1.1Zur Idee dieses Buchs
Den Ausgangspunkt bildete die Idee, sich Inschriften in ihrer Rolle als Monumente anzunehmen. Ihr spezifisches äußeres Erscheinungsbild, der räumliche Kontext und die Art und Weise ihrer Präsentation sollen verstärkt in den Blick und ebenso ernst genommen werden wie ihr textlicher Inhalt.1 Dass es sich bei Inschriften nicht nur um Texte, sondern um bewusst gestaltete und absichtsvoll präsentierte Artefakte aus einem bestimmten Material, von einer bestimmten Größe und Form und mit bestimmten visuellen und haptischen Eigenschaften handelt, mag als ein wohlfeiler, im besten Fall als ein überflüssiger Hinweis erscheinen, ist angesichts der gegenwärtigen Forschungslage zur antiken Inschriftenkultur aber durchaus nicht unberechtigt. Denn viel zu selten wurde bis zuletzt tatsächlich danach gefragt, inwiefern die Wahl dieses oder jenes Materials, dessen spezifische Formgebung, die graphische Ausgestaltung der Schrift, der Aufstellungskontext und nicht zuletzt die unmittelbare Interaktion mit einem Bild, Denkmal oder Bauwerk das Wesenhafte einer Inschrift prägten und mithin ihre Wahrnehmung durch den Betrachter bestimmten. Noch immer viel zu selten, möchte man sagen, denn wie bedeutungsvoll alle diese Aspekte für die Beurteilung einer Inschrift sind, hat Werner Eck schon vor 20 Jahren in seinem richtungsweisenden Aufsatz ‚Öffentlichkeit, Monument und Inschrift‘ deutlich gemacht.2 Am Beispiel römischer Ehrenmonumente stellte er klar, dass eine Inschrift im Allgemeinen nur existiere, „weil es das Monument gibt; das Monument ist das, was den größten, unmittelbar sichtbaren Einfluss ausübte.“ Und „auch der Ort, an dem das Ehrenmonument einschließlich der Inschrift präsentiert wird, ist bedeutsam“, so Eck, da er durch die ihm eigene Atmosphäre „einen zusätzlichen emotionalen Kontext“ der Wahrnehmung geschaffen habe.3 Seiner Forderung, „das epigraphische Monument als Ganzes zum Sprechen“ zu bringen, also seinen Kontext stärker in die Interpretation miteinzubeziehen, wurde allerdings eher zögerlich nachgekommen. Ein Blick auf die Standardeditionen und Corpora griechischer wie lateinischer Inschriften zeigt dies nur zu deutlich. Erst ist den letzten Jahren ist man hier verstärkt dazu übergangen, sich nicht nur auf die Wiedergabe des Inschriftentexts und der notwendigsten Angaben zum Schriftträger und seinem Fundort zu beschränken, sondern versucht nunmehr, auch das äußere Erscheinungsbild der Inschriften wiederzugeben. So werden neben detaillierteren Informationen über Größe, Beschaffenheit und Fundkontext auch exakte Umzeichnungen oder Fotographien bereitgestellt, um einen Eindruck vom ursprünglichen Aussehen der Inschriften zu vermitteln.4 Wie wertvoll das Wissen um die visuelle Wirkung von Inschriften sein kann, wurde aber nicht nur in der Editionspraxis, sondern auch in der Forschung lange Zeit unterschätzt. Selbst bei Epigraphikern wie Louis Robert, wohl einem der einflussreichsten Vertreter seines Fachs, ist – ganz Kind seiner Zeit – nur selten ein ernsthaftes Wort über den Aspekt der äußeren Gestaltung und Präsentation von Inschriften zu lesen. Wenn er, wie in seinem Büchlein zur Epigraphik der klassischen Welt, vom „Wesen des epigraphischen Dokuments“ spricht, dann doch meist im Sinne eines Texts mit konkretem Inhalt, den es für eine bestimmte Fragestellung fruchtbar zu machen gelte.5 Ohnehin sei dies die erste und vornehmste Aufgabe epigraphischer Zeugnisse: einen Beitrag zur Geschichte zu leisten. Für Robert bestand der größte Wert der Epigraphik darin, bestimmte politische, wirtschaftliche und religiöse, vor allem aber soziale Phänomene über einen längeren Zeitraum abbilden und untersuchen zu können. Denn wie keine andere Disziplin biete sie die Möglichkeit zur „mise en série“, gestatte es also, historische Quellen gleicher Art in großer Zahl auf eine bestimmte Fragestellung hin zu untersuchen, was denn auch eifrig – und mit unbestreitbarem Erfolg – getan wurde: Die Prosopographie wäre ohne die Auswertung epigraphischer Befunde im Sinne Roberts nicht denkbar, ebenso wenig wie viele Erkenntnisse über das politische Leben in den griechischen poleis und den römischen civitates – wissen wir von deren Institutionen, Verwaltungssystemen und Beamten doch in erster Linie aufgrund von Inschriftentexten. Gleiches gilt für das religiöse Leben. Auch hier sind Inschriften eine unerschöpfliche Quelle für die Frage, an welche Götter man glaubte und welche Feste man zu ihren Ehren feierte. Mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte ließe sich ohne epigraphische Studien etwa über Preis und Lohnentwicklungen allenfalls spekulieren, und auch was unsere Kenntnisse zur antiken Geographie angeht, sind wir auf die Auswertung von Inschriften angewiesen.
Diese Reihe ließe sich ohne Weiteres fortführen. Sie illustriert den kaum zu überschätzenden Beitrag, den die traditionelle epigraphische Forschung für die Altertumswissenschaften geleistet hat. Sie offenbart auf der anderen Seite aber auch, dass Inschriften vor allem in ihrer Eigenschaft als Texte herangezogen wurden, dass man sich ihrer also in erster Linie als ‚steinerne Archive‘ bediente, in denen Informationen in dauerhafter, gleichsam unvergänglicher Form gespeichert wurden. In letzter Konsequenz bedeutete dies: Auf die Texte der Inschriften und ihren Aussagewert für die eigene Fragestellung konzentriert, verlor man sie als Monumente mit einer spezifischen Gestalt, Präsenz und Wirkung allzu oft aus dem Blick und vergaß, dass man es eben nicht nur mit Schrift, sondern mit beschrifteten Artefakten zu tun hat, die ebenso bewusst wie willentlich von menschlicher Hand geschaffen worden waren.
Erst im Zuge einzelner Arbeiten, die sich stärker für die Bedeutung von Inschriften als Medien der öffentlichen Kommunikation und Instrumente der kollektiven Gedächtniskultur interessierten, wurden neue Perspektiven eröffnet und dem Einzelstück in seinem ihm eigenen ‚Dasein‘ wieder größere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei spielten auch Aspekte wie das verwendete Material, die Schriftgestaltung und die Art und Weise der Zurschaustellung vor einem Publikum eine wichtige Rolle. So erläuterte etwa Charles W. Hedrick in seiner Studie zum epigraphic habit Athens in klassischer Zeit den Zusammenhang zwischen der Präsentation gemeinschaftlich getroffener Volksbeschlüsse auf steinernen Stelen und der politisch-gesellschaftlichen Idee von Demokratie.6 Am Beispiel der karischen Stadt Aphrodisias ging Angelos Chaniotis der Frage nach, inwiefern die ostentative Existenz inschriftlicher Monumente die Gegenwart römischer Herrschaft evozierte und welche Rolle sie für das Selbstverständnis der Bürgerschaft zwischen tatsächlicher Freiheit und kaiserlicher Macht spielte.7 Mit einem von Géza Alföldy und Silvio Panciera 2001 herausgegebenen Sammelband wurden gleich mehrere Studien vorgelegt, die sich mit der Rolle von inschriftlichen Denkmälern ‚als Medien der Selbstdarstellung in der römischen Welt‘ beschäftigen, angefangen bei Ehrenmonumenten über Bautituli bis hin zu Grabinschriften.8 Eine ähnliche Perspektive nahm auch das 2006 an der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik in München abgehaltene Kolloquium ein, rückte aber gezielt römische Staatsurkunden in den Mittelpunkt des Interesses und widmete sich verstärkt dem Aspekt der materialen Umsetzung solcher Dokumente auf Stein und Bronze.9 Mit seinem Beitrag zu den verschiedenen Aufstellungsorten und -kontexten staatlicher Urkunden illustrierte hier Henner von Hesberg, wie fruchtbar der archäologische Blick auf epigraphische Befunde sein kann, denn „erst eine konsequente Abgleichung innerhalb der Disziplinen mit ihren unterschiedlichen Methoden könnte […] den Weg zu einer Perzeptionsgeschichte der Inschriften in ihrem jeweiligen antiken Umfeld eröffnen, aus der heraus sich die kommunikative Qualität der Inschriften erfassen ließe.“10 Getragen von dieser Idee ist in den vergangenen Jahren tatsächlich eine ganze Reihe von Aufsätzen erschienen, welche die disziplinäre Aufsplitterung in Archäologie, Epigraphik und Geschichtswissenschaft zu überwinden und den Blick für die untrennbare Einheit von Geschriebenem und Beschriftetem zu schärfen suchten.11 Die daraus erwachsenen Erkenntnisse sind ebenso interessant wie wertvoll und haben unser Bild der verschiedenen Inschriftenkulturen der antiken Welt in vielerlei Hinsicht ergänzt – allerdings um weitgehend punktuelle oder situative Einzelbeobachtungen mit Fokus auf gewisse Inschriftentypen, bestimmte Räume oder einzelne Objekte. Größer angelegte systematische Studien zur visuellen Erscheinung von Inschriften, zu konkreten und ideellen Bezügen innerhalb des sie umgebenden Raumgefüges und zu der daraus hervorgegangenen Wirkung auf den Betrachter, die einen weiteren geographischen und chronologischen Raum abdecken, wurden bisher allerdings nicht durchgeführt. In diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit vorstoßen und erproben, wie weit ein forschungsperspektivischer Ansatz tragen kann, der sich Inschriften zuerst und nachdrücklicher als bisher geschehen über ihre Eigenschaften als körperlich erfahrbare Monumente von bewusst kreierter Materialität und Präsenz nähert. Inwiefern, so die Frage, kann ein solcher Ansatz unser Verständnis des Sinns und der Bedeutung epigraphischer Praktiken in der Antike bereichern und uns die dahinter stehenden Akteure, ihre Beweggründe und Intentionen näherbringen?
Für eine Studie dieser Art ist die Epoche der Spätantike besonders gut geeignet, denn die Inschriftenkultur der ausgehenden Antike war im wahrsten Sinne des Worts ‚eigenartig‘ und unterschied sich in ihrer materiellen Ausprägung deutlich von allem bisher Bekannten. Dass sich dieses ‚Eigenartige‘ des spätantiken epigraphic habit besonders prägnant auf dem Feld der äußeren Erscheinungsbilder der Inschriften niederschlug, ist schon lange bekannt. Was diese neuen Ausdrucksformen zu bedeuten hatten, ist jedoch noch weitgehend ungeklärt.
Inschriften waren ein wesentliches Merkmal der römischen Kultur und Teil der Lebenswirklichkeit. Auf den Fora und Straßen der Städte errichtet, waren sie neben Graffiti zweifellos die Sorte von Texten, mit denen die Menschen der Antike am häufigsten in Berührung kamen und die im Alltag so präsent waren wie keine andere Form von Schrift. Als unverzichtbare Bestandteile öffentlicher Denkmäler waren sie wichtige Medien der gesellschaftlichen Interaktion und der kollektiven Erinnerung. Inschriftlichkeit war eine bedeutende Kulturtechnik, und jede Veränderung und Transformierung innerhalb dieses komplexen Systems war Ausdruck eines neuen Verständnisses gegenüber der Funktion monumentaler Schriftlichkeit und gegenüber dem Funktionieren öffentlicher Kommunikation.
In der Spätantike hat sich dieses Verständnis offenbar tiefgreifend gewandelt, weshalb sie als Epoche besonders zu einer zeitdiagnostischen Untersuchungen wie dieser reizt. Für die folgenden Ausführungen wurde die untere chronologische Grenze im mittleren 3. Jh. gezogen, als sich die materielle Kultur des Römischen Reichs deutlich zu verändern begann. Dies betraf nicht nur die Inschriften, sondern auch andere Denkmäler wie Ehrenbildnisse und Statuen, die nun von einem eigenen Stil geprägt waren und häufiger wiederverwendet als neu geschaffen wurden.12 Gleichzeitig brachte die Christianisierung des Römischen Reichs viele Veränderungen mit sich und zeitigte neue Lebensstile und Wertvorstellungen.13 Die obere Grenze der Untersuchung bildet das frühe 7. Jh., das einschneidende politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich brachte, und mit dem ein neues Zeitalter der germanischromanischen Kultur im Westen begann. Auch dieser strukturelle Umbruch schlug sich besonders deutlich innerhalb der materiellen Kultur sowie im Städtewesen nieder – beides Felder, die für die Frage nach dem Wesen der spätantiken Inschriftenkultur von großer Bedeutung sind.14
An dieser Stelle bietet es sich an, einige definitorische Erläuterungen zu zentralen Begriffen und Formulierungen anzuführen, die im weiteren Verlauf der Arbeit noch eine zentrale Rolle spielen werden. Zunächst zum zentralen Begriff der ‚Inschriftlichkeit‘, der die Idee und Bedeutung des Begriffs ‚Schriftlichkeit‘ aufgreift und auf das Medium der Inschrift überträgt.15 Gemeint ist der Gebrauch von Inschriften und die Kommunikation durch darin dauerhaft verdinglichte Sprache. Dabei birgt der Begriff zwei Dimensionen, zum einen die der Produktion und zum anderen die der Rezeption, welche in den dialogisch aufeinander bezogenen Praktiken des Schreibens und Lesens ihren Ausdruck finden. Wenn von einer ‚Inschrift‘ die Rede ist, dann nicht bzw. nicht nur mit dem Bild eines auf dauerhaftem Material ein- oder aufgeschriebenen Texts vor Augen, sondern dem eines beschrifteten Artefakts von konkreter körperlicher Gestalt, etwa einer Marmortafel, einer steinernen Statuenbasis oder eines Mosaiks. Denn was einen römischen titulus neben der Dauerhaftigkeit des verwendeten Materials charakterisiert, ist seine Monumentalität, eine erkennbar absichtsvolle Gestaltung und eine gewisse Form von urbaner Publizität, was bedeutet, dass er einem (mehr oder weniger) breiten städtischen Publikum präsentiert wird und in seiner Rolle als Denkmal gesellschaftliche Relevanz besitzt. In diesem Sinne wurden vor allem die civic inscriptions (Ehreninschriften, Bau- und Stiftungsinschriften) zum Zweck der Kommunikation, Repräsentation oder Kommemoration aufgestellt, und zwar an einem öffentlichen Ort, wo sie von vielen wahrgenommen und rezipiert werden konnten. Was man sich unter einem solchen ‚öffentlichen Ort‘ in der römischen Antike vorzustellen hat, ist allerdings weniger eindeutig definiert als man vermuten könnte, nicht zuletzt deshalb, weil sich unsere modernen Kategorien ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ nicht ohne Weiteres auf antike Verhältnisse übertragen lassen.16 Eine solch strikte Dichotomie hat es seinerzeit nämlich nicht gegeben. Die Grenzen zwischen den beiden Sphären publicus und privatus waren stattdessen fließend, fast offen, was sich besonders anschaulich am Beispiel römischer Wohnhäuser zeigt. Diese waren weit weniger ‚privat‘ als es die Bezeichnung domus privatae nahelegt, sondern in vielerlei Hinsicht von durchaus ‚öffentlichem‘ Charakter. Sie dienten nicht nur dem Wohnen, sondern waren auch Schauplätze extrovertierter Repräsentation und Orte für die Kontaktpflege zwischen dem Hausherrn und seinen Gästen und Klienten.17 Gleichwohl hat es in einer römischen Stadt aber durchaus Räume gegeben, die unserer modernen Vorstellung von ‚öffentlich‘ im engeren Sinne recht nahe kommen, und auf die das Hauptaugenmerk dieses Buchs gerichtet sein soll. Es waren dies Orte von allgemeiner Bekanntheit, welche für die Bürger wie für die Besucher einer ...