1Aufgehoben â Leben in der monastischen Gemeinschaft
Im 3. Jahrhundert begann an den sĂŒdöstlichen RĂ€ndern des römischen Reichs eine folgenreiche Entwicklung: Einzelne Christen lösten sich aus ihren Familien, verlieĂen ihre Wohnorte und zogen sich als Einsiedler in die WĂŒste zurĂŒck, um ihr Leben mit Askese und Kontemplation ganz dem Gottesdienst zu widmen. Diese spĂ€tantike eremitische Bewegung war die Keimzelle des christlichen Mönchtums.
Auch wenn sich einige der Eremiten Schweigen auferlegten, waren die meisten von ihnen höchst beredt. Mit der AutoritĂ€t, die ihnen ihr asketisches Leben eintrug und aufgrund derer sie den Ehrentitel âWĂŒstenvĂ€terâ trugen, prĂ€gten sie Sentenzen und Parabeln, die in ihrer Gesamtheit ein Panorama der eremitischen Bewegung und ein Regelwerk fĂŒr das asketische Leben darstellen. Zusammen mit den Biographien der WĂŒstenvĂ€ter wurden ihre AussprĂŒche in wachsenden Sammlungen schriftlich festgehalten. Das widersprach zwar dem eigentlich schrift- und bildungsfernen Lebensentwurf der Eremiten, ermöglichte aber die Verbreitung ihrer asketischen Ideale. Durch die schriftliche Weitergabe ihrer Biographien und Weisheiten wurden die Eremiten selbst zu Objekten der literarischen Gestaltung. Die Autoren der Einsiedlerviten, allen voran Athanasius von Alexandria und Hieronymus, entwarfen in ihren Texten schon zu deren Lebzeiten die WĂŒstenvĂ€ter als Figuren, die fĂŒr bestimmte Konzepte und Vorstellungen des eremitischen Lebens und der Askese standen. Seit ihren AnfĂ€ngen sind die WĂŒstenvĂ€ter damit auch ein literarisches PhĂ€nomen. Die so entstandene Literatur bildete in Europa einen konstitutiven Bestandteil der monastischen Kultur, in der sie aber nicht nur rezipiert, sondern auch immer wieder um- und neugeschrieben wurde. Auf diese Weise entstand ein disparates Konvolut von asketischen Texten, das in unterschiedlichen Zusammensetzungen kursierte und im lateinischen Bereich erst im 17. Jahrhundert von dem Jesuiten Heribert Rosweyde systematisch zusammengefasst wurde.1 In der lateinischen Welt wurden die dem Konvolut angehörigen Texte mit dem mittellateinischen Titel âVitaspatrumâ,2 âLeben der VĂ€terâ, bezeichnet.
Die Erinnerung an die UrsprĂŒnge der monastischen Kultur in der WĂŒste wurde zu einer Herausforderung, als ab dem 13. Jahrhundert die Anzahl der Klosterangehörigen wuchs, die kein Latein beherrschten und deshalb nicht mehr in der Lage waren, die âVitaspatrumâ zu verstehen. FĂŒr ein nicht lateinisch gebildetes Publikum entstand um 1280 das âVĂ€terbuchâ3 als erste Ăbersetzung der âVitaspatrumâ in die deutsche Sprache. Der Text konnte auch in der neuen Sprache seine wichtigen Funktionen erfĂŒllen: Er beleuchtete die UrsprĂŒnge des Mönchtums, er vermittelte dessen wichtigste Regeln und GrundsĂ€tze und er stellte vorbildliche Figuren vor Augen, an denen man sich orientieren konnte.
Auch wenn das âVĂ€terbuchâ im weitesten Sinne eine Ăbersetzung der âVitaspatrumâ ist, so sind doch tausend Jahre des ErzĂ€hlens und WiedererzĂ€hlens nicht spurlos an dem Stoff vorbeigegangen. Viten und Weisheiten der WĂŒstenvĂ€ter haben, wenn sie im âVĂ€terbuchâ in deutscher Sprache festgehalten werden, drei historische und kulturelle Schwellen ĂŒberwunden: ZunĂ€chst wurde die Kultur der hĂ€ufig illiteraten WĂŒsteneremiten von spĂ€tantiken Autoren in griechischer und koptischer Sprache literarisch gestaltet. Die Texte wurden dann aus dem Bereich des nordafrikanischen hellenistischen Christentums in den des europĂ€isch-lateinischen Christentums ĂŒberfĂŒhrt und dort in lateinischer Sprache weiter tradiert. SchlieĂlich hat man sie im 13. Jahrhundert erstmals aus dem Lateinischen in die Volkssprache ĂŒbertragen und damit fĂŒr nicht klerikal Gebildete zugĂ€nglich gemacht. So ist das âVĂ€terbuchâ des 13. Jahrhunderts Produkt eines umfassenden Transformationsprozesses: Der Text erinnert an die spĂ€tantike Eremitenkultur und schreibt sie fort, zugleich aber macht er sie sich zu eigen, variiert und rekonstruiert sie in einem gĂ€nzlich neuen Zusammenhang. Eine Analyse des âVĂ€terbuchsâ â mit Blick auf seine Vorlagen â verspricht daher vertiefte Einblicke in mehrere ZusammenhĂ€nge, nĂ€mlich in die literarische Tradition der WĂŒstenvĂ€tererzĂ€hlungen, ihre spezifische Ausformung in der Volkssprache und die Wandlungsprozesse, denen sie unterworfen war. Da dem âVĂ€terbuchâ seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts keine gröĂere Studie mehr gewidmet wurde, ist es an der Zeit, die wichtigsten Aspekte dieses Werkes im Licht der aktuellen Forschung neu zu beleuchten.
Das Leben in der monastischen Gemeinschaft prĂ€gte in der Vormoderne ein Aufgehobensein in doppelter Hinsicht: WĂ€hrend die meisten Lebensformen einen kontinuierlichen IdentitĂ€tsentwurf mit sich brachten, indem etwa die Standeszugehörigkeit ererbt wurde, verlangte das monastische Leben einen IdentitĂ€tswandel: Man wurde nicht als Einsiedler, Mönch oder Nonne geboren, sondern man trat in dieses Leben ein. Einerseits hob der Ăbertritt, zumindest formal, die vorherige IdentitĂ€t mit ihren Privilegien und EinschrĂ€nkungen auf. Andererseits war der neue Ordensangehörige aufgehoben in einer neuen Gemeinschaft mit seinen BrĂŒdern und Schwestern, mit Christus und den Heiligen. Damit war die Entscheidung zum monastischen RĂŒckzug keinesfalls nur eine Entscheidung gegen die Standes- oder Familiengemeinschaft. Die Asketinnen und Asketen verlieĂen ihre ursprĂŒnglichen ZusammenhĂ€nge und kamen in der WĂŒste oder im Kloster zu einer neuen Gemeinschaft zusammen, deren gemeinsames Ziel der Gottesdienst war. Entsprechend spielt die monastische Literatur alle möglichen VerhĂ€ltnisse von IdentitĂ€t, Askese und Gesellschaft durch. Die ExemplarizitĂ€t der Figuren, die in den Texten als Leitbilder vor Augen gestellt werden, drĂŒckt sich auch darin aus, dass sie als Heilige verehrt werden. Doch erscheinen sie nicht als einsame Glaubenshelden, sondern sie verstehen sich, wie die Klosterangehörigen, als Teil einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die groĂe Bedeutung der Gemeinschaft prĂ€gt auch die EntwĂŒrfe von Heiligkeit selbst. Bereits in der frĂŒhen âAugustinusregelâ bezeichnet communio nicht nur das Leben in einer sozialen und wirtschaftlichen Einheit, sondern die Gemeinschaft der Mönche setzt der Regel zufolge das Leben der urchristlichen Kirchengemeinde fort und ist Bedingung der GottesnĂ€he.4 Entsprechend erscheint auch die monastische Heiligkeit als Gemeinschaftsprodukt:5 Sie beruht auf dem Wirken des Einzelnen fĂŒr die Gemeinschaft und sie ist fĂŒr jeden durch die Teilhabe an der Gemeinschaft zugĂ€nglich. Obwohl die monastischen Heiligen sich in ihren Lebensberichten vielfach begegnen, voneinander lernen und fĂŒreinander einstehen, hat sich die jĂŒngere germanistische Legendenforschung vor allem auf den Heiligen als einzelne Figur konzentriert. Doch die Betonung der SingularitĂ€t des oder der Heiligen unterschlĂ€gt, dass auch die literarische Inszenierung heiliger Figuren, etwa im âVĂ€terbuchâ, deutlich von einem Gemeinschaftsgedanken geprĂ€gt ist. Entsprechend werden die folgenden Untersuchungen sich besonders auf das VerhĂ€ltnis von Heiligkeit und Gemeinschaft konzentrieren. Damit wird nicht nur ein abgeschlossener Bereich innerhalb der vormodernen Literatur beleuchtet, denn die asketische Literatur war im Mittelalter weitlĂ€ufig bekannt, wovon die umfangreiche Ăberlieferung zeugt. Es ist auĂerdem davon auszugehen, dass sie auch den Verfassern der weltlichen mittelhochdeutschen Literatur vertraut war, denn die literarische Tradition der âVitaspatrumâ hat auch in der höfischen Literatur Spuren hinterlassen.6 Sie werden zum Beispiel dort erkennbar, wo sich Entsagung und BewĂ€hrung verbinden, wo sich neue spiritualisierte Gemeinschaften gegenĂŒber weltlichen ZusammenhĂ€ngen konstituieren und wo Lehrer-SchĂŒler-VerhĂ€ltnisse von Bedeutung sind. Strukturanalogien zu den âVitaspatrumâ sind immer dort erkennbar, wo das Vitenschema prĂ€gend ist, wo Spruch und Exempel als literarische Formen auftauchen oder wo der Lehrdialog aufgegriffen wird. Betrachtet man diese PrĂ€missen nur mit Blick auf die sogenannte mittelhochdeutsche Klassik, lassen sich auf den ersten Blick sowohl bei Hartmann von Aue als auch bei Gottfried von StraĂburg und natĂŒrlich bei Wolfram von Eschenbach entsprechende Motiv- und Strukturparallelen feststellen.7 Es ist deshalb zu hoffen, dass die folgenden AusfĂŒhrungen auch ĂŒber ihren Gegenstand hinaus etwas zur Erforschung der deutschen Literatur des Mittelalters beitragen können.
Der Untersuchung des âVĂ€terbuchsâ gehen im Folgenden eine Reihe von VorĂŒberlegungen voran, die den Text kulturell, literarhistorisch und forschungsgeschichtlich einordnen. Dabei wird zunĂ€chst auf die Geschichte und die Prinzipien der christlichen WĂŒstenaskese eingegangen (Kap. 2). Danach werden die literarischen Strömungen dargestellt, die daraus entstanden und die sich zur europĂ€ischen Tradition der âVitaspatrumâ verdichteten. Auf diese Weise soll die Traditionslinie erkennbar werden, an deren vorlĂ€ufiger Spitze das âVĂ€terbuchâ als erste deutsche Ăbertragung der âVitaspatrumâ im spĂ€ten 13. Jahrhundert steht (Kap. 3). Der Text wird dabei als eine Form legendarischen ErzĂ€hlens betrachtet, wodurch sich auch Vergleichsmomente mit anderen religiösen Texten ergeben und Anschlussmöglichkeiten an die aktuelle altgermanistische Forschung gegeben sind. Um diese auszuloten, wird nicht nur auf den Stand der Forschung zum âVĂ€terbuchâ, sondern auch die Legendenforschung im Allgemeinen eingegangen (Kap. 4).
Der erste Teil der Textanalyse erschlieĂt programmatische Teile des âVĂ€terbuchsâ (Kap. 5). Er behandelt Pro- und Epilog sowie die heilsgeschichtliche Rahmung des Textes, zu der auch eine âSiebenschlĂ€ferlegendeâ und eine ErzĂ€hlung vom JĂŒngsten Gericht gehören. Die programmatischen Passagen stellen die den Text prĂ€genden Vorstellungen von Zeit und Geschichte dar und verdeutlichen, in welchem VerhĂ€ltnis das âVĂ€terbuchâ zu seinem Gegenstand, den WĂŒstenvĂ€tern, steht.
Die folgenden Kapitel entsprechen der Gliederung des âVĂ€terbuchsâ und untersuchen jeweils exemplarische Passagen. ZunĂ€chst wird die am Anfang des âVĂ€terbuchsâ stehende âAntoniusvitaâ behandelt (Kap. 6). An der Vita werden paradigmatische Prinzipien der Eremitenbewegung und ihrer literarischen Darstellung aufgezeigt. Zudem hat die âAntoniusvitaâ im âVĂ€terbuchâ den Charakter einer GrĂŒndungserzĂ€hlung, in der zentrale Aspekte der Einsiedelei (Desozialisierung, Askese, Versuchung, Gemeinschaft) diskutiert werden.
Das folgende Kapitel widmet sich dem zweiten Teil des âVĂ€terbuchsâ (Kap. 7). In diesem Teil steht die WĂŒste als Handlungsraum und zentrale Denkfigur im Fokus. Als Modus der Erfahrung und als strukturierendes Prinzip der Narration erscheint die Reise beziehungsweise die ReiseerzĂ€hlung. In der Textanalyse werden drei unterschiedliche Episoden in den Blick genommen. Es werden Fragen der Wissensvermittlung, des VerhĂ€ltnisses von innerer Haltung und Ă€uĂerer Lebensform, der Gemeinschaft und der Form und Funktion von ErzĂ€hlungen verhandelt.
Das anschlieĂende Kapitel nimmt die zahlreichen SprĂŒche im âVĂ€terbuchâ in den Blick (Kap. 8). Sie sind bislang am wenigsten untersucht worden. Ausgehend von Ăberlegungen zur literarischen Form des Spruchs werden die SprĂŒche und Mikronarrative so weit wie möglich systematisiert und gruppiert. Die Analyse richtet sich auf besonders markante Komplexe und EinzelsprĂŒche, die sowohl inhaltlich als auch formal auf ihre Funktion und Bedeutung fĂŒr den Gesamttext hin betrachtet werden. Dabei werden besonders die Regelhaftigkeit der SprĂŒche und ihre Rolle bei der Konstitution einer monastischen Lebensform in den Blick genommen.
Das letzte Analysekapitel behandelt die lĂ€ngeren Legenden im letzten Teil des âVĂ€terbuchsâ (Kap. 9). Die auf den ersten Blick heterogen erscheinenden Texte sind durch das Thema des IdentitĂ€tswechsels und den damit zusammenhĂ€ngenden Gemeinschaftsbezug miteinander verbunden. Sie alle befassen sich mit verschiedenen Konfigurationen des Zusammenlebens, wobei Familienbeziehungen eine besondere Rolle zukommt. Am Ende folgt ein kurzer, die Arbeit zusammenfassender und perspektivierender Abschnitt.