter in Paris in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts legt nahe, dass diese dort unentbehrlich schienen. Ihre Präsenz war jedoch hinterfragbar, denn die Diplomaten gerieten auf vielfältige Weise unter Druck. Ein Ausgangspunkt der Kritik war die Situation zur Zeit des Deutschen Bundes, als dessen Mitgliedsstaaten jeweils das aktive und passive Gesandtschaftsrecht besaßen und ausübten. Daraus ergaben sich Ressentiments, wie sie der badische Diplomat Leopold von Stetten im Jahr 1857 zum Ausdruck brachte: »Es gibt eine Anzahl Leute, welche Klasse auch unter den Staatsbeamten beträchtlich verbreitet, und der Ansicht ist, daß die Diplomatie im allgemeinen keinen besonderen Werth habe, in Deutschland aber namentlich in den Staaten zweiten Rangs ziemlich überflüssig sei«3. Mit der vermeintlichen Nutzlosigkeit vor allem kleinerer Vertretungen ging das Problem einher, dass jene deutschen Staaten kaum eine eigenständige Außenpolitik verfolgen konnten4. Für kleinere Staaten war es zudem sehr kostspielig, diplomatische Vertretungen zu unterhalten. Die mögliche Konsequenz, keine eigenen Diplomaten mehr nach Paris zu entsenden, schien nicht abwegig, wurde mehrfach erwogen und auch gezogen. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt etwa wurde zeitweise vom badischen Diplomaten in Paris vertreten; im Jahr 1867 stand die hessen-darmstädtische Vertretung vor ihrer Auflösung. Eine andere Möglichkeit der Kostensenkung bestand darin, Diplomaten in mehreren Staaten zu akkreditieren oder ihren Rang herabzustufen5. Umgekehrt gab es Diplomaten an zahlreichen deutschen Standorten, was Markus Mößlang für Großbritannien untersucht hat: Er konstatiert, dass der Beitrag der Diplomaten aufgrund der marginalen Bedeutung ihres Standorts als gering einzuschätzen sei und sie mitunter mehr bei der Jagd anzutreffen gewesen seien als in der Stadt, von der aus sie über das dortige Geschehen hätten berichten sollen6.
Die Zweifel an ihrem Nutzen betrafen darüber hinaus nicht nur die Diplomaten der kleineren Staaten, sondern auch ihre Kollegen der beiden großen Staaten Preußen und Österreich. Der österreichische Botschafter Hübner sah es im Jahr 1854 als beunruhigende Tendenz an, dass Staatsoberhäupter sich zunehmend unmittelbar in außenpolitische Belange einmischten:
Es wäre überhaupt im diplomatischen Geschäftsverkehre gut, nicht allzu oft an die direkte Vermittlung der Herrscher zu appellieren, wie es in letzterer Zeit in Paris sowie in Wien Mode geworden ist. Macht der Minister oder der Botschafter einen Fehltritt, so kann ihn sein Herr desavouieren. Hat sich aber das Staatsoberhaupt in einer Unterredung mit einem auswärtigen Agenten geirrt, so steht ihm dieses Mittel nicht zur Verfügung. Der Souverän kann sich nicht selbst ein Dementi geben, ohne die Krone bloßzustellen7.
Hübner bemühte sich, seine eigene Notwendigkeit herauszustellen, da er seinen Wirkungskreis durch das Staatsoberhaupt bedroht sah. In eine ähnliche Richtung deuten die Worte des Abgeordneten der portugiesischen Pairskammer Miguel O’Lorio aus dem Jahr 1867, die der »Preußische Staats-Anzeiger« abdruckte; über dieses Medium könnten auch die preußischen Diplomaten in Paris die Botschaft zur Kenntnis genommen haben:
In diesem Jahrhundert der Eisenbahnen und Telegraphen bedarf es weder eines diplomatischen Corps, noch der Botschafter und Gesandten mehr an auswärtigen Höfen. Der Minister des Auswärtigen kann sich persönlich nach den Ländern begeben, wo seine Gegenwart zur Lösung internationaler Angelegenheiten nützlich sein wird8.
O’Lorio spricht dem Außenminister, nicht dem Staatsoberhaupt, weitreichende Kompetenzen zu, die zugleich das Amt der Diplomaten gefährden. Seine Sichtweise fußt auf tiefgreifenden Veränderungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die sich auf die diplomatische Ebene auswirkten. Es handelte sich um eine Phase der Transformation, die nicht gleichbedeutend mit dem Niedergang oder gar der Auflösung von Diplomatie war: Das Verständnis von Diplomatie wurde vielmehr vorübergehend mehrdeutig9. Zum einen bestanden alte dynastische Strukturen fort und das Staatsoberhaupt übte einen entscheidenden außenpolitischen Einfluss aus. Zum anderen waren auf dem Wiener Kongress neue diplomatische Prinzipien festgelegt worden und innerhalb der Diplomatie waren Tendenzen der Professionalisierung erkennbar. Neben den schnelleren Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten entstanden in den deutschen Einzelstaaten Verfassungen und Parlamente und damit neue Formen der Öffentlichkeit. Diese Entwicklungen veränderten und beeinflussten nachhaltig die Arbeitsweise und den Alltag der Diplomaten.
Um genauer herauszuarbeiten, inwieweit Diplomaten unter Druck gerieten, weshalb sie aber gleichzeitig unverzichtbar waren, konzentriert sich die Untersuchung auf die deutschen Diplomaten, die zwischen 1815 und 1870 in Paris tätig waren. Der Blick auf einen Ort diplomatischen Handelns ermöglicht es, der Frage nachzugehen, was Diplomatie in diesem Zeitraum auszeichnete und wie sie funktionierte. Das Ziel ist, Diplomatie in ihren Eigenlogiken und ihrer spezifischen Ausbildung zu verstehen, um ihren Eigenwert herauszustellen.
1.1 Erkenntnisinteresse : Handlungsspielräume, Umgangsformen, Legitimitätsprobleme
Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Diplomaten als Akteure vor Ort, die der Legitimität bedürfen und sie zugleich stiften, eine besondere Bedeutung für die Gestaltung der internationalen Beziehungen haben. Die in dieser Aussage enthaltenen Aspekte – Diplomaten als Akteure, Diplomatie vor Ort und Legitimität als diplomatisches Problem – sind im Folgenden näher auszuführen.
Diplomaten sind Akteure mit eigenen Handlungsspielräumen. Diese akteurszentrierte Perspektive – wenngleich sie mit besonderen Herausforderungen einhergeht – ermöglicht es, deren Eigenwert herauszuarbeiten. Auf den ersten Blick besaßen Diplomaten kaum eigene Gestaltungsmöglichkeiten, da sie als Vertreter eines Souveräns dessen Weisungen zu befolgen hatten. Zudem wird bei Außenpolitik oft von »Frankreich« oder »Quai d’Orsay« als handelnden Einheiten gesprochen und auf diese Weise verdeckt, dass es Menschen sind, die handeln10. Abgesehen von den nicht zu negierenden Verallgemeinerungen besteht die Aufgabe hier darin, ein vertieftes Verständnis für die Handlungsweisen von Diplomaten zu gewinnen, ihre Spielräume aufzudecken sowie die sie leitenden Vorstellungen herauszuarbeiten. Zu zeigen ist vor allem, wie sie sich immer wieder neu konstituierten und den Gegebenheiten anpassten. Außerdem ist insbesondere für den gewählten Untersuchungszeitraum noch von umfangreichen Einflussmöglichkeiten der Diplomaten auszugehen, da dieser Abschnitt als typisches Zeitalter der Außenpolitik gilt, in dem Spezialisten weitgehend ungestört von äußeren Faktoren ihre Ziele verfolgen konnten: Dynastische Verbindungen verloren gegenüber der Frühen Neuzeit an Bedeutung, während Medien wie Presse und Telegrafie sie langsam erst gewannen11.
Der Blick auf Diplomaten als Akteure in Paris erlaubt eine Rekonstruktion ihres Handelns vor Ort. Die lokale Ebene ermöglicht, das individuelle Handeln von Diplomaten für den spezifischen Fall der französischen Hauptstadt zu erfassen und gleichzeitig aufzuzeigen, wie sich diplomatische Umgangsformen in Europa generell wandelten. Der Standort Paris dient zugleich als Mittelpunkt, um davon ausgehend Verflechtungen zu betrachten, etwa mit den Entsendern der Diplomaten12. Darüber hinaus erlaubt eine solche Perspektive, die Vorstellungs- und die Lebenswelt der Diplomaten miteinander zu verknüpfen. Ideen und Überzeugungen, die die Diplomaten mitbrachten oder entwickelten, sowie ihre Alltagspraxis und Lebenswelt sind in ihrer wechselvollen Beziehung herauszuarbeiten.
Schließlich verdient Legitimität als ein diplomatisches Problem besondere Aufmerksamkeit. »Legitimität« stellt ein Schlüsselkonzept dar, welches zunehmend Forschungsinteresse auf sich zieht. In der Geschichtswissenschaft gibt es beispielsweise neuere Arbeiten zum Verhältnis von Imperien und Legitimität sowie von Monarchie und Legitimität13. Aus politikwissenschaftlicher Sicht stellt Ian Clark Legitimität als Konzept für die internationalen Beziehungen heraus und betont, dass sich ihre Wirkung sehr komplex entfalte14. »Legitimität« bedeutet nach Peter Kielmanseggs Definition, die hier als Grundlage dienen soll, dass »soziale Geltung als rechtens« zu betrachten ist15. Er verweist darauf, dass Legitimität den Einzelnen mit einem anderen verbindet, indem sich beide gegenseitig wahrnehmen, deuten und im positiven Fall akzeptieren. Anders formuliert: Legitimität basiert auf Interaktionen16. Für den vorliegenden Fall bietet der Begriff »Legitimität« die Chance, den wie im Eingangszitat angezweifelten Nutzen von Diplomaten differenziert zu analysieren. Deshalb ist er hier als Schlüsselkonzept einzuführen, das zugleich eine analytische Kategorie und ein zeitgenössisches Prinzip darstellt. Diese Mehrdimensionalität kennzeichnet das Fallbeispiel der deutschen Diplomaten in Paris in besonderer Weise. Legitimität wird dazu wie folgt bezüglich Herrschaft, Anerkennung, den zeitgenössischen Gebrauch sowie Rechtfertigung aufgeschlüsselt.
Um Legitimität analytisch näher zu fassen, führt ein Weg über die Kategorie der Herrschaft und die Diplomaten als an ihr beteiligte und in sie eingebundene Akteure. Ansatzpunkt ist die enge Beziehung von Diplomaten zu ihren Entsendenden: Sie entsteht dadurch, dass Diplomaten einen Teil des »Herrschaftsapparates« darstellen und sich als »Herrschaftsträger« bezeichnen lassen, da sie zu den Personen und Funktionen gehören, die Herrschaft durchsetzen17. Ihr besonderes Bestreben liegt darin, Herrschaft nicht gegenüber Untertanen im Inland, sondern gegenüber anderen Staatsoberhäuptern im Ausland akzeptiert zu wissen. Deshalb ist ihre Entsendung gleichsam als ein Verfahren zu betrachten, das der Anerkennung dient, worauf wiederum Legitimität beruht18. Zugleich ist es wichtiger Bestandteil diplomatischer Tätigkeit und Daseinsberechtigung zu vermitteln und zu repräsentieren. Dies lässt sich mit der Beobachtung verknüpfen, dass Herrschaft in besonderem Maß auf Repräsentation angewiesen ist, da sie erst durch Vermittlung legitim wird19. Für die dargestellten Zusammenhänge ist es indes notwendig, das vorliegende Verständnis und Verhältnis von Herrschaft zu Legitimität zu präzisieren. Dazu ist Herrschaft weniger als zentraler Begriff einzubringen, sondern vielmehr in seinen Wechselwirkungen mit Legitimität offenzulegen. Für die Ausübung von Herrschaft ist es erforderlich, dass sie begründet und allgemein akzeptiert ist, das heißt, sie bedarf der Legitimität20. Sie ist nicht gegeben, sondern muss kontinuierlich erneuert werden: »Eine Herrschaftsordnung ist nicht legitim, sie wird es ständig«21. Die Annahme, dass Legitimität permanent neu erzeugt wird, bedeutet, sie relational aufzufassen, wie es die mikrogeschichtlich angelegte Methodik dieser Studie vorsieht. In der Konsequenz ist davon auszugehen, dass legitime Herrschaft durch die Interaktionen der Akteure, das heißt hier vor allem der Diplomaten, immer wieder hervorgebracht wird. Aus Sicht der Diplomaten besteht eine Aufgabe darin, eine Herrschaftsordnung und die mit ihr einhergehenden Legitimitätsideen im Ausland in ihren Handlungen zu reproduzieren. Für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ist dazu zusätzlich eine besondere Dynamik festzustellen: Die Legitimitätsgrundlagen für die Herrschaftsausübung veränderten sich entscheidend, indem die einst exklusiven Herrschaftsansprüche von Monarchen fortan mit neu entstehenden Formen von Staatlichkeit konkurrierten.
Eine besondere Rolle...