Wörterbuchkritik – Historische Wörterbücher des Deutschen
Peter O. Müller: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen, email:
[email protected] Abstract: Following an outline of the history of dictionary criticism in the German-speaking area, the review paradigm is presented in more detail for two dictionaries (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Neubearbeitung Deutsches Fremdwörterbuch) that have not yet been completed. Based on the evaluation of all reviews on both works, central aspects of dictionary criticism are focused, which can be generalized to a good extent, regardless of specific dictionary features. Overall, the review situation for German historical dictionaries is inadequate. A continuous review practice by the journals is only given in exceptional cases and only a relatively small pool of journals takes into account reviews of historical dictionaries. A systematic review activity cannot be recognized as a whole, and the review frequency decreases markedly as lexicographic processing time increases. For the future, this leads to the need to intensify dictionary criticism by taking into account all historical dictionaries, to increase the proportion of longer reviews by experts, and to document all the reviews on the dictionaries‘ project pages.
Keywords: Althochdeutsches Wörterbuch, Deutsches Fremdwörterbuch, Deutsches Rechtswörterbuch, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Goethe-Wörterbuch, Grimm’sches Wörterbuch, historical dictionary criticism, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Schweizerisches Idiotikon
Schlagwörter:Althochdeutsches Wörterbuch, Deutsches Fremdwörterbuch, Deutsches Rechtswörterbuch, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Goethe-Wörterbuch, Grimm’sches Wörterbuch, historische Wörterbuchkritik, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Schweizerisches Idiotikon
1Zur Geschichte der Wörterbuchkritik
Wörterbuchkritik hat innerhalb der Lexikographie des deutschsprachigen Raumes eine lange Tradition, die bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht. Am Anfang stehen dabei kritische Äußerungen in Wörterbuchvorworten über Vorgänger, die sich in der alphabetischen Lexikographie auf den berücksichtigten Wortschatz (in der Sachgruppenlexikographie auch auf die Sachgliederung) beziehen. So üben Petrus Cholinus und Johannes Frisius in ihrem Dictionarium Latinogermanicum (Zürich 1541) Kritik am Dictionarium Latinogermanicum von Petrus Dasypodius (Erstdruck: Straßburg 1535), das eine Reihe von unüblichen Lexemen (z.T. Lehnübersetzungen) wie werckig (operosus) oder außschreyung (exclamatio) enthalte, die aus gutem Latein schlechtes Deutsch machten (vgl. Müller 2001: 67 f.). Eine ähnliche Kritik an der Aufnahme von dictionibus inusitatis und der damit verbundenen Diskrepanz zwischen Sprachusus und lexikalischer Wortwelt (dazu Müller im Druck) findet sich noch Ende des 17. Jahrhunderts bei Matthias Kramer, der im Vorwort seines Das herrlich grosse Teutsch-Italiaenische Dictionarium (Nürnberg 1700/02) moniert, Kaspar Stieler habe in seinem Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz (Nürnberg 1691) auch solche Wörter mit einverleibet/ die sich zwar nach den Gesetzen der teutschen Derivir- und Componir-Kunst von einem Stamm-wort abstammen lassen/aber noch nie nirgend in gangbare Ubung kommen seynd (Hochnoethiger Vor-Bericht (e) 2). Neben diesem Aspekt wurde aber auch schon früh auf andere Schwächen von Wörterbüchern hingewiesen. So kritisiert Kramer an Georg Henischs Teütsche Sprach vnd Weißheit (Augsburg 1616) die mangelhafte Darstellung in Bezug auf Stammwörter und Wortbildungen sowie die Anordnung von Bedeutungen und stellt fest, der Autor habe die rechte Wissenschaft nicht gehabt/ alle teutsche abgeleitet- und gedoppelte unter ihre gewisse Stamm-woerter zu ordnen/ und die Deutungen und die Red-arten recht zu scheiden/ sondern alles zimlich untereinander wirfft (a.a.O., (f) 3r).
Die erste eingehende Wörterbuchkritik zu einem historischen Wörterbuch des Deutschen stammt von den Lexikographen Daniel Sanders und Christian Friedrich Ludwig Wurm und bezieht sich auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1DWB). Beide Lexikographen kritisieren 1852 unabhängig voneinander sowohl makro- als auch mikrostrukturelle Charakteristika (vgl. Kirkness/Kühn/Wiegand 1991: XIII–XVI). Dazu gehören die historisch ausgerichtete Orthographie sowie die Verwendung von Antiqua anstelle von Frakturschrift, die unzureichende Wortschatzaufnahme (Fremdwörter, Fach- und Wissenschaftssprache), die Berücksichtigung von Wortbildungen, die Anordnung des Wortschatzes, die etymologische Komponente, die lateinischen Bedeutungsäquivalente, die Belegnachweise, die grammatischen Angaben, die unübersichtliche Anordnung von Bedeutungen sowie Mängel der Bedeutungserklärungen. In seiner 1854 erschienenen Vorrede zum DWB verteidigt sich Jacob Grimm gegen diese Kritik, nennt die beiden Rezensenten aber nicht beim Namen, sondern stellt lediglich fest: Zwei spinnen sind auf die kräuter dieses wortgartens gekrochen und haben ihr gift ausgelassen. alle welt erwartet hier eine erklärung von mir, ihnen selbst würde ich nie die ehre anthun eine silbe auf die Rohheit ihrer anfeindung zu erwidern (1DWB 1: Sp. LXVIII). Rund hundert Jahre später erschien eine weitere berühmte Kritik von Walter Boehlich, der im Abschluss des Grimm’schen Wörterbuchs einen „Pyrrhussieg der Germanistik“ sah, da es „von der ersten bis zur letzten Lieferung national, bald schon nationalistisch“ sei (Boehlich 1961: 43 f.). Diese Einschätzung sowie Boehlichs Auffassung, das 1DWB sei „bis 1945 ein Wörterbuch des rechtsreaktionären Deutschland gewesen“ (Boehlich 1961: 51), wurde aber von sprachwissenschaftlicher Seite als unhaltbar zurückgewiesen (vgl. Kirkness/Kühn/Wiegand 1991: XXX). Solch ideologische Wörterbuchkritiken wie die von Boehlich sind heute nicht mehr präsent. Es dominiert eine sachliche und metalexikographisch orientierte Wörterbuchkritik.
2Wörterbuchkritik heute
Das Deutsche verfügt über ein breites Spektrum historischer Wörterbücher (Überblick bei Reichmann 2012). Zu den noch nicht abgeschlossenen Unternehmen, die Gegenstand aktueller Rezensionen sind, zählen so verschiedene Werke wie die Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs (2DWB) als sprachstufenübergreifendes Werk, das Althochdeutsche Wörterbuch (AWB), das Mittelhochdeutsche Wörterbuch (MWB) und das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB) als Sprachstadienwörterbücher, das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) als Fachwörterbuch, das Goethe-Wörterbuch (Goethe-Wb.) als Autorenwörterbuch, das Schweizerische Idiotikon (Schweiz. Id.) als Mundartwörterbuch, das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen (EWA) sowie die Neubearbeitung des Deutschen Fremdwörterbuchs (2DFWB).
Der Zugriff auf Rezensionen zu historischen Wörterbüchern des Deutschen kann vor allem auf zweierlei Weise erfolgen: 1. Über die Webseite von solchen Wörterbuch-unternehmen, auf denen (allerdings nicht immer mit dem Anspruch auf Vollständigkeit) Rezensionen angeführt sind. Dies gilt für 2DWB (dwb.bbaw.de/bibliographie), FWB (https://adw-goe.de/forschung/forschungsprojekte-akademienprogramm/fruehneuhochdeutsches-woerterbuch/veroeffentlichungen), Goethe-Wb. (www.adw.uni-heidelberg.de/goethe/gwb/biblio.html) und 2DFWB (www1.ids-mannheim.de/lexik/fremdwoerterbuch-neubearbeitung/literatur). In den anderen Fällen ermöglicht die Bibliographie von Wiegand (2006–2015) über die Wörterbuchtitel bzw. die Registereinträge „Anzeigen“, „Kurzrezensionen“, „Rezensionen“, „Rezensionsaufsätze“ bzw. „Sammelrezensionen“ einen Zugang.
Diese Termini (vgl. ferner Wiegand 1993: 2) eignen sich grundsätzlich auch für eine Klassifizierung der Rezensionen zu historischen Wörterbüchern, wobei die Abgrenzung allerdings nicht immer eindeutig ist. Anzeigen begegnen in erster Linie im Referatenorgan Germanistik. Ihr Umfang reicht von weniger als einer Seite bis zu gut einer Seite, womit sich Überschneidungen mit „Kurzrezensionen“ ergeben können, die in der Regel ein bis zwei Seiten umfassen. Als „Rezensionen“ werden dagegen mehrseitige Besprechungen eingestuft, deren Umfang zum Teil dem von Rezensionsaufsätzen gleichkommt oder sogar übertrifft. Das abgrenzende Kriterium ist, dass Rezensionen im Rezensionsteil von Zeitschriften stehen, Rezensionsaufsätze dagegen nicht; sie sind teils dem allgemeinen Aufsatzteil subsumiert, teils der Rubrik „Diskussionen“ zugeordnet. Rezensierenden Charakter haben darüber hinaus auch Beiträge, die nicht in Fachzeitschriften, sondern in Sammelbänden erscheinen und Wörterbücher unter bestimmten Aspekten bewerten. Dazu zählen etwa die Beiträge in Kirkness/Kühn/Wiegand (1991) zu 1DWB und 2DWB. Gleiches gilt für Monographien, wobei als Sonderfall die Rezensionsmonographie anzusehen ist, wie sie mit Sanders (1852) und Wurm (1852) zum 1DWB vorliegen. Neben Fachrezensionen, die in philologischen, aber z.B. auch in historischen oder theologischen Fachzeitschriften erscheinen, stehen die v.a. in Zeitungen oder Magazinen publizierten „journalistischen Rezensionen“ (Ripfel 1989: 25), die aber vergleichsweise selten und auf wenige Wörterbücher wie das DWB eingeschränkt sind.
Hinsichtlich der lexikographischen Aspekte unterscheiden sich die Rezensionen zu historischen Wörterbüchern grundsätzlich nicht von anderen Wörterbuchrezensionen. Die Bewertung betrifft: Qualität des Wörterbuchvorspanns (Hinweise zur Entstehung des Wörterbuchs, zur Konzeption, Intention sowie zum Adre...