1Einleitung
1.1Variation und Wandel
Von Sprachen wird oft angenommen, dass Form und Bedeutung idealerweise in einem eindeutigen Verhältnis zueinanderstehen, d.h., für genau eine Form existiert genau eine Bedeutung. Besonders prägnant spiegelt sich diese Auffassung bei Bolinger (1977: X) wider: „[...] reaffirms the old principle that the natural condition of a language is to preserve one form for one meaning, and one meaning for one form“. Im Bereich individueller lexikalischer Einheiten wird dieses Prinzip immer wieder herangezogen, um das seltene Vorkommen lexikalischer Synonyme zu erklären. Gleichzeitig sind aber Fälle, in denen diese Zuordnung verletzt ist, keinesfalls eine Randerscheinung:
Synonymie und Homonymie verletzen die oben beschriebene eindeutige Zuordnung von Form und Bedeutung. Dabei gilt Synonymie als besonders problematisch, weil sie unökonomisch sei und das Sprechervermögen belaste. Daher wird davon ausgegangen, dass synonyme Ausdrücke entweder gar nicht bestehen (vgl. Haiman 1980; Croft 2003) oder historisch instabil sind:
Synonymie – oder allgemeiner gefasst: formale Variation – wird demnach abgebaut, d.h., die Eindeutigkeit zwischen Form und Bedeutung wird durch Sprachwandel wiederhergestellt (vgl. auch Anttila 1989: 107), indem Variation zugunsten einer einzigen Variante abgebaut oder durch Bedeutungs-/Funktionswandel in ihren Gebrauchsbedingungen ausdifferenziert wird. Dies gilt nicht nur für einzelne Lexeme, sondern lässt sich auch bei grammatischen Mustern beobachten, vgl. die Entwicklung der Pluralmarker im Englischen, wo das ursprüngliche Inventar auf eine Variante, nämlich das Morphem -s und seine Allomorphe, reduziert wurde (vgl. McMahon 1994: 71 f.). Variation zieht Wandel allerdings nicht automatisch nach sich: „Not all variability and heterogeneity in language structure involves change; but all change involves variability and heterogeneity“ (Weinreich/Labov/Herzog 1968: 188).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll in der vorliegenden Arbeit das Verhältnis von Variation und Wandel am Beispiel der Entwicklung der Adjektiv+Nomen-Verbindungen (im Folgenden A+N-Verbindungen) im Deutschen und Niederländischen diskutiert werden.1 Unter A+N-Verbindungen fasse ich komplexe Phrasen und Komposita wie DE saure Sahne, Schnellimbiss oder NL zure regen ‘saurer Regen’, sneltrein ‘Schnellzug’, die im mentalen Lexikon des Sprechers gespeichert sind und als konventionalisierte Bezeichnungen für außersprachliche Konzepte dienen. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit besteht in der zentralen Beobachtung, dass in beiden Sprachen – dem Deutschen und dem Niederländischen – sowohl Phrasen als auch Komposita zur Bildung solcher Einheiten verwendet werden können, ohne dass für einen Großteil der Fälle aufgrund sprachstruktureller oder außersprachlicher Faktoren vorhergesagt werden könnte, wann Sprecher die Bildung einer Phrase oder eines Kompositums präferieren, warum es also saure Sahne, aber nicht ?Sauersahne und gleichzeitig Sauerrahm, aber nicht ?saurer Rahm heißt. Variation liegt hier sowohl bei einzelnen lexikalischen Einheiten vor, die als Synonyme betrachtet werden können (DE grüner Tee vs. Grüntee), als auch auf der Ebene der allgemeinen Muster Komposition und Phrasenbildung.2 Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, ob diese auf funktionaler Äquivalenz gegründete Konkurrenz zwischen Komposition (Sauerrahm) und Phrasenbildung (saure Sahne) stabil ist oder im Laufe der Zeit durch Abbau einer Variante verschwindet (zugunsten von Bildungen wie Sauerrahm und Sauersahne oder zugunsten von Bildungen wie saurer Rahm, saure Sahne).
Mit dem Deutschen und dem Niederländischen stehen hier zwei Sprachen im Mittelpunkt, die eng miteinander verwandt sind, aber gerade im Bereich der A+N-Verbindungen auffallend voneinander abweichen. Ein Vergleich beider Sprachen erlaubt möglicherweise eine Aussage darüber, welche Faktoren Einfluss auf den Erhalt bzw. auf das Verschwinden von Variation haben, und wie sich dies sowohl einzelsprachlich als auch im Sprachvergleich gestaltet.
Im Folgenden stelle ich zunächst den Gegenstandsbereich dieser Arbeit und meine Fragestellung vor ( Kap. 1.2 bzw. 1.3), danach wird die Methodik der empirischen Untersuchung vorgestellt ( Kap. 1.4) und der Aufbau der Arbeit erläutert ( Kap. 1.5).
1.2Charakterisierung des Gegenstandsbereichs
Die Arbeit behandelt eine Teilmenge von A+N-Verbindungen, nämlich jene komplexen morphologischen und syntaktischen Verbindungen, die etablierte Lexikoneinheiten darstellen und als Gattungsnamen für außersprachliche Konzepte dienen. Sie werden in dieser Arbeit als Benennungen bezeichnet. Verbindungen mit rein beschreibendem Charakter wie großer Tisch und Kollokationen wie bittere Armut spielen ebenso wie Eigennamen keine Rolle, sondern werden lediglich zur Kontrastierung herangezogen (vgl. Kap. 2).
Im Deutschen und Niederländischen gibt es für die Bildung von A+N-Benennungseinheiten zwei strukturbildende Verfahren, die Komposition und die Phrasenbildung, vgl. die Beispiele in ( 1)–( 2):
| (1) | DE |
| a. | Sauerrahm – saure Gurke |
| b. | Großmarkt – freier Markt |
| (2) | NL |
| a. | zuurstof ‘Sauerstoff ’ – zure regen ‘saurer Regen’ |
| b. | geelkoper ‘Messing’ – rood koper ‘reines Kupfer’ |
Sowohl die A+N-Phrasenbildung als auch die A+N-Komposition sind Verfahren, mit denen in beiden Sprachen neue Benennungseinheiten gebildet werden können, d.h., sie sind funktional äquivalent. Gleichzeitig unterscheiden sich Phrasen und Komposita deutlich in Bezug auf ihre phonologischen und morphosyntaktischen Eigenschaften. Zum einen wird in Komposita das Adjektiv nicht flektiert, in Phrasen hingegen schon:
| (3) | a. | DE Sauer-Ø-rahm vs. saur-e Gurke |
| b. | NL zuur-Ø-stof vs. zur-e regen |
Zum anderen liegt die Hauptbetonung in Komposita auf dem Erstglied, d.h. auf dem Adjektiv, in Phrasen hingegen auf dem nominalen Zweitglied:
| (4) | a. | DE Sáuerrahm vs. saure Gúrke |
| b. | NL zúurstof vs. zure régen |
Im Gegensatz zu A+N-Phrasen unterliegen A+N-Komposita einer wichtigen formalen Bildungsrestriktion. In der Regel sind nur monomorphemische Adjektive als Erstglied zulässig:
| (5) | a. | DE Sauerrahm, Neubau, Gelbfieber |
| aber *Vormaligpräsident |
| b. | NL zuurstof, bittersinaasappel, geelkoper |
| aber *voormaligpresident |
Die Konkurrenz von A+N-Phrasen und A+N-Komposita bei der Bildung von Benennungseinheiten beschränkt sich also im Wesentlichen auf Verbindungen mit einem monomorphemischen Adjektiv als Modifikator. Und genau in diesem Bereich ist die Erklärung der Distribution beider Varianten problematisch, da sich kaum sprachstrukturelle (d.h. morphologische, phonologische, semantische Beschränkungen) oder außersprachliche Faktoren identifizieren lassen, die die Verteilung beider Verfahren erklären können. Im Sprachvergleich zeigen sich zudem abweichende Realisierungspräferenzen. Obwohl das Deutsche und das Niederländische weitgehend ähnliche Beschränkungen bei der A+N-Komposition aufweisen, zeigen Sprecher des Deutschen eine deutliche Präferenz für Komposita, während niederländische Muttersprachler sehr viel mehr Einheiten phrasal realisieren, vgl. die folgenden Beispiele (aus Hüning 2010):
| (6) | Dunkelkammer | – | donkere kamer |
| Festplatte | – | harde schijf |
| Fremdwort | – | vreemd woord |
| Vollmond | – | volle maan |
| Wildschwein | – | wild zwijn |
| Kleinhirn | – | kleine hersenen |
| Rotwein | – | rode wijn |
Die Präferenz der Komposition im Deutschen im Kontrast zum Niederländischen zeigt sich auch bei anderen Wortbildungsmustern, beispielsweise der N+N-Komposition, vgl. Tagesbetreuungsplatz – plaats in een dagverblijf, Lebenshaltungskosten – kosten van levensonderhoud (Hüning/Schlücker 2010).
Aus synchroner Sicht beschrieben und untersucht wurde die Divergenz bei den A+N-Verbindungen u.a. in van Haeringen (1956), De Caluwe (1990), Booij (2002a, 2010), Hüning (2004, 2010), Schlücker (2014). Aus historischer Sicht ist die Konkurrenz der A+N-Verbindungen im Deutschen und Niederländischen bisher jedoch noch kaum erforscht (vgl. hierzu einleitend Hüning 2010). Die vorliegende Arbeit möchte diese Forschungslücke schließen und die gegenwärtige Divergenz aus historischer Perspektive betrachten. Sie zeichnet die Entwicklung beider Benennungsverfahren seit dem 18. Jahrhundert im Rahmen von Fallstudien zu einzelnen Adjektiven und ihren Bildungspräferenzen nach. Gleichzeitig sollen auf Basis der empirischen Ergebnisse Faktoren diskutiert werden, die für die deutlich abweichenden Realisierungspräferenzen im Deutschen und Niederländischen relevant sein könnten.
1.3Fragestellung
Den theoretischen Rahmen dieser Arbeit bilden konstruktionsgrammatische Annahmen zum Aufbau des Sprachsystems (vgl. u.a. Langacker 1987, 1991; Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Goldberg 1995, 2006; Jackendoff 2002; Tomasello 2003; Croft/Cruse 2004; Booij 2010; detaillierte Überblicke bieten Fischer/Ste...